Montecristo nannte alle Fakten, die die Ermittlungen bisher ergeben hatten, und ging dabei exakt in der Reihenfolge der Ereignisse vor, so präzise, als würde er die Handlung eines Kriminalromans analysieren. Als er seine Leseklubgefährten umfassend ins Bild gesetzt hatte, fühlte er sich so erschöpft wie noch nie während eines ihrer Treffen.
Das liegt daran, dass du in die Angelegenheit persönlich verwickelt bist, sagte er sich. Und daran, dass es ein echter Fall ist. Hier sind Menschen gestorben. Menschen aus Fleisch und Blut. Darum bist du aufmerksamer und fühlst mehr Verantwortung, weil du weißt, was auf dem Spiel steht.
»Das ist mehr oder weniger alles, was wir für den Augenblick wissen«, schloss er seine Ausführungen und sah die anderen Klubmitglieder an, die ihm in andächtigem Schweigen zugehört hatten.
»Wow …«, brachte Maina nach einer Weile hervor, während sie immer noch Miss Marple streichelte. »Du warst also Mathematiklehrer, bevor …«
»Genau. Nobody is perfect«, wiegelte Montecristo ironisch ab, der jetzt nicht auch noch auf dieses Kapitel aus seiner Vergangenheit eingehen wollte. »Also: Was meint ihr?«
»Deine Polizistenfreunde sind wirklich nicht zu beneiden«, bemerkte Fra Raimondo scherzend und ließ dabei seinen abgenutzten Rosenkranz durch die kräftigen Finger seiner ledrigen Hände gleiten. »Gibt es keine Überwachungskameras, die da helfen könnten?«
Montecristo schüttelte den Kopf. »Er hat agiert wie ein Geist – unsichtbar.«
»Mal abgesehen vom Modus Operandi, der in beiden Fällen praktisch derselbe ist, welche Verbindungen gibt es sonst zwischen den Morden?«, fragte Scalabrini seine Mitstreiter mit seiner charakteristischen tiefen Stimme. »Wissen wir ganz sicher, dass die Opfer einander nicht kannten?«
»Nach dem aktuellen Wissensstand anscheinend nicht«, antwortete Montecristo.
»Und nachdem der Mörder seine Opfer getötet hatte, hat er da in beiden Fällen nichts gesagt? Haben die Überlebenden wirklich nichts gehört?«, fuhr Scalabrini fort.
»Weder der Junge noch Signora Atzori haben diesbezüglich etwas geäußert«, erklärte Montecristo. »Der Scheißkerl hat seine Opfer kaltblütig erschossen und ist dann in der Dunkelheit verschwunden wie ein Ninja. Beim ersten Mord hat er eine Schere auf den Boden gelegt, damit Lorenzo und sein Vater sich befreien konnten. Beim zweiten nicht einmal das.«
»Und er hat nur diese Sanduhren zurückgelassen«, warf Signora Solinas ein. »Richtig?«
»Genau.«
»Die Tatsache, dass er die Taten aufgenommen hat, deutet darauf hin, dass er eine Erinnerung an die Morde bewahren wollte, als hätte er vor, sie später noch einmal nachzuerleben und vielleicht diese Momente der absoluten Macht erneut zu genießen«, meldete sich Maina zu Wort. »Das passt sehr gut zu dem Verhaltensmuster eines Serienmörders. In dem Fall ist das Video ein Fetisch, durch den er immer wieder in die Tatnächte zurückkehren kann. Das ist seine Notfalldosis in den Zeiten, wenn der Adrenalinspiegel zu stark sinkt oder, besser gesagt, wenn zu lange kein Blut fließt.«
Montecristo nickte zustimmend.
»Und was, wenn er diese Videos für jemand anderen gedreht hätte?«, warf Fra Raimondo ein.
»Für wen?«, fragte Scalabrini, den diese Hypothese neugierig machte.
»Keine Ahnung. Vielleicht für jemanden, der sich an diesen Leuten rächen wollte.«
»Oder er hatte vor, sie im Deep Web oder im Darknet zu verkaufen«, fügte Maina an. »Da wimmelt es doch nur so von kranken Leuten, die es genießen, sich solches Snuff-Video-Zeug reinzuziehen.«
»Diese Sache mit dem Internet erinnert mich an einen Roman von Jeffery Deaver, den ich vor einigen Jahren gelesen habe«, sagte Camilla und spielte dabei zärtlich mit den seidigen Ohren von Poirot. »Nach dieser Hypothese wäre unser Mann nur ein Auftragskiller. Ein professioneller Mörder, kein Serientäter.«
»Nun, seine Handlungsweise lässt auf Distanz, Kaltblütigkeit und extreme Professionalität schließen, was gut zu dieser Hypothese passen würde, stimmt’s?«, bemerkte Montecristo.
