Seit etwa zwei Jahren lebte Nunzia in einer Seniorenresidenz in der Gegend von Flumini. Das Altersheim befand sich in einer großen einstöckigen Villa mit Meerblick und direktem Zugang zum Strand. Sie war umgeben von Palmen und verfügte über einen herrlichen, üppigen Garten. Das medizinische Personal war freundlich und entgegenkommend und spezialisiert auf Demenz und andere Formen von neurodegenerativen Krankheiten, die oft mit fortschreitendem Alter eintraten. Alles in der Anlage strahlte Ruhe, Schönheit und Heiterkeit aus. Viele der Bewohner waren jedoch zu sehr von ihrer Krankheit beeinträchtigt, um diese Oase des Friedens so nah am Meer noch genießen zu können.
Obwohl es ihn schmerzte und jedes Mal tagelang herunterzog, besuchte Montecristo Nunzia dort oft. Sie hatte ein Einzelzimmer, das genauso eingerichtet war wie das Schlafzimmer ihrer Wohnung, in der sie jahrzehntelang gelebt hatte: So wurde es von den Ärzten empfohlen, um die Bewohner nicht zu sehr zu verwirren. Nunzias Zimmer war mit Büchern vollgestopft, obwohl sie nicht mehr so las wie früher, denn nach wenigen Zeilen verlor sie den Faden der Handlung.
»Guten Tag, Marzio«, begrüßte ihn die Rezeptionistin, als sie ihn in die Halle kommen sah. »Die Präsidentin ist auf ihrem Zimmer.«
»Wie geht es ihr heute?«, fragte Montecristo. In den vergangenen Monaten waren bei Nunzia Wutanfälle und Angstzustände aufgetreten, die sie veranlassten, wegzulaufen oder es wenigstens zu versuchen. Die Ärzte sagten, dies sei im Rahmen des üblichen Verlaufs: Die Krankheit schritt unerbittlich voran und zog das Gehirn immer mehr in Mitleidenschaft.
»Sie wirkt ruhig. Heute hat sie gut gefrühstückt und sogar an einer Gruppenaktivität teilgenommen.«
»Wunderbar. Dann verderbe ich ihr hoffentlich jetzt nicht die Laune«, sagte Montecristo leicht ironisch.
Er ging zu ihrem Zimmer, klopfte und trat ein. Die »Präsidentin« saß da und starrte aus dem Fenster. Sie hielt einen Roman von Michael Connelly in Händen, einem ihrer Lieblingsautoren. Seit fünf Monaten versuchte sie nun schon, dieses Buch zu lesen, und kam nie über Seite sechs hinaus.
»Guten Tag, Nunzia.«
Die alte Dame wandte sich um und lächelte ihn an. »Ist es schon Zeit für meine Tablette, Doktor?«
Montecristo schüttelte niedergeschlagen den Kopf. »Nein, meine Liebe. Ich bin nicht der Doktor. Ich bin Marzio, der Buchhändler. Erinnerst du dich?«
»Oh, natürlich. Entschuldige vielmals. Das Alter, du weißt schon …«
»Sicher. Ich habe dir den neuen Roman von Elizabeth George mitgebracht.«
»Wie schön. Ich liebe Inspector Rebus!«
Du meinst Lynley, korrigierte Montecristo sie stumm, Inspector Lynley, meine Liebe.
»Leg das Buch nur dort auf den Stapel. Wie du siehst, habe ich noch viel zu lesen.«
»Und wie findest du den da?«, fragte er und deutete auf den letzten Roman mit Harry Bosch, der auf ihrem Schoß lag.
»Das kann ich noch nicht sagen. Ich habe ihn gerade erst angefangen. Aber der Autor schreibt sehr gut. Ich kannte ihn noch nicht.«
Montecristo nickte verständnisvoll. Connelly war ein Autor, den Nunzia seit fast dreißig Jahren verehrte und dessen gesamtes Werk sie immer wieder rauf und runter gelesen hatte. Früher jedenfalls.
»Ich soll dich von allen grüßen. Du fehlst ihnen sehr.«
»Von wem sprichst du?«, fragte sie verwirrt. »Meinst du den Bridgeklub?«
Soweit er wusste, hatte Nunzia nie Bridge gespielt.
»Nein, ich meine den Dienstagskrimiklub. Den aus der Buchhandlung, der Libreria …«
»… Libreria del Mistero?« Nunzia hatte plötzlich einen lichten Moment.
