Marzio Montecristo hatte zum ersten Mal geahnt, dass Emilio Musiu ein Geheimnis hütete, als er sich in einer seiner Mathematikstunden der Bank seines Schülers genähert hatte, um zu überprüfen, ob er die Aufgabe verstanden hatte. Er hatte sich über ihn gebeugt und ihm als fürsorgliche, aufmunternde Geste eine Hand auf den Rücken gelegt, so wie er es bei all seinen Schülerinnen und Schülern zu tun pflegte. Beim Kontakt mit der Hand des Lehrers hatte sich Emilios Gesicht in eine schmerzverzerrte Grimasse verwandelt, und der Junge war zusammengezuckt, fast so, als hätte er einen elektrischen Schlag erhalten.
Montecristo hatte ihn gefragt, ob alles in Ordnung sei, und der Junge hatte genickt. Doch in seinen Augen hatte er, neben dem Schmerz, Angst und Scham gelesen. Emilio war ein extrem zierlicher Junge, selbst für die erste Grundschulklasse. Er war sehr still und schüchtern und zeigte wenig Neigung, sich in den Klassenverband einzufügen.
Nach diesem Vorfall hatte Montecristo begonnen, diesen Schüler aufmerksamer zu beobachten. Bei zwei anderen Gelegenheiten war er an ihn herangetreten, um einen Blick in sein Heft zu werfen, mit demselben Ergebnis wie beim ersten Mal: Als er ihn berührte, reagierte er mit schmerzverzerrtem Gesicht und schreckte zurück wie ein wildes Tier, das verletzt und verängstigt ist.
Von da an war Montecristo überzeugt, dass er sich das nicht bloß einbildete: Der Junge verbarg etwas. Etwas Schlimmes. Daher hatte er mit den Kolleginnen gesprochen, ihnen seine Vermutungen geschildert und alles erzählt, was er selbst hautnah erlebt hatte. Auch andere Lehrerinnen hatten nun geäußert, dass sie ähnliche Erfahrungen mit diesem introvertierten und für sein Alter sehr stillen Kind gemacht hatten. Damals war Montecristo dreiunddreißig Jahre alt gewesen und seit knapp fünf Jahren Lehrer. In diesem Zeitraum war ihm nie etwas Ähnliches untergekommen, daher hatte er nicht gewusst, wie er sich verhalten sollte. Schließlich hatte er beschlossen, sich einer älteren und erfahrenen Kollegin anzuvertrauen. Und die hatte ihm geraten, die Eltern einzubestellen. Doch nur die Mutter war erschienen. Noch ehe die Frau den Mund auftat, hatte Montecristo angesichts der Sonnenbrille, die sie auch dort in dem Raum aufbehielt, der für die Treffen zwischen Eltern und dem Lehrpersonal vorgesehenen war, alles verstanden, was es zu verstehen gab.
Er war nicht gleich auf das Problem zu sprechen gekommen, sondern hatte eine Weile darum herum geredet, um einschätzen zu können, ob Emilios Mutter auf seiner Seite war oder nicht. Leider hatte sich die Frau absolut unempfänglich für seine Sorgen gezeigt. Empört über die verdeckten Anschuldigungen des Lehrers hatte sie ihn ohne Umschweife aufgefordert, sich gefälligst um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern und sie für so einen Unsinn nicht mehr zum Gespräch zu bitten, sonst werde sie den Sohn von der Schule nehmen.
Montecristo hatte innerlich gekocht vor Wut, doch er hatte nichts weiter unternehmen können.
In den folgenden Wochen war das Kind im Klassenraum noch stiller geworden. Und nicht nur das: Er wurde immer unkonzentrierter und melancholischer. Montecristo hatte versucht, mit ihm darüber zu reden in der Hoffnung, dass er sich etwas öffnen würde, aber der Junge hatte ihn immer wieder zurückgewiesen. Das hatte er früher nie gemacht, fast war es, als hätten die Eltern ihm eingetrichtert, wie er sich Lehrern und Mitschülern gegenüber verhalten sollte.
Montecristo war kein Mann, der in so einer Situation gleichgültig bleiben konnte. Deshalb hatte er um ein Gespräch mit der Schulleiterin gebeten, in dem er seinen Verdacht mitteilte. Auch die Rektorin war keine Person, die bei einem solchen Fall wegschaute. Die beiden hatten sich über das weitere Vorgehen abgestimmt, und am folgenden Tag war die Schulleiterin ohne Ankündigung in die Klasse gekommen, um sich mit den Kindern zwanglos zu unterhalten. Sie hatte mit jedem Kind aus der Klasse ein paar Worte gewechselt, und als Emilio an der Reihe war, hatte sie ihm einen leichten Klaps auf den Rücken gegeben. Der Junge hatte aufgejault wie ein kleiner Hund, der getreten worden war. Da hatte die Rektorin ihn aufgefordert, sie zu den Waschräumen zu begleiten, wo sie ihn zusammen mit einer Lehrerin gebeten hatte, sich den Schulkittel und das T-Shirt auszuziehen. Der Junge hatte sich geweigert. Erst als die Schulleiterin lauter im Ton geworden war, hatte Emilio unter Tränen gehorcht.
