Sein »schlafender Engel«. Diesen Beinamen hatte der Mörder der Patientin gegeben, die seit Jahren in katatonischem Zustand in einem Bett einer Privatklinik lag. Wie jedes Mal, wenn er sie besuchte, zog er die Tür zu ihrem Zimmer hinter sich zu, legte ein Buch auf den Nachttisch und strich ihr sanft über die Haare, bevor er sorgfältig überprüfte, ob sie sich auch nirgendwo wundgelegen hatte. Eine unnötige Sorge angesichts der ausgezeichneten Einrichtung und der unermüdlichen professionellen Betreuung durch das medizinische und pflegerische Personal. Er zahlte jeden Monat eine hohe Summe, um ihr die besten Behandlungen zukommen zu lassen. Behandlungen vor allem des Körpers, denn nach Meinung der Spezialisten konnte man für Geist und Seele nichts mehr tun. Seit unermesslicher Zeit lag die Frau dort im Wachkoma und reagierte kaum auf Außenreize. Niemand hatte je herausgefunden, was genau der Auslöser dafür gewesen war, dass ihr Geist sich plötzlich abgeschaltet hatte und diese Dunkelheit in ihrem jugendlichen Alter die totale Kontrolle über sie übernommen hatte. Auch er nicht. Nur eines wusste er genau, dass es an ihm war, sich um sie zu kümmern und darauf zu warten, dass sie irgendwann aus ihrem todesähnlichen Schlaf wiedererwachte.

»Es tut mir leid, aber Sie können nicht mehr tun als ohnehin schon«, wiederholten die Ärzte jedes Mal, wenn er sie fragte, ob es Fortschritte gäbe und irgendeine Möglichkeit,

Und angesichts dieser Erklärung stellte er immer wieder dieselbe Frage, die ihn zutiefst quälte: »Leidet sie?«

»Aufgrund der Untersuchungen und Tests können wir das mit aller Wahrscheinlichkeit ausschließen. Sie treibt ohne Bewusstsein dahin.«

Ohne Bewusstsein … Der Mann hätte alles dafür getan, ihr das Bewusstsein wieder zurückzugeben, sie wieder nach Hause zu holen, zu ihm. Auch jemanden umbringen. Und das hatte er getan. Mehrmals. In der Hoffnung, das wäre der Preis dafür, den ihr Geist forderte, um wieder zu erwachen.

Er sah hin zur Tür, um sicherzugehen, dass sie geschlossen war, bevor er sein Smartphone hervorzog und das letzte Video auswählte, das er in Saronno aufgenommen hatte. Aus einer Jackentasche holte er Kopfhörer hervor und befestigte sie an den Ohren der Patientin.

»Elena, Riccardo und Samuele Patteri«, sagte er, als müsste er sie vorstellen, und hielt das Handydisplay etwa zwanzig Zentimeter von den blicklosen Augen der Patientin entfernt. Dann startete er das Video, in dem die verpasste Entscheidung und das darauffolgende Blutbad zu

Der starre Blick der Kranken schien allerdings nichts von jenen Bildern des Todes aufzunehmen, noch schien ihr Gehör etwas zu registrieren, zumindest zeigte sie keine erkennbare Reaktion auf das Video. Wie jedes Mal, wenn er sie besuchte, fragte sich der Mann, ob sie auch nur irgendetwas wahrnahm, ob diese Morde wenigstens ein bisschen den Schmerz linderten, der ihre Seele quälte. Dass er dies nicht wusste, bedeutete für ihn selbst eine unvorstellbare Folter, vielleicht schlimmer als die, der er seine Opfer unterzog.

»Ich hätte nie für möglich gehalten, dass ich einen Mann töten könnte, der im Rollstuhl sitzt … Aber es war viel einfacher, als ich angenommen hatte«, gestand er der Kranken und drückte ihre Hand. »Ich musste nur an dich denken.«

In der Hoffnung, es könnte irgendetwas bewirken, spielte er ihr das Video noch einmal vor.

Doch auch dieses Mal zeigte sie keinerlei merkliche Reaktion.

»Jetzt fehlt nur noch eine Person«, flüsterte er, während er Smartphone und Kopfhörer einpackte. »Dann können wir mit dieser Geschichte abschließen, hoffentlich für immer.«

Das Gesicht der Frau zeigte keine Regung.

Unbeirrt nahm der Mann den Roman vom Nachttisch und begann, laut einige Kapitel daraus vorzulesen, weil er hoffte, wo auch immer die Kranke sei, möge sie ihn hören.