Ein Jahr zuvor war etwas geschehen, das die Gruppe noch enger zusammengeschweißt hatte. Es hatte als Spaß begonnen. Angela Dimase wusste, dass Montecristo seit ungefähr drei Jahren mit seinen seltsamen Kunden Krimihandlungen auseinandernahm und wieder zusammensetzte: Jeden Dienstag nahmen sie sich einen Kriminalroman vor und analysierten die Verbrechen, um die sich die Geschichte drehte, sie prüften die Schlüssigkeit der Alibis und der Motive und untersuchten den Auslöser für den jeweiligen Mord und die Ermittlungsmethoden der Polizei. Eines Abends, Angela hatte wohl ein Glas zu viel getrunken, hatte sie bemerkt, es sei ja keine Kunst, über Fälle zu reden, die andere schon gelöst hätten. Sie frage sich, ob der Leseklub auch imstande wäre, einen realen Fall zu lösen?
Montecristo – der bei diesem Anlass ebenfalls der Flasche zugesprochen hatte – hatte ihr versichert, dass sein Krimiklub und er jedes Rätsel lösen würden, das sie ihnen vorsetzte, ganz gleich, ob es sich um einen literarischen oder einen realen Fall handelte. Angela und er hatten die Wette mit einem Händedruck besiegelt, und für ihn war die Angelegenheit damit erledigt gewesen.
Aber eine Woche darauf war Sovrintendente Dimase mit einer Akte zu einem ungelösten Fall in die Buchhandlung gekommen, die seit Jahren in den Archiven der Kriminalpolizei verstaubte. Flavio Caruso hatte damals die Ermittlungen eingeleitet, doch es war ihm bis heute nicht gelungen, den Fall abzuschließen.
»Ich hätte nie gedacht, dass du es ernst meinst«, hatte Montecristo gesagt, während er in der Akte blätterte.
»Also machst du einen Rückzieher?«
»Wir sehen uns hier in einem Monat wieder«, war Montecristos selbstsichere Antwort auf diese Provokation gewesen.
Als er Maina, Scalabrini, Camilla und Fra Raimondo vorschlug, diese Woche nicht wie geplant über einen Roman von Rex Stout zu sprechen, sondern einen Blick auf diesen realen Cold Case zu werfen, einen Mord, der vor Jahren im Sinnai geschehen war, hatte sein Leseklub die Anregung mit größter Begeisterung aufgenommen. Sie freuten sich riesig, endlich mal ihre »grauen Zellen« auf die Probe stellen zu können.
Montecristo hatte eine alte Tafel aus seiner Zeit als Lehrer hervorgekramt und darauf alle Informationen, die er der Akte entnahm, notiert. Die fünf »Detektive« hatten nur zwei Treffen gebraucht, um eine Hypothese zur Lösung des Falls zu formulieren. Signor Scalabrini hatte eine wirklich brillante Eingebung gehabt: Er hatte den Doppelmord im Sinnai mit dem recht ähnlichen Hergang eines literarischen Mordes verglichen, den sie vor etlichen Monaten besprochen hatten, nämlich dem unbestrittenen Meisterwerk eines Locked-Room-Falls: John Dickson Carrs Der verschlossene Raum. Die fünf Detektive hatten versucht, diese Hypothese zu überprüfen, eventuelle Widersprüche oder kritische Punkte auszuloten, aber sie hatten keine gefunden. Stattdessen hatten sie zahlreiche Ähnlichkeiten zwischen den beiden Verbrechen entdeckt. Daher kamen sie zu der Überzeugung, dass sie richtiglagen: Der Mörder hatte einen ähnlichen Plan wie bei John Dickson Carr verfolgt, aber auch in seinem Fall hatte sich sein verbrecherisches Vorhaben gegen ihn gewandt. So war es Caruso und seinen Kollegen nicht gelungen, der Sache auf die Spur zu kommen.
»Ihr habt also aufgegeben«, hatte Angela triumphierend getönt, als Montecristo sie anrief.
»Von wegen. Wir haben den Fall gelöst. Wenn ihr kurz in der Buchhandlung vorbeikommt, erklären wir euch den Tathergang und wie wir herausgefunden haben, wer der Täter ist.«
Voller Zweifel, aber doch neugierig geworden, waren Caruso und Dimase am Nachmittag im »viktorianischen« Raum der Buchhandlung aufgetaucht. Äußerst kompetent hatten die fünf Dienstagsdetektive den Fall analysiert und mit unerschütterlicher Logik die beiden Ermittler durch ihre brillante Untersuchung bis zur überraschenden Aufklärung des Verbrechens geleitet.
»Das wäre mir nie in den Sinn gekommen …«, hatte Caruso ungläubig geflüstert.
»Zu deinem Glück gibt es ja uns«, hatte Maina beißend erwidert. »Eure Retter.«
»Ich würde mich lieber nicht so weit aus dem Fenster lehnen, mein Herzchen. Das müssen wir alles noch sehen. Auf dem Papier funktioniert das, aber eure Hypothese muss der Überprüfung der Tatsachen und vor allem den Ergebnissen der Spurensicherung standhalten.«
»Ganz genau. Überprüft alles und informiert uns dann«, hatte Montecristo gesagt. »Aber wenn wir recht haben, schuldet ihr uns ein Abendessen, und dabei kommt ihr nicht mit einer Pizza davon, dass das klar ist. Wir wollen ein schickes, teures Restaurant.«
Caruso und Dimase hatten zugestimmt. Am folgenden Tag bezogen sie den Pathologen, der mit dem Fall betraut war, und den Leiter der Spurensicherung ein und erklärten ihnen ihren »neuen« Ermittlungsansatz. »Genial«, hatten die beiden Wissenschaftler gesagt und sich sofort an die Arbeit gemacht.
Drei Tage später hatte Caruso per Mail die Untersuchungsergebnisse bekommen. Während er sie las, war ihm die Luft weggeblieben, er hatte nur stumm den Kopf geschüttelt, während auf seinen Lippen ein ungläubiges Lächeln erschien.
»Das gibt’s doch nicht …!«, hatte er gebrummt. Dann hatte er ein im Guide Michelin empfohlenes Restaurant angerufen, das I Sarti Del Gusto in der Via Sulis, und hatte – widerstrebend – einen Tisch für sieben Personen reserviert.