»Genau. Nur dass sie jetzt nicht mehr so heißt.«
»Wie schade. Es war so ein schöner Name … Bist du Kunde der Buchhandlung?«
»Nein, Nunzia, ich bin Marzio Montecristo, der Inhaber. Und eigentlich bin ich auch …«
»Der Inhaber? Und du kommst so in deinen Laden, mit dem Bart und den langen Haaren? Ich würde den nie betreten, wenn du mich in so einem Aufzug empfängst.«
»Du hast recht. Ich sollte mal meine Erscheinung aufpolieren.«
»Aber ja, verflucht. Man kann doch nicht so scheiße angezogen, quasi in Lumpen herumlaufen.«
Es berührte ihn ungeheuer peinlich, sie so reden zu hören. Bis dahin hatte er noch nie ein Schimpfwort aus dem Mund der alten Dame gehört. Dies war ein schlechtes Zeichen. Die Krankheit schritt immer schneller voran.
»Ich werde an meinem Äußeren arbeiten, das verspreche ich dir.«
»Das solltest du«, erwiderte sie gereizt.
Montecristo ging nicht weiter darauf ein, so erschüttert war er von den Schimpfwörtern, die sie gerade benutzt hatte. Wie schon so oft verfluchte er diese tückische Krankheit, Alzheimer, und versuchte, noch etwas von der früheren Nunzia in diesem abgemagerten alten Weiblein zu finden, das ihn verwirrt ansah und sich bestimmt fragte, wer er war. Die Welt um sie herum verblasste mit jedem Tag mehr. Und genauso war es mit Nunzia, man hatte das Gefühl, dass sie sich verflüchtigte, dass sie zu einem Schatten wurde. Dem Schatten der Frau, die sie einmal gewesen war.
»Wann kann ich wieder nach Hause zurück, Dottore?«, fragte sie ihn flehentlich.
Es hatte keinen Sinn, sie jetzt noch einmal zu verwirren, sagte er sich. »Schon bald, meine Liebe«, antwortete er und versuchte beruhigend und selbstbewusst zu klingen. »Sehr bald. Wir müssen nur noch einige Untersuchungen durchführen, dann wirst du entlassen. Dein Zuhause fehlt dir?«
Die alte Dame nickte, plötzlich waren ihre Augen feucht geworden. »Könnten Sie jemanden bitten, meine Orchideen zu gießen, Dottore? Aber nicht zu viel, geben Sie das weiter. Und sie dürfen auch nicht zu sonnig stehen, sonst sterben sie ab, die Ärmsten.«
»Natürlich«, beruhigte er sie.
»Sie sehen traurig aus, Dottore. Warum?«
»Ich habe heute einen Jungen getroffen, der seine Eltern verloren hat. Der Vormittag war nicht leicht für mich.«
»Wie schlimm. Das tut mir sehr leid … Wenn ich hier eine Küche hätte, würde ich einen Kuchen für ihn backen, der arme Kleine. Wie heißt er?«
»Lorenzo.«
Nunzia schrieb den Namen auf einen Notizblock. »Ein Unfall?«
»So was Ähnliches«, antwortete Montecristo in Gedanken an die schreckliche Geschichte, die der Junge erzählt hatte. Er lächelte Nunzia freundlich an und sagte, er würde bald wieder zu ihr kommen.
»Denken Sie an meine Geranien.«
Gerade eben waren es noch Orchideen, dachte Montecristo bitter. »Ich kümmere mich darum … Und jetzt ruhen Sie sich aus. In einer halben Stunde gehen wir mit Ihnen spazieren und dann zum Mittagessen.«
»Na, hoffentlich gibt es heute nicht wieder diese beschissene langweilige Suppe für zahnlose, verblödete Tattergreise …«, schimpfte Nunzia und runzelte ihre faltige Stirn.
Diesmal entlockte sie Montecristo gegen seinen Willen ein Lachen. »Wir sehen uns bald wieder, meine Liebe.«
Montecristo verließ die Seniorenresidenz mit der schmerzlichen Erkenntnis, dass Nunzia ihn auch heute Vormittag nicht erkannt hatte.
Alles okay in der Buchhandlung?, meldete er sich per WhatsApp bei Patricia.
Wenn du nicht da bist, läuft immer alles prima, Chef. Du kannst natürlich herkommen, wenn du willst. Obwohl – vielleicht besser nicht.
Montecristo beschloss, mit einer Sprachnachricht zu kontern: »Du legst es wirklich darauf an zu hören, dass du einen mal am Arsch lecken kannst, was, Patricia? Aber ich komme trotzdem zurück … Schreib mir, was du essen willst, dann bringe ich es dir mit. Bis gleich.«
Während er auf seine Moto Guzzi stieg, hatte er wieder die verwirrten und traurigen Blicke von Nunzia und Lorenzo vor Augen. Und erst in diesem Moment wurde ihm bewusst, dass es ein und dieselbe Verzweiflung war, die er darin gelesen hatte.