»Gleich ist es so weit«, sagte der Vermummte mit eisiger Stimme und starrte auf die letzten Sandkörner, die in den unteren Glaskolben der Sanduhr rieselten.

Samuele Patteri hatte sich noch nicht ins Offensichtliche gefügt: Tief in seinem Innersten dachte er immer noch, dass all das nicht wahr sein könne. Und doch lagen seine Kinder neben ihm, an Fuß- und Handgelenken gefesselt, und starrten ihn mit angsterfüllten Mienen an. Riccardos Gesicht war auf einer Seite mit Blut verschmiert. Er hatte versucht, sich zu wehren, woraufhin der Unbekannte ihm mit dem Pistolenlauf gegen die linke Schläfe geschlagen hatte, wo die Haut ein wenig aufgeplatzt war.

»Er oder sie?«, fragte der Fremde.

»Ich kann mich nicht entscheiden …«, murmelte Patteri.

»Glaub nicht, dass du mich mit deiner Krankheit milder stimmen kannst. Denk das nicht eine Sekunde. Triff deine Wahl oder sie sterben beide.«

»Warum?« Tränen der Ohnmacht rannen über Samueles Gesicht. Die Finger seiner rechten Hand – die einzige Extremität, die er noch fast normal bewegen konnte – waren noch gelähmt von dem Betäubungsmittel, das der Verbrecher ihm ins Gesicht gesprüht hatte. Samuele Patteri war völlig wehrlos. »Das kannst du nicht von mir verlangen. Das sind meine Kinder. Wie kann ich da …«

»Drei Sekunden.«

Patteri schloss die Augen. Seine Lippen stammelten etwas, aber die Zeit war bereits verstrichen.

Verzweifelt schnappte Patteri nach Luft, als er die Leichen von Elena und Riccardo knapp einen Meter neben seinem Rollstuhl liegen sah.

»Du weißt, warum ich das getan habe«, sagte der Unbekannte, während er die Videokamera ausschaltete und sie vom Stativ löste. »Denk immer daran, dass nicht ich sie umgebracht habe … Das warst du

»Wer bist du?«, flüsterte Patteri, während sein Oberkörper vom Schluchzen geschüttelt wurde.

»Das ist nicht wichtig.«

»Doch, das ist wichtig. Lass mich dein Gesicht sehen.«

Der Unbekannte lachte.

»Ich bitte dich. Ich weiß, dass du mich dann töten musst, aber ich will dir in die Augen sehen.«

»Nein«, sagte der andere und verstaute das Stativ in einer Sporttasche.

»In ein paar Wochen werde ich nicht mehr sprechen können … Und in ein paar Monaten bin ich vielleicht tot … Ich möchte lieber gleich sterben, nachdem … Lass dir ins Gesicht sehen, du Scheißkerl.«

Der Vermummte starrte den behinderten Mann ein paar Sekunden an, unschlüssig, ob er diesen letzten Wunsch erfüllen sollte. »Wie du willst«, sagte er dann und zog sich die Sturmhaube vom Kopf.

Als er nun dem Mörder seiner Kinder ins Gesicht sah, riss Patteri in einer Mischung aus Begreifen und Entsetzen die Augen auf.

»Hast du es jetzt verstanden?«, fragte der Mörder, und noch ehe der andere antworten konnte, setzte er ihm den Lauf seiner Waffe mitten auf die Stirn und jagte ihm eine Kugel in den Kopf.

Der Unbekannte wartete darauf, dass ihn eine Woge von Schuldgefühlen überrollen würde, weil er einen wehrlosen Menschen in einem Rollstuhl getötet hatte. Aber das geschah nicht. Sein Gewissen war rein wie das eines Neugeborenen. Er starrte einige Sekunden auf die Leichen und atmete tief durch, um seinen Herzschlag zu beruhigen. Der Korditgeruch der Schüsse überlagerte nun den Duft von Elenas Coco Mademoiselle.

Mit behandschuhten Händen packte er die Fernbedienung der Stereoanlage und schaltete sie wieder ein, damit Rory Gallagher seinen Song zu Ende bringen konnte.

Als der Sänger das nächste Lied begann, hatte der Mörder bereits die Wohnung verlassen.