»Ehrlich gesagt habe ich mich nie sehr für Kriminalromane begeistert. Die waren mir gleichgültig. So seltsam Ihnen das erscheinen mag, ich habe immer Liebesromane bevorzugt«, begann Scalabrini, wohl wissend, dass die Beweise, die seine Leseklubgefährten zusammengetragen hatten, unwiderlegbar waren und es keinen Sinn hatte zu leugnen. Er wirkte ruhig wie immer, und schon seinen ersten Worten merkte man ein tiefes Gefühl der Befreiung an.
»Aber meine Tochter las sie sehr gern. Zumindest vor jenem Unglückstag … Sie studierte Jura, war eine hervorragende Studentin und träumte davon, Richterin zu werden. Das wäre ihr auch gelungen, alle waren davon überzeugt, angefangen bei ihren Professoren, die sie unglaublich schätzten. Dann, kurz vor dem Examen, ist etwas passiert … Eines Abends ist sie mit einigen Kommilitonen ausgegangen. Eine rare Ausnahme, denn eigentlich war sie schüchtern und introvertiert, vielleicht sogar ein wenig zu streng mit sich selbst, würde ich sagen. Sie hatte kaum Freunde und gönnte sich nur selten einmal einen freien Abend und eine Pause vom Studium. Um es ganz klar zu sagen, sie war in ihrem ganzen Leben höchstens zwei oder drei Mal in einer Diskothek gewesen. Das war nichts für sie. Wie auch immer, an jenem Abend ist sie ausgegangen. Es wurde halb zwei, zwei Uhr, und sie war noch nicht zurück. An und für sich nichts Besorgniserregendes für ein Mädchen ihres Alters. Aber ich wiederhole: Sabrina war da anders als ihre Altersgenossen. Ihre Mutter und ich versuchten, sie auf dem Handy zu erreichen, doch sie antwortete nicht. Wir waren beunruhigt, aber gleichzeitig wollten wir ihr keinen Druck machen, wenn sie sich schon mal einen freien Abend gönnte. Also warteten wir ab. Es wurde vier, fünf, dann sechs Uhr … Nichts. Um sieben Uhr sind meine Frau und ich ins Auto gestiegen und wollten sie suchen, aber bevor ich den Motor starten konnte, erhielt ich einen Anruf der Polizei: Man hatte Sabrina bewusstlos auf einem Feldweg nahe Villasor, einem Dorf etwas außerhalb von Cagliari, aufgefunden, wenige Meter von ihrem Auto entfernt. Sie hatte eine Wunde im Nacken und schien offenbar viel getrunken oder exzessiv Drogen konsumiert zu haben und deswegen kollabiert zu sein. Wir konnten uns das überhaupt nicht vorstellen, aber wir folgten den Anweisungen der Polizei und fuhren zu unserer Tochter ins Krankenhaus … Eigentlich gibt es da nicht mehr viel zu erzählen: Sabrina kam nie wieder zu Bewusstsein … Sie wurde zahlreichen Untersuchungen unterzogen, die zweifelsfrei ergaben, dass sie eine schädigende Mischung aus Alkohol und synthetischen Drogen zu sich genommen hatte. Sie wies auch zahlreiche Blutergüsse auf, als wäre sie brutal geschlagen worden. Die Ärzte konnten nicht mit Sicherheit feststellen, ob sie vergewaltigt worden war, aber auf jeden Fall hatte sie in der Nacht etliche, eher gewalttätige Sexualkontakte gehabt. Die Polizei stellte Ermittlungen an, die aber zu nichts führten. Sie machte die Kommilitonen ausfindig, mit denen Sabrina sich getroffen hatte, aber die sagten aus, sie hätten nur einige Stunden mit ihr verbracht, danach sei sie mit einem älteren Mann weggegangen, den sie nicht kannten, mit dem Sabrina aber vertraut zu sein schien. Bevor Sie mich jetzt danach fragen, ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wer das sein konnte … Dass meine Tochter sich im Wachkoma befand und den Ermittlern nichts dazu sagen konnte, machte alles noch schwieriger. Ihr Fall wurde rasch als ›Körperverletzung, Täter unbekannt‹ zu den Akten gelegt.«
Scalabrini nahm seinen Hut in die Hand und drehte ihn zwischen den Fingern.
»Und während die Polizei aufgegeben hatte und die Ärzte ebenfalls, vegetierte Sabrina vor sich hin. Tag für Tag wurde sie schwächer wie eine Pflanze, der man die Ernährungsgrundlage entzogen hat. Versuchen Sie sich einmal vorzustellen, wie grundlegend und bis ins Innerste dieser Schicksalsschlag mein Leben und das meiner Frau erschüttert hat. Von einem Tag auf den anderen war es, als existierte unsere Tochter nicht mehr. Als wäre sie für immer eingeschlafen … Sämtliche Therapien, auch die neuesten und selbst jene, die sich noch in der Erprobungsphase klinischer Studien befanden, erwiesen sich als erfolglos. Ihr Zustand schien irreversibel zu sein … Man riet mir, ich solle mit ihr sprechen und es auch mit Vorlesen versuchen, selbst wenn nichts vermuten ließ, dass man sie mit Worten erreichen konnte.«
Miss Marple kam auf Scalabrini zu und machte einen auffordernden Buckel, dass er sie jetzt streicheln sollte. Er nahm die Einladung an, und bei dieser Geste schien er sich zu entspannen.
»Oft geht das Schicksal seltsame und unwahrscheinliche Wege, manchmal auch sehr absurde«, fuhr Scalabrini fort. »Jahre nach dem Unglück kam ich auf der Suche nach Kriminalromanen, die ich meiner Tochter vorlesen konnte, in diese Buchhandlung hier, damals hieß sie noch La Libreria del Mistero. Ich gehörte zu den Kunden der ersten Stunde. Eines Tages, ich stöberte mal wieder in den Regalen, lernte ich Nunzia kennen. Als sie den Leseklub ins Leben rief, nahm ich gern an den regelmäßigen Treffen teil, weil ich Rat suchte, um mich mit einem Genre vertraut zu machen, mit dem ich mich, wie gesagt, bisher noch nicht beschäftigt hatte.«
Nun näherte sich auch Poirot eifersüchtig auf der Suche nach Streicheleinheiten. Scalabrini legte den Hut aus der Hand und strich über das glänzende Fell des Katers. Mit den beiden Katzen auf dem Schoß wirkte er wie der unschuldigste Mensch auf der ganzen Welt. Montecristo und die anderen Anwesenden konnten kaum glauben, dass er wirklich sechs Menschen kaltblütig umgebracht hatte.
»Meine Frau wurde krank und ließ mich schließlich allein mit Sabrina zurück. Ich zog es vor, meine Tochter in eine Privatklinik zu verlegen. Jeden Tag besuchte ich sie und hatte mich schon dem Schmerz und dem düsteren Los ergeben, dass ich nie erfahren würde, was ihr zugestoßen war, was man ihr so Furchtbares angetan hatte, um sie in diese ewige Dunkelheit zu stoßen. In diese »endlose Nacht«, um aus einem der letzten Romane von Agatha Christie zu zitieren, die wir gelesen haben … Der zweite Schock traf mich, als ich dieses verdammte Tagebuch erhalten habe.«
Die bernsteinfarbenen Augen der Katzen richteten sich nun gespannt auf ihn.