Foto, schwarz-weiß:

Rita sieht auf einer Aussichtsplattform durch ein Fernrohr, hinter ihr der Blick über Kairo, das sich bis an den Horizont erstreckt.

Bildunterschrift: Rendezvous auf dem Cairo Tower, September 1962

»Ich sehe das Dach vom Hilton.« Ihre Gedanken springen zurück zu dem Abend, an dem sie da oben getanzt haben. Ihre Gedanken springen überhaupt sehr viel an diesem Tag. Unstet und zittrig sind sie, wie das Bild vor ihrem Auge. Sie tritt zurück, um wieder Festigkeit zu erlangen, innere und äußere.

»Jetzt bist du dran.«

Rita nimmt Hani die Agfa aus der Hand und bedeutet ihm, sich ebenfalls näher an das Gitter zu stellen. Aber er bleibt mit dem Rücken zur Mauer stehen und sieht sie an.

»Was ist schon ein Bild? Eine Erinnerung an jemanden, der ich schon längst nicht mehr sein werde.«

Hani macht Platz für einen der Wächter in Uniform, der neugierig von Rita zu Hani schaut und lächelt. Ein schneller Wortwechsel auf Arabisch, das Lächeln wie weggewischt, der Mann verschwunden.

Wieder sieht er sie an. Sie fühlt sich schwindelig. Oder schwankt der ganze Turm?

Was macht er jetzt?

Hani singt.

»Mit meiner Stimme, oh Herr, erreiche ich mein Ziel und meine Wünsche«, übersetzt er für sie.

»Das war schön«, sagt Rita leise.

»Umm Kulthum.« Hani sieht sie an, bemerkt ihre Unsicherheit. »Du kennst Umm Kulthum nicht? Sie ist –«

Er sucht nach dem richtigen Wort. »Sie ist so etwas wie die Stimme Ägyptens. Des modernen Ägyptens.«

Müssen alle dauernd von Leuten sprechen, die sie nicht kennt? Rita kommt sich dumm und unwissend vor. Schon den ganzen Tag stolpert sie unwissend durch ein Kairo, das sie bisher überhaupt nicht wahrgenommen hat. Als wäre sie blind gewesen, zumindest auf einem Auge.

Es ist Freitag, die Fabrik hat zu, obwohl hinter den Türen der Professoren-Villa in Heliopolis ununterbrochen geredet wird.

Frankfurter Allgemeine. 20. September 1962. Seite 5.

Die Kairoer Zeitung »Al Achbar« machte am Mittwoch den israelischen Geheimdienst und die israelische Zeitung »Haboker« macht den ägyptischen Geheimdienst für das Verschwinden Krugs verantwortlich.

»Al Achbar« berichtet, der israelische Geheimdienst habe den Auftrag, alle an der ägyptischen Raketenproduktion sowie am Flugzeugbau beteiligten Wissenschaftler zu entführen.

In »Haboker« heißt es, ägyptische Agenten hätten Krug entführt, um in letzter Minute zu verhindern, dass Krug seine Münchner Firma an eine israelische Gesellschaft verkaufe.

»So ein Unsinn!«

Schon beim Frühstück in der Villa, die Max Fischer mit einem jungen Ehepaar teilt, der Mann ist ebenfalls Ingenieur im Werk, dreht sich alles um das Verschwinden des Chefs der INTRA. »Warum sollten sie denn hier ein Fahndungsfoto von ihm veröffentlichen, wenn er in Ägypten wäre?«

»Außerdem kommt er doch sowieso dauernd her, um mit dem Professor und Minister Mahmoud unsere Einkaufslisten durchzugehen.«

Max seufzt. »Und dann wird die Hälfte wieder gestrichen.«

»Der Krug«, flüstert die Ehefrau, Rita vergisst dauernd ihren Namen, als sie in der Küche aufräumen, »der hat hier gelebt wie ein König, bevor er nach München zurück ist. Mit eigener Villa, Privatflugzeug, Dienstboten. Die Kinder haben mit denen von Mahmoud gespielt.«

Der Minister mit den fünf Töchtern.

»Ich bin eigentlich verabredet«, druckst Rita, als Max sich fertig macht, um rüber zum Professor zu gehen. Außerplanmäßige Lagebesprechung.

Max grinst. »Hani?«

Sie nickt.

