Abzug vom Dia, Farbe:

Friedrich und Ingrid sitzen mit ihren drei Kindern Kai, Rita und Pünktchen sowie Friedrichs Mutter Käthe auf der Terrasse eines Restaurants mit Blick über die Elbe.

Bildunterschrift: Oma Hamburgs Geburtstag im Louis Jacob, August 1962

»Dat ick dat noch erleven darv!«, seufzt Oma Hamburg.

Friedrich drückt kurz die abgearbeitete Hand mit dem Ehering, der nicht mehr abgeht. Auch wenn er das nicht laut sagen würde, wirkt seine Mutter fehl am Platze unter all den feinen Leuten von der Elbchaussee, die hier Sonntag für Sonntag tafeln. Er hat es sich ja selbst nicht träumen lassen, dass er seine Familie eines Tages hierher ausführen würde. Wo schon Hans Albers und Zarah Leander unter blühenden Linden gesessen haben, vielleicht genau an diesem Tisch.

Und wie zum Beweis dafür, dass sein Lebensweg endlich wieder in die richtige Richtung läuft, liegt direkt gegenüber der Werksflugplatz der Hamburger Flugzeugbau in Finkenwerder. Drei kleine Reisejets stehen da verloren in der Gegend herum. Friedrich ahnt nicht, dass in den Hallen auf der anderen Elbseite längst an der Nullserie der Transall gearbeitet wird, einer militärischen Transportmaschine. Ihm wurde gerade, wie allen in Ägypten tätigen Experten, von offizieller Seite die Freigabe für Geheiminformationen im deutschen Flugzeugbau stillschweigend entzogen.

Kai hat sich zur Feier des Tages in seinen Abituranzug geschmissen. Aber die Haare sind nicht geschnitten. Rita lächelt ihm zu, während Friedrich dem Kellner die Kamera wieder abnimmt. Der verbeugt sich steif.

»Möchten die Herrschaften jetzt bestellen?«

Oma will falschen Hasen essen, die Männer schließen sich an. Ingrid möchte lieber Matjes nach Hausfrauenart, Rita bestellt Toast Hawaii. Pünktchen wird gar nicht gefragt.

Einen Kinderteller, bitte.

Friedrich ordert eine Flasche Müller-Thurgau, halbtrocken. »Heute lassen wir es uns richtig gut gehen.«

Eine knappe Woche hat es Rita in Stade ausgehalten. Das Haus erscheint ihr kleiner als vor ihrer Abreise nach Kairo. Dauernd kommt sie ihrer Mutter in die Quere, die die Hände nicht von Lappen, Schrubber und Feudel lassen kann. Noch ungeöffnete Putzmittel stapeln sich in der Waschküche. Selbst die Fugen im Badezimmer werden mit der Zahnbürste gereinigt. Nur das Arbeitszimmer ihres Vaters ist vor dieser Heimsuchung sicher. Dort sitzt er über seinen Berechnungen, wenn es ihn nicht hinaus zum Segelflugplatz zieht.

Auch Pünktchen verbringt die meiste Zeit in ihrem Zimmer und verschlingt ein Nesthäkchen-Buch nach dem anderen.

Eskapismus für weibliche Teenager.

Überarbeitete Neuauflage auf Grund kriegsverherrlichender Inhalte. Die Autorin hieß Else Ury.

Ab 1941: Else Sara Ury.

Ermordet in Auschwitz.

Pünktchens beste Freundin Nele ist mit den Eltern im Urlaub, der Reiterhof voll belegt mit Sommergästen.

»Warum fährst du nicht trotzdem hin?«, fragt Rita. »Soll ich mitkommen?«

»Keine Lust.« Pünktchen versteckt sich hinter ihren Büchern vor dem herrlichen Sommerwetter, vor den Eltern, sogar vor Rita. Die ahnt, dass Pünktchens kindliche Freude am Reiten für immer verloren ist. Sie traut es sich nicht mehr zu, auf dem Rücken von Eisblume glücklich zu sein.