Wenige Minuten später hatte die Rektorin den Mathematiklehrer dazugebeten. Montecristo war heftig erschrocken: Der Rücken des Jungen war übersät mit Prellungen und bläulichen Hämatomen, ebenso Teile der Arme und des Gesäßes; an den Rippen konnte man die Narben von einer Gürtelschnalle sehen. Ganz leise und so ruhig wie möglich hatte er den Jungen gefragt, wer ihm das angetan habe, obwohl er in Wirklichkeit die Antwort schon kannte. Emilio hatte jedoch behauptet, dass niemand ihn geschlagen habe: Er sei im Garten hingefallen, als er mit dem Hund spielte.
Montecristo hatte mit der Schulleiterin einen traurigen Blick gewechselt, und diese hatte ihn gebeten, den Schüler zurück in die Klasse zu bringen.
Die Rektorin hatte sich daraufhin an den Sozialdienst gewandt und die Situation geschildert, sie hatte darauf hingewiesen, dass sie und Montecristo nach dem Prinzip des übergeordneten Interesses des Minderjährigen und nach ihrem Gewissen gehandelt hätten. Die Sozialarbeiterinnen hatten versichert, dass man sich des Falles annehmen würde, und hatten das Jugendamt eingeschaltet.
In der folgenden Woche war Emilio nicht einen Tag zur Schule gekommen. Besorgt hatte Montecristo bei den Musius zu Hause angerufen. Die Mutter hatte ihm gesagt, dass der Junge krank sei, und dann einfach kommentarlos aufgelegt.
Am nächsten Montag brachte die Mutter den Jungen zur Schule, wo Montecristo am Eingang bereits auf sie wartete. Wieder hatte die Frau eine Sonnenbrille auf. Ohne ein Wort zu sagen, war er auf sie zugegangen, hatte ihr diese mit einer raschen Bewegung von der Nase gerissen und so das blaue Auge darunter zum Vorschein gebracht. Die Frau hatte ihn beschimpft und sich hastig zum Gehen gewandt, doch er hatte sie an einem Arm gepackt und gezwungen, sich umzudrehen und ihm in die Augen zu sehen.
»Richten Sie Ihrem Mann aus, dass er zum letzten Mal Hand an Sie und Ihren Sohn gelegt hat. Falls er es noch einmal versucht, wird er dafür büßen. Das hier ist meine Nummer«, hatte er gesagt, während er eine Visitenkarte in ihre Handtasche gleiten ließ. »Falls Sie Angst haben, falls Sie Hilfe brauchen, falls Sie nicht die Polizei rufen wollen, dann rufen Sie bei mir an. Das muss aufhören. Wenn Sie Ihren Sohn lieben, dann können Sie so etwas Schreckliches nicht zulassen.«
Die Frau hatte sich aus seinem Griff befreit und war wortlos weggerannt.
Am nächsten Tag war Emilio wieder nicht zum Unterricht gekommen. Auch nicht am übernächsten. Ebenso wenig am Tag darauf. Montecristo hatte die Sozialarbeiterinnen benachrichtigt, die ihm versichert hatten, dem Amtsrichter einen Bericht mit dem Verweis auf dringenden Handlungsbedarf vorgelegt zu haben.
Nachdem Emilio eine Woche lang dem Unterricht ferngeblieben war, hatte Montecristo seine alte Freundin Angela Dimase angerufen und ihr alles erzählt. Eine erste Recherche über den Vater des Jungen hatte keine Hinweise auf frühere Vorkommnisse ergeben: Der Mann hatte eine makellose Führungsakte, die Ehefrau hatte ihn wohl niemals angezeigt. Noch am selben Abend hatte die Polizistin sich zusammen mit Ispettore Caruso, ihrem Vorgesetzten, zum Haus der Musius begeben. Caruso war sehr hellhörig bei Fällen von Gewalt gegenüber Minderjährigen und hatte den informellen Hinweis des Lehrers sehr ernst genommen. Doch die Musius waren nicht zu Hause gewesen. Die beiden Polizeibeamten hatten Montecristo versichert, dass sie es am nächsten Tag erneut versuchen wollten und sich der Angelegenheit persönlich annehmen würden. Aber das war nicht nötig gewesen: Am nächsten Tag war der Junge wieder in der Schule erschienen, diesmal in Begleitung eines eleganten Herrn in Anzug und Krawatte. Sein Aussehen hätte nicht weiter von der allgemeinen Vorstellung eines gewalttätigen Ehemanns und Vaters entfernt sein können. Wie jeden Morgen hatte der Lehrer am Eingang der Schule gestanden und seine Schülerinnen und Schüler begrüßt. Sobald Emilio aus dem Auto gestiegen war, war er zu ihm gegangen und hatte ihm den Schulkittel mit schnellen, brüsken Bewegungen vom Leib gerissen. Der Vater hatte ihn angeschrien und versucht, ihn daran zu hindern. