Nachdem Montecristo die anderen über die Fakten zum letzten Mordfall in Kenntnis gesetzt hatte, schwiegen die Mitglieder des Leseklubs erst einmal, jeder in seine eigenen Gedanken versunken.

»Wer fängt an?«, fragte er.

»Nun, das ist eine einschneidende Veränderung des Modus Operandi«, wagte sich Camilla vor.

»Allerdings. Er hat seine sprichwörtliche Kaltblütigkeit über den Haufen geworfen und drei Menschen umgebracht, darunter einen Behinderten«, schloss Fra Raimondo sich an. »Nun hat er sein wahres Gesicht gezeigt. Das eines sadistischen Killers.«

»Wer sagt uns, dass es sich hier um Grausamkeit handelt?«, wandte Scalabrini ein.

»Wie meinen Sie das?«

»Maigret würde sagen: Konzentrieren wir uns auf den emotionalen Aspekt des Verbrechens. Was macht uns so sicher, dass es sich hierbei um Unmenschlichkeit und Grausamkeit handelt?«, argumentierte er. »Die Art und Weise der Durchführung des Tötungsdelikts hat sich nicht verändert, wenn ihr einmal darüber nachdenkt. Ich sehe kein weiteres Element von Sadismus im Verhältnis zu den vorhergehenden Verbrechen. Dass er den alten Mann im Rollstuhl getötet hat, könnte auch ein Zeichen von Mitleid sein. Können wir das ausschließen?«

Scalabrini hatte alle, einschließlich Montecristo, vollkommen mit seiner Sichtweise überrascht, und dieser gab

»Die Tatsache, dass es sich bei dem Opfer um einen ehemaligen Polizisten handelt, gibt mir zu denken«, überlegte Camilla laut. »Was, wenn der Mord irgendetwas mit Patteris Beruf zu tun hat?«

»Caruso und Dimase sind überzeugt, dass dem nicht so ist, ihre Kollegen vom zuständigen Polizeipräsidium in Busto Arsizio ebenfalls«, antwortete ihr Montecristo. »Sie haben Patteris berufliche Vergangenheit gründlich durchleuchtet und keine dunklen Flecken gefunden. Offenbar war er ein hervorragender Polizeibeamter, überall beliebt und hervorragend in seinem Job.«

»Ich würde mich auf die Stadt konzentrieren. Warum Saronno? Aus welchem Grund hat er Sardinien verlassen und ist bis nach Norditalien gereist? All dies deutet auf Rache als Motiv. Was könnte ihn sonst zu einer solchen Reise veranlasst haben?«, fragte Maina.

»Maina hat recht. Wir dürfen nicht den Fehler der Polizei wiederholen, die sich zu stark auf den Mörder und zu wenig auf die Opfer konzentriert hat. Denn alles dreht sich um sie, wie man auch den Worten des Mörders entnehmen kann, die mir Lorenzo wiedergegeben hat.« Montecristo wies auf den Satz des Jungen, den er mit Kreide auf die Tafel geschrieben hatte: DU WEISST, WARUM ICH DAS GETAN HABE. DENK IMMER DARAN, DASS NICHT ICH SIE UMGEBRACHT HABE. DAS WARST DU.

»Es gibt etwas, das alle Morde verbindet. Etwas, das sich uns immer noch nicht erschließt«, sagte Montecristo leise, während er noch einmal die Tathergänge und alle Details der Morde durchging.

»Nun, wenn der Kleine die Wahrheit sagt«, bemerkte Camilla, »muss der Auslöser für die Verbrechen ein

»Rache … Nehmen wir mal an, die These stimmt. Für was rächt er sich?«, erwiderte Montecristo.

»Und da sind wir wieder bei den Opfern«, sagte Fra Raimondo. »Wenn jemand so kalt und distanziert handelt, ohne jegliche moralischen Bedenken, wenn er vom Feuer der Rache erfüllt ist, bedeutet das, dass er nicht von Geburt an so ist, sondern erst dazu wurde. Er muss etwas ganz Furchtbares erlebt haben.«

»Zweifellos. Aber was?«, spornte Montecristo sie an.

»Einen Mord vielleicht«, antwortete Maina und zuckte mit den Schultern. »Die müssen einen Menschen getötet haben, der ihm viel bedeutet hat. Ich verwende den Plural, weil es sich um einen Vergeltungsschlag an mehreren Personen zu handeln scheint.«

»Und diese Rache trifft zwar alle Menschen im Umfeld, aber sie konzentriert sich auf die Person, die er vor diese Entscheidung stellt«, merkte Scalabrini an.

»Also Nicola Vincis und Silvana Atzori«, las Maina von der Tafel ab. »Und einen der drei Patteri.«

»Okay. Gehen wir mal nach dem Ausschlussverfahren vor. Was könnten diese Personen gemeinsam haben?«, ermutigte Montecristo seine Mitstreiter und unterstrich ihre Namen auf der Tafel.

Die Mitglieder des Leseklubs sahen sich eine Weile die Liste mit den Opfern an, dann antworteten sie wie aus einem Munde: »Das Alter!«