»Ja, das stimmt. Ein Serienmörder hätte vielleicht eine persönlichere Handschrift hinterlassen. Eine Art Signatur«, spann Maina den Faden fort. »Er hinterlässt tatsächlich nur diese Sanduhr.«
»Na ja, eigentlich lässt er auch Menschen zurück, die mit der Last auf der Seele leben müssen, dass sie eine geliebte Person zum Tode verurteilt haben«, erwiderte Scalabrini. »Was für eine Qual in Ewigkeit, wenn ihr es recht überlegt.«
»Und warum sollte er so etwas tun?«, fragte Fra Raimondo.
»Aus Rache vielleicht?«, schlug Scalabrini vor.
»Das würde die Ermittlungen auf die Opfer ausdehnen«, erklärte Montecristo.
»Wie meinen Sie das, Marzio?«
Scalabrini antwortete für ihn: »Das bedeutet, um herauszufinden, aus welchem Grund der Mörder Rache übt, muss man das Leben seiner Opfer durchleuchten. Und dabei würde es keinen großen Unterschied machen, ob es sich um einen persönlichen Rachefeldzug handelt oder ob jemand von einem Dritten dazu beauftragt wurde: In jedem Fall müssten die Opfer ebenfalls zur Identität des Auftraggebers führen, nicht wahr?«
»Genau. Nur sie können den Schlüssel zu dieser möglichen Vergeltungsaktion liefern. Immer angenommen, dass diese Theorie zutrifft«, merkte Montecristo an.
Sie saßen noch eine gute halbe Stunde zusammen und loteten andere mögliche Motive aus. Am Ende ihrer Diskussion waren in der Gruppe drei klar voneinander abgegrenzte Meinungen vertreten: Die eine ging von Taten eines Serientäters aus, die andere befürwortete eher die Theorie des Auftragsmörders, und die dritte Fraktion plädierte dafür, es müsse sich um einen gut organisierten Rachefeldzug handeln, der manisch bis ins Detail geplant war. Nur in einem Punkt waren sie sich alle einig: Sie hatten das Gefühl, dass der Mörder wieder zuschlagen würde, denn sein Verhalten gab keinen Anhaltspunkt für die Vermutung, dass er nun innehalten würde. Nachdem sie fast drei Stunden lang die Fälle erörtert hatten, weit über die Dauer ihrer üblichen Treffen hinaus, wenn sie über das Buch der Woche diskutierten, waren sie zutiefst erschöpft von dieser ungewohnten Anstrengung.
»Ich würde sagen, wir machen Schluss für heute«, schlug Montecristo vor. »Wir sind alle zu müde und erschüttert, um noch vernünftig zu überlegen. In ein paar Tagen bringen wir uns gegenseitig auf den neuesten Stand der Dinge, okay? Mit ein wenig Glück haben Caruso und Angela dann vielleicht schon etwas Neues herausgefunden, das uns hilft, klarer zu sehen. Und denkt daran, kein Wort zu irgendjemandem über das, was wir heute Abend besprochen haben.«
Beunruhigt, aber irgendwie auch freudig erregt bei dem Gedanken, an echten Mordfällen zu arbeiten, verließen die Dienstagsdetektive einer nach dem anderen die Buchhandlung Les Chats Noirs und überließen es Montecristo, den Raum wieder in Ordnung zu bringen – was er unter den verächtlichen Blicken der beiden Katzen tat. Nachdem er ihnen Futter gegeben hatte, bemerkte er, dass Vittorio Scalabrini seinen Hut auf der Büste von Sir Arthur Conan Doyle vergessen hatte. Das freute ihn beinahe. Montecristo nahm ihn hoch und hielt ihn sich mit dem Innenfutter an die Nase, um sich an dem Duft des Eau de Cologne zu berauschen. Er schloss die Augen und lächelte über sein kleines geheimes Vergnügen. Dieser Duft war für ihn wie eine zärtliche Geste seines geliebten Großvaters, den er verloren hatte, als er erst zehn Jahre alt gewesen war, und der ein Haarwasser mit einem ähnlichen Duft wie der alte Scalabrini benutzt hatte.
Montecristo nahm den Hut mit und rief dessen Besitzer an, aber Scalabrinis Handy war ausgeschaltet.
Vielleicht hatte er ja vergessen, es nach dem Treffen wieder einzuschalten. Montecristo suchte in der Kundenkartei nach seiner Adresse und fand sie: Scalabrini wohnte nicht weit von seiner eigenen Wohnung entfernt. Deshalb beschloss er, ihm den Hut persönlich vorbeizubringen. Vielleicht würde ihn eine nächtliche Fahrt auf seiner Moto Guzzi ein wenig von der Anspannung befreien, die sich im Laufe des Tages angesammelt hatte. Bevor er den Raum verließ, wandte er sich an Miss Marple und Poirot: »Verzeiht mir, ich habe euch gar nicht um eure Meinung gebeten. Was denkt ihr denn?«
Die Katzen starrten ihn vorwurfsvoll an und fauchten, als wäre er der Mörder.
»Reizend wie immer, was?«, sagte Montecristo und machte das Licht aus. »Gute Nacht. Wir sehen uns morgen.«
Sobald es im Raum dunkel wurde, leuchteten die bernsteinfarbenen Augen der Katzen auf wie kleine LED-Lämpchen.