An diesem Tag hatte er ihr Das Geheimnis des gelben Zimmers von Gaston Leroux mitgebracht, das gerade in einer neuen, eleganten Ausgabe erschienen war. Das war nicht nur ein vielleicht unübertroffener Kriminalroman, sondern auch eines von Nunzias Lieblingsbüchern, von dem sie früher einmal Ausgaben in allen Sprachen gesammelt hatte.
Montecristo sah ihr dabei zu, wie sie das Buch mit fragendem Blick in den Händen wendete. »Ist das ein guter Autor?«, fragte sie ihn dann.
»Na, das kann man wohl sagen.«
»Sie sind der erste Arzt, den ich kenne, der so ein begeisterter Krimileser ist.«
»Sagen wir mal so, eigentlich bin ich ja gar kein Arzt. Andererseits, doch: Tatsächlich heile ich mit Büchern.«
»Dann heilen Sie mich bitte.«
Du hast ja keine Ahnung, wie gern ich das tun würde, meine Liebe, dachte Montecristo.
»Für einen Arzt sind Sie ziemlich blass. Und Sie haben gerötete Augen. Arbeiten Sie zu viel?«
Montecristo schüttelte den Kopf. Er litt immer noch an den Nachwirkungen des Katers infolge der Verkündigung von Angela Dimases bevorstehender Hochzeit: Er hatte mit dem Trinken gemeinsam mit ihr auf der Terrasse über Calamosca begonnen, aber nachdem die zukünftige Braut gegangen war, hatte er weitergetrunken, bis das Lokal schloss. Es hatte jedoch alles nichts genutzt: Nach dem Aufwachen fühlte er sich noch miserabler als vorher.
»Nein. Es ist nur eine schwierige Zeit. Aber du hast uns, auch wenn dir das nicht bewusst ist, sehr dabei geholfen, einen Fall zu lösen.«
»Einen Fall? Aber ich verstehe doch gar nichts von Medizin. Wie kann ich Ihnen da geholfen haben, Dottore?«
»Das zu erklären ist etwas kompliziert … Wie geht es dir eigentlich?«
»Alt werden ist scheiße.«
Montecristo runzelte die Stirn und musste grinsen. »Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.«
»Außerdem weiß ich nicht, was diese zwei da von mir wollen.«
»Wer?«
Die alte Frau deutete auf etwas Unbestimmtes in der Zimmerecke. Vorsichtshalber sah Montecristo hin, aber wie immer war dort nichts.
»Ich habe keine Brille auf, Nunzia. Sag mir, was du siehst.«
»Zwei Megären. Ganz in Schwarz gekleidet. Sie flüstern, dass sie wegen mir gekommen sind … diese Schlampen.«
Montecristo sprang plötzlich auf, schrie theatralisch die nackte Wand an und wedelte dazu mit den Armen: »Hinfort von hier! Haut ab, ihr verfluchten Hexen. Lasst sie in Ruhe, ich will euch hier nicht mehr sehen!«
Nunzia war etwas erschrocken über diese ebenso unerwartete wie heftige Reaktion.
»Siehst du sie noch, meine Liebe?«, fragte er.
Die Präsidentin kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, um besser sehen zu können, dann jubelte sie: »Nein! Sie sind fort!«
»Na dann. Gut so.«
Da er wusste, dass Musik eine entspannende Wirkung auf ihre von der Krankheit angegriffene Psyche hatte, schaltete Montecristo das Transistorradio ein, in dem gerade »Alone Together« lief.
Nie hat ein Song besser gepasst, sagte er sich und überließ sich den melancholischen Seufzern von Chet Bakers Trompete.
Nunzia reichte ihm einen Zettel, auf den sie etwas geschrieben hatte. Montecristo setzte sich neben sie aufs Bett und las den Namen seines Schülers, Lorenzo, den sich die alte Frau mit unsicherer Handschrift notiert hatte.
»Wer ist das?«, fragte sie.
»Das ist ein Junge, der seine Eltern verloren hat.«
»Armes Kind … Wie geht es ihm?«
Montecristo dachte an seine letzte Begegnung mit dem Jungen nach Scalabrinis Verhaftung: Lorenzo stand nun nicht mehr unter Polizeischutz und war in die Obhut eines Onkels gegeben worden; als er seinem ehemaligen Schüler mitgeteilt hatte, dass der Mörder seiner Mutter gefasst worden war, war dieser in ein befreiendes Weinen ausgebrochen.
»Jetzt besser. Aber er hat eine schwierige Zeit vor sich. Es gibt da einiges, was er herausfinden wird, wenn er älter ist, und das wird sehr schwer zu …«
»Ich bin sicher, dass Sie ihm helfen werden. Nicht wahr, Dottore?«
»Aber sicher, meine Liebe.«
Die Präsidentin musterte sein Gesicht, und Montecristo hatte das Gefühl, dass sich der Nebel der Demenz in ihrem Kopf gelichtet hatte. Sie hob eine Hand und strich ihm zärtlich übers Gesicht, wie um seine Züge nachzuzeichnen. »Wissen Sie, dass Sie meinem Sohn sehr ähnlich sehen, Dottore?«
Montecristo nickte. »Aber ich bin dein Sohn, Mamma«, antwortete er leise mit schmerzerfüllter Stimme.
Sie hob überrascht eine Augenbraue und starrte ihn weiter an. »Nein, du bist nicht mein Sohn. Du ähnelst ihm sehr, das stimmt, aber du bist nicht er. Mein Sohn ist leider gestorben. Warum hast du so etwas Gemeines gesagt?«
»Weil es die Wahrheit ist«, erwiderte Montecristo, während ihm Tränen über die Wangen liefen. »Du erinnerst dich nicht mehr daran, aber ich bin Marzio, dein Sohn.«
Ein paar Sekunden lang musterte sie ihn verwirrt, dann gab sie ihm einen heftigen Klaps auf den Oberschenkel: »Hören Sie schon auf damit, sich über eine alte Frau lustig zu machen! Das ist grausam.«
Montecristo wischte sich das Gesicht mit dem Handrücken ab und bat sie um Verzeihung. Erst als sie begonnen hatte, ihn nicht mehr zu erkennen, hatte er sich entschieden, sie in diese Einrichtung zu bringen. Er hatte das Familienhaus verkaufen müssen, um sich bei seinem mageren Einkommen die Kosten für diese hervorragende Seniorenresidenz leisten zu können. Trotzdem fraßen ihn die Schuldgefühle jeden Tag auf, weil er sie hier untergebracht hatte, es fühlte sich an, als hätte er sie verlassen.
»Ja, verzeih mir, Nunzia«, entschuldigte er sich erneut mit bebender Stimme und schlüpfte wieder in die Rolle, die er inzwischen seit vielen, zu vielen Monaten spielte. »Das war ein geschmackloser Scherz. Es kommt nicht wieder vor.«
»Aber jetzt gehen Sie noch nicht, ja? Leisten Sie mir noch ein wenig Gesellschaft, Dottore. Zumindest bis zum Ende dieses Liedes.«
»In Ordnung«, sagte der Sohn und legte einen Arm um ihre schmalen Schultern. Dann sagte er ganz leise: »Mamma.«