Rita flüchtet auf einen Liegestuhl im Garten. Doch der winzige Garten in Stade ist nicht der Club. Kein Pool. Keine Limonade, keine eisgekühlte Melone. Die Nachbarn haben sich einen elektrischen Rasenmäher gekauft.

Rita flüchtet nach Hamburg.

Sie schläft auf der Klappcouch bei Oma und Kai in Ottensen, Bezug aus giftgrünem Frotteestoff, durchbrochene Muster im Korbgeflecht der Armlehnen.

Rita und Kai gehen in den Star Club. Kai hat sich verändert, nicht auf den ersten Blick, aber auf den zweiten. Ist weiter weg von Rita, von ihrem gemeinsamen Leben, als vor einem halben Jahr. Grüßt Leute auf dem Kiez, kennt die Türsteher, die Frau hinter der Bar.

Rita tanzt Twist. Es spielen King Size Taylor and the Dominoes.

»Wusstest du, dass Twist zu tanzen in Ägypten polizeilich verboten ist?«

Wusste er nicht.

Kai steht an der Bar, trinkt Bier und redet über Musiker, die sie nicht kennt.

Den einzigen, echten, wahren Jazz.

Um zehn Uhr muss sie den Club verlassen, weil sie noch nicht achtzehn ist. Die Ausweise, bitte.

In Kairo fragt niemand nach dem Ausweis.

»Wir gehen noch woanders hin«, sagt Kai.

Eine Kneipe in Hafennähe. Düster. Eng.

Vier schwarze Musiker spielen Jazz. Kai nennt die ältere Frau hinter der Theke Mutti. Er gibt Rita ein Bier. Sie trinken aus der Flasche. Ein Mann, dem ein paar Zähne fehlen, brüllt ihr ins Ohr, dass er ein Seemann sei.

Ob sie tanzen will.

Sie will nicht.

Es stinkt nach Schweiß und Bier und Zigaretten.

Kais Augen leuchten.

Im hellen Mittagslicht auf der Terrasse des feinen Restaurants wirkt er trotz des Anzugs wie ein bleiches Nachtschattengewächs.

Der Kellner kommt und fragt, ob es geschmeckt hat.

»Der falsche Hase ist richtig«, sagt Oma Hamburg und kichert. Sie ist ein bisschen duhn, der Müller-Thurgau am Mittag zeigt Wirkung. »So was Feines hatten wir nicht im Krieg.«

Im Krieg ist das Stichwort.

Im ersten Krieg die Kinder gekriegt.

Im zweiten Krieg den Mann verloren.

Das muss man sich mal vorstellen.

»Ich weiß gar nicht, warum die Frauen von heute sich immer so haben. Das ist doch bloß Anstellerei.«

Rita beobachtet, wie ihre Mutter sich unmerklich duckt, als habe sie einen Schlag eingesteckt.

»Nesthäkchen hat auch –«, setzt Pünktchen leise an, aber keiner hört zu.

Die Oma redet weiter.

Friedrich wirft Ingrid einen Blick von der Seite zu. Hat er es auch bemerkt?

Kai raucht und starrt auf seinen fast leeren Teller.

»Darf es noch Kaffee sein?« Der Kellner ist wieder da.

Rita sieht sich um. Die Luft ist erfüllt von sommerlicher Wärme. Der Ausblick auf die Elbe, wo gerade ein Frachter einfährt, überwältigend. Andere Familien, das Klappern von Geschirr, gedämpfte Stimmen.

Menschen, denen es gut geht.

Über ihrem Tisch allein hängt eine drückende Schwere. Als würde gleich ein Gewitter niedergehen.

Rita sieht vom einen zum anderen.

Ihr Vater hat die Stirn gerunzelt. »Eine Kur?«

Ingrid nickt. »Eine moderne Klinik im Allgäu. Doktor Eisele hat sie empfohlen.«

»Du hast mit Doktor Eisele darüber gesprochen, bevor du mir davon erzählst?«

Sie weicht seinem Blick aus. »Damit es wirkt, muss ich mindestens sechs Wochen dortbleiben.«

»Aber der Urlaub auf Sylt ist doch längst gebucht!«, entgegnet er aufgebracht.

»Danach, Friedrich. Ich komme nicht mit zurück nach Kairo.«

Stille. Lang genug, um ein Schiffshorn zu hören, das von der Elbe heraufschallt.

»Wir reden später darüber, Ingrid.« Seine Stimme ist leise, voll unterdrückter Wut. Er winkt dem Kellner.

»Wir haben die Trümmer mit den bloßen Händen weggeräumt.« Das ist wieder die Oma. Pünktchen nickt betreten. Sie ist das perfekte Opfer für Omas weinhaltige Monologe.

Rita stößt Kai unter dem Tisch an.

»Hey, großer Bruder.«

Aber Kai stiert mit düsterem Blick auf die Geldscheine, viele sind es, die aus Friedrichs Brieftasche auf den kleinen Teller mit der Rechnung wandern. Plötzlich springt er auf, mit so einem Ruck, dass sein Stuhl umfällt. Er tritt drei Schritte zurück, schafft Distanz zwischen sich und seinen Vater, der neben ihm gesessen hat.

»Schämst du dich nicht, mit deinem schmutzigen Geld hier herumzuprotzen? Das ist doch einfach widerlich.«

Da ist es. Das Gewitter.

Kai steckt sich eine neue Zigarette an. Hektisch fummelt er mit dem Feuerzeug herum.

»Was fällt dir ein?« Friedrich wird auch laut, ungeachtet der anderen Gäste. Einige drehen sich schon um.

»Was mir einfällt? Du baust wieder Jagdflugzeuge, als sei nichts gewesen. Haben deine Flugzeuge nicht genug Schaden angerichtet? Sollen sie wieder Bomben abwerfen? Atombomben diesmal? Über Israel?«

Die Oma ist verstummt. Vorwurfsvoll sieht sie Kai an. »Min Jung, wie kannst du so mit deinem Vater reden!«

»Lass ihn nur sagen, was er zu sagen hat.« Friedrich ist ebenfalls aufgestanden und mustert seinen Sohn, der ihm über den Kopf gewachsen ist.

Ingrid sieht hinunter zur Elbe.

Pünktchen greift unter dem Tisch nach Ritas Hand.

»Und jetzt ziehst du auch noch Rita da mit rein. Verkaufst deine eigene Tochter an ein paar Nazis aus Peenemünde!«

»Spinnst du?« Rita hört ihre eigene Stimme wie aus einem Lautsprecher.

»Nein, Rita.« Kai sieht zu ihr herüber, eher traurig als voller Zorn. »Ich höre BFBS, schon vergessen? Alle großen englischen Zeitungen haben darüber berichtet. Von wegen Mondraketen.«

Bevor sie etwas entgegnen kann, ist ihr Vater schon an Kai herangetreten. Ganz nah. Zu nah.

»Im Gegensatz zu dir trägt deine Schwester etwas bei.« Kurz denkt Rita, er werde Kai eine Ohrfeige verpassen. Doch er packt ihn nur am Kragen seines Jacketts. »Und jetzt raus hier, Junge. Verschwinde.«

Er lässt so plötzlich los, dass Kai nach hinten stolpert. Ohne ein weiteres Wort dreht er sich um und verlässt das Lokal.

Friedrich geht zur Garderobe und holt den Sommermantel seiner Mutter. »Ich muss mich für Kai entschuldigen«, sagt er und hilft der Oma in den Mantel. »Du verwöhnst ihn aber auch zu sehr.«

»Petra!«

Wie immer erscheint Pünktchen postwendend an Ingrids Seite.

Rita geht als Letzte hinaus.

Englische Zeitungen. Mondraketen. Von wegen.

Kais Worte dröhnen in ihren Ohren.

The Guardian. 23. Juli 1962. Seite 7.

»Wir sind heute stolz darauf, alles selbst herzustellen von der Nähnadel bis zur Rakete. Ich gebe mit Stolz bekannt, dass die Wissenschaftler, die an den Raketen arbeiten, Ägypter sind. Gestern haben wir das Ergebnis gesehen«, erklärte Nasser.

New York Times. 23. Juli 1962. Seite 4.