»Dem wird man dich wohl kaum mitten in Kairo unter der Nase weg entführen.« Max zwinkert ihr zu. »Ich glaube nicht, dass du heute gebraucht wirst. Viel Spaß!«

Es läuft alles anders als gedacht.

Hani hat ein Auto, denkt Rita. Oder wir nehmen ein Taxi.

Stattdessen kommt er mit einem Motorroller. Rita holt sich schnell noch ein Tuch aus der Villa, bindet es sich um den Kopf und steigt hinten auf.

»Wo fahren wir hin?«

»Abwarten.« Der Fahrtwind macht es schwer, sich zu unterhalten.

In den Club vielleicht. Zu Groppi. Oder ins Hilton.

Zu Ritas Überraschung fahren sie zwar in die Innenstadt, kurven einmal um den Tahrir-Platz, aber dann weiter am Nil entlang. Hani biegt nach rechts auf die Brücke mit den steinernen Löwen ab, die über den Fluss führt. Auf der Nilinsel ein weiterer Kreisel, in der Mitte eine Statue, dann parkt er den Roller vor einem umzäunten Gelände mit einem imposanten Eingangstor, alles weiße Säulen und Bögen.

»Ist das der berühmte Gezirah Club?«, fragt Rita, die in Maadi schon viel über die legendären Sportwettkämpfe zwischen den Clubs gehört hat.

»Nein«, lächelt Hani. »Clubs siehst du genug. Ich will dir etwas anderes zeigen.«

Sie gehen einen langen, überdachten Gang zwischen Pavillons, Freiflächen und Wasserspielen entlang. Es ist nicht viel los am Freitagmorgen. »Wenn die Moscheen schließen«, erklärt Hani, »dann wird es hier richtig voll.«

Sie betreten den ersten großen Pavillon.

Gleich vorne dreht sich auf einem Podest, mit Seilen abgesperrt, ein Kleinwagen. Darin sitzen Puppen, ein Mann, eine Frau, beide schwarzhaarig. Das Auto ist rot, klein und eckig. Sehr eckig.

Hani sieht Rita erwartungsvoll an.

Rita hat das Gefühl, sie müsse sich beeindruckt zeigen.

»Ramses«, erklärt Hani stolz, »das erste ägyptische Auto.«

Rita nickt. Das Auto kommt ihr bekannt vor, aber sie interessiert sich nicht besonders für Autos.

»Nur der Motor kommt von euch«, fährt Hani fort. »Alles andere wird hier produziert. Von Hand. Deswegen können wir nur fünf Autos am Tag bauen. Die Warteliste ist lang, und ich bin drauf.«

»Kannst du dir das leisten?«, fragt Rita.

»Mein Vater würde mir einen importierten Wagen kaufen. Aber ich will lieber den hier. Sie bieten Ratenzahlung an.«

Wer hätte gedacht, dass der stille Hani andere Anschauungen hat als seine Eltern? Sie gehen weiter. Hinter dem Auto steht eine Reihe Laster, Busse und Transporter.

Autoreifen. Ein Fahrrad. Radios. Fernseher.

Alles made in Egypt.

Sie schlendern von Halle zu Halle. Ritas Staunen wird von Halle zu Halle echter. Möbel, Kühlschränke, Boiler, Küchenherde.

Eine entzückende Nähmaschine in Hellgrün. »Heißt sie wirklich Nofretete?«, fragt Rita, die langsam lernt, Arabisch zu lesen.

Hani nickt.

»So eine möchte ich haben. Als Andenken.«

Hani sagt nichts, geht aber mit schnellen Schritten weiter. Sie könnte sich auf die Zunge beißen. Sicher spart eine ägyptische Hausfrau Jahre, um sich so eine Nähmaschine zu kaufen.

Sie setzen sich draußen auf eine Bank und essen Ful, das ägyptische Bohnenmus, mit Brot. »Guck mal«, sagt Rita, »da steht ja eine unserer Raketen.«

»Das sind die Nachbauten für die Parade«, sagt Hani und reißt sich ein Stück Brot ab. »Die sind überall in der Stadt verteilt. Die Leute sind so stolz darauf. Wir produzieren heute alles selbst, hat der Präsident in seiner Rede zum Jahrestag der Revolution gesagt. Erinnerst du dich?«

Rita erinnert sich. Sie und Max haben sich verdrückt, weil sie den endlosen Reden nicht länger zuhören wollten.

»Von der Nähnadel bis zur Rakete«, fährt Hani mit vollem Mund fort. »Dieser Spruch hat Nasser endgültig unsterblich gemacht.« Er steht auf.

»From the needle to the rocket!«, ruft er und hebt die Hände, als spräche er zu einer unsichtbaren Menge. »This generation has the right to look forward to the responsibilities awaiting them.«

»Bravo.« Rita applaudiert.

»Bist du satt geworden?« Hani nimmt ihr den Teller ab.

Er ist so aufmerksam. Und so schön. Rita möchte ihn stundenlang ansehen.

»Komm«, sagt er. »Wir gehen wieder rein. Es gibt sogar einen Film über unsere Raketen. Und ein Lied.«

Sie sitzen in einem Kino, in dem zu jeder vollen Stunde eine Extraausgabe der ägyptischen Wochenschau für die Industrieausstellung läuft. Weiter hinten sitzt noch ein junges Paar. Vielleicht kommen sie hierher, um mal für sich zu sein.

Trompeten erklingen, dann setzt ein treibender Rhythmus ein. Männerstimmen formen einen Chor. Das Lied geht sofort ins Ohr. Rita kommt es vor, als sähe sie zum ersten Mal eine schwarz-weiße Rakete, die über der Wüste auf einer perfekten Bahn in den Himmel steigt. Dann die Parade. Sie kneift die Augen zusammen. Ist das sie selbst, ganz klein, da unter der Tribüne? Hani übersetzt ihr den Liedtext flüsternd ins Ohr.

Unsere Revolution zeigt Mut.

Beeil dich und hol uns ein, Historie.

Wir haben Atome und Energie, wir sind ins Zeitalter der Raketen eingetreten.

Sie spürt die Berührung seiner Lippen. Es kitzelt ein bisschen.

Wir haben den Sozialismus aufgebaut, um Gerechtigkeit in unserem Land zu schaffen.

Wir haben Raketenbasen gebaut, um die Freiheit zu festigen.

Um unsere Souveränität zu sichern.

Um unseren Willen zu beweisen.

Historie. Historie.

Wie eine Beschwörungsformel klingt es in Ritas Ohren fort.

»Aber was ist mit Israel?«, fragt Rita. »Werden die Raketen gebaut, um Krieg gegen Israel zu führen?«

Sie schlendern am Nil entlang, es ist schön, von der Insel aus auf die Stadt am anderen Ufer zu schauen.

»Israel!«, ruft Hani und schaut sich schnell um, ob niemand in der Nähe ist. »Israel ist ein Produkt des Imperialismus. Israel ist ein Aggressor, gegen das palästinensische Volk wie gegen alle arabischen Völker. Israel spart nicht, um sich mit den modernsten Waffen einzudecken. Israel baut einen Atomreaktor, und das sicher nicht mit friedlicher Absicht. Wir müssen uns verteidigen.«

Rita erschrickt über die Heftigkeit seiner Antwort. Hanis Augen glühen. Sie möchte den höflichen jungen Ingenieur zurückhaben. Doch er ist noch nicht fertig.

»Eines musst du verstehen, Rita. Wir stehen euch nicht mehr allein gegenüber. Wir, ich meine Ägypten, wir haben mit den anderen afrikanischen Staaten die Charta von Casablanca verabschiedet. Wir sind führendes Mitglied der Allianz der Blockfreien. Unsere Forderungen sind das Ende des Kolonialismus, Selbstbestimmung und Unabhängigkeit sowie ein respektvolles Miteinander aller Länder, nicht nur der führenden Industriestaaten.«

Rita lächelt.

»Du lachst?« Er bleibt stehen und funkelt sie an. »Findest du diese Forderungen etwa lächerlich?«

»Nein.« Rita will ihn beruhigen, berührt ihn ganz sacht an der Hand. Er greift zu und hält sie fest. Sie schluckt und spricht schnell weiter. »Ich weiß nicht genau, wovon du redest, Hani. Aber ich möchte es gern verstehen.«

Er dreht sich um und geht weiter. Aber er lässt sie nicht los. Nicht bevor sie sich vom Ufer abwenden und eine belebtere Gegend erreichen.

»Warst du schon mal auf dem Cairo Tower?«

Rita schüttelt den Kopf. Das Gittermuster des schlanken Turms ist sogar von Maadi aus zu sehen, doch der Familienausflug bleibt unter den Top Ten auf Pünktchens Wunschliste. Höhenangst, Platzangst, die Angst vor dem Essen, gezwungen zu sein, sich unter die Einheimischen zu mischen, es gibt genug Gründe für Ingrids striktes Nein.

Jetzt läuft sie mit Hani über den gefliesten Vorplatz auf das schlanke Bauwerk zu und hat ein schlechtes Gewissen.

Pünktchen kommt zum Glück erst morgen an.

Nachdem Rita und Hani eine Runde auf der Aussichtsplattform gedreht haben, sitzen sie eine Etage tiefer im Restaurant, das sich von selbst dreht, während die Besucher in Ruhe Stella Bier trinken und Zigaretten rauchen können. Die Rotation läuft allerdings nicht gleichmäßig, sondern mit einer Art mechanischem Schluckauf, was die Biergläser zum Überschwappen und Rita zum Kichern bringt. Hani tut so, als bemerke er das Geruckel überhaupt nicht.

»Wir nennen den Turm auch al wa’ef rusfel, die Roosevelt-Stiftung.« Jetzt kichert Hani. »Man kann es auch mit Roosevelts Erektion übersetzen«, flüstert er Rita hinter vorgehaltener Hand zu.

»Der amerikanische Präsident?«

»Sein Sohn«, flüstert Hani. »Der ist bei der CIA

»Und was hat die CIA damit zu tun?« Die Mechanik ruckelt, und Ritas Bier schwappt.

»Die CIA hat, so sagt man, sicherstellen wollen, dass Ägypten dem Westen gegenüber loyal bleibt. Und wie haben sie das wohl gemacht?«

Rita zuckt die Schultern.

»Mit Geld. Für die Amerikaner ist das alles ein Spiel um Geld. Sie haben Präsident Nasser eine Menge Entwicklungshilfe spendiert und dazu noch drei Millionen zu seiner eigenen Verfügung.«

»Dollar?«

»Dollar. Einfach so, in zwei Koffern voller Bargeld, überbracht durch einen Mitarbeiter der CIA. Nasser war so wütend, dass er mit dem Geld diesen Turm gebaut hat. Höher als die Pyramiden. In der Form einer Lotusblüte. Damit die Amerikaner niemals«, Hani haut auf den Tisch, »niemals vergessen, dass man uns nicht kaufen kann!«

»Hey, nicht so laut.« Rita findet, dass der Kellner schon sehr lange zu ihnen hinstarrt.

Hani lehnt sich zurück und holt eine Schachtel Cleopatra aus seiner Hemdtasche. Er winkt dem Kellner und bietet ihm eine an. Der greift erfreut zu, zieht eine Schachtel Streichhölzer hervor und gibt sich und Hani Feuer.

»Die Leute, die hier arbeiten, sind alle vom Mukhabarat.«

»Was ist das?« Rita greift nach der Zigarettenschachtel.

»Der ägyptische Geheimdienst.«

Hani sieht ihr zu, wie sie die Schachtel von allen Seiten betrachtet. »Und? Wie findest du die?«

»Schön!« Rita nimmt eine Zigarette aus der goldenen Packung. Hani greift danach, aber Rita hält sie so, dass er nicht drankommt. »Gib mir Feuer, bitte.«

»Du rauchst?«

Die Art, wie er es sagt, lässt sie aufhorchen.

»Was dagegen?« Es kommt patziger heraus, als sie es beabsichtigt hat.

Hani sagt nichts. Er gibt ihr seine Zigarette, damit sie ihre damit anstecken kann.

Er sieht sie an.

Sie sieht ihn an.

Sie rauchen Cleopatra.

Unter den Augen des ägyptischen Geheimdienstes.

Im Cairo Tower.

Bezahlt vom amerikanischen Geheimdienst.

Rita Hellberg schaut von oben auf eine neue Welt.

Und diese Welt hat Schluckauf.

Frankfurter Allgemeine. 22. September 1962. Seite 17.

Ein amtlicher Sprecher der Kairoer Regierung hat am Freitag versichert, der deutsche Raketen-Kaufmann Heinz Krug befinde sich nicht in Ägypten. Krug, der bei der Beschaffung von Material für die Entwicklung ägyptischer Raketen beteiligt gewesen sein soll, ist spurlos aus München verschwunden.