Präsident Nasser erklärte, Aggressoren würden die VAR nicht länger verteidigungslos vorfinden. Gestern hatte Herr Nasser festgestellt, dass Israel in Reichweite der neuen VAR-Raketen liege.

Jerusalem Post. 23. Juli 1962. Seite 1.

Premierminister Ben-Gurion berichtete gestern dem Kabinett zum Thema der ägyptischen Raketenstarts am Samstag. Der Bericht enthielt eine Einschätzung der militärischen Bedeutsamkeit der Abschüsse sowie Angaben zu den Quellen, aus denen Ägypten einzelne Komponenten der Raketen bezogen hat.

Zu Kaffee und Kuchen geht es zurück nach Ottensen ins Café Hirte. Die verbleibenden Mitglieder der Familie Hellberg stehen mit betretenen Gesichtern um Hans Albers herum, bis Oma Hamburg ausgestiegen ist. Rita hat keinen Appetit auf gedeckten Apfelkuchen mit Schlagsahne. Sie ist in Gedanken bei ihrem Bruder.

Ist euch eigentlich allen egal, was mit Kai ist?

Pünktchen sicher nicht, doch die ist zu jung, um wirklich tätig zu werden.

Rita murmelt eine Entschuldigung und läuft los, ohne eine Antwort abzuwarten. Kai muss das Schiff zurück genommen haben. Sie läuft die Ottenser Hauptstraße runter, dann nach links in Richtung des Fähranlegers. Die Treppen runter.

Die Fähre aus Richtung Finkenwerder kommt gerade.

Lauf schneller.

Atemlos erreicht sie die Brücke, gerade als Kai aussteigt, Bierflasche in der Hand. Er torkelt ein bisschen. Einen oder zwei hat er sich bestimmt noch an Bord hinter die Binde gekippt.

Kurz darauf sind sie bei ihrer Bank in dem kleinen Park oberhalb des Anlegers. Hier haben sie als Kinder gestanden, Kekse von Oma geknabbert und Schiffe gezählt. Als sie größer waren, Geheimnisse ausgetauscht. Oder einfach schweigend nebeneinandergesessen, um der muffigen Enge der Wohnung zu entkommen.

»Verräter!«, sagt Rita und setzt sich neben ihn.

»Du verstehst das nicht«, brummt Kai und trinkt einen Schluck aus seiner Bierflasche. »Ich komm’ nicht mit euch nach Sylt. Ich komm’ überhaupt nicht mehr. Ich such’ mir eine Bude und ’nen Job.«

»Du verstehst das auch nicht«, sagt Rita und zeigt auf die Elbe und den Hafen. »Das hier ist deine Welt.« Sie tippt Kai an die Stirn. »Und da drinnen ist auch deine Welt.«

Sie nimmt ihm die Flasche aus der Hand, trinkt einen Schluck Bier, überlegt. »Aber es gibt andere Welten. Da draußen. Und hier drinnen auch.« Sie tippt an ihren eigenen Kopf.

»Echt jetzt?« Kai sieht sie an. Ein breites Grinsen erscheint auf seinem Gesicht. »Seit wann das denn?«

Rita erzählt. Von Kairo. Von Brigitte, Maadi, dem Club. Von Max und Sonya. Von Aziza und den Pyramiden, Groppi, dem Nile Hilton. Von dem Gefühl, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein.

Von Hani sagt sie nichts.

BND-Akte 24 881_OT.

Ausw. Amt -Ref. 114

fernschreiben

nr. 228 06. August 1962 – gewöhnliche dringlichkeit –

an: 24

von: konrad Nr. 461/​62 vs- v e r t r a u l i c h

betr.: deutsche raketenspezialisten in der var

die us-presse benennt brandner und pilz als die deutschen wissenschaftler, die neben saenger der var wissenschaftliche hilfe bei raketenentwicklung gegeben haben. koennen namen bestätigt werden? was ist sonst noch dazu zu sagen?

presse versucht, den fall in antideutschem sinne auszuschlachten. umso wichtiger erscheint es mir, dass wir uns von nd zu nd in sorgfaeltig formulierter sprache kooperativ zeigen.

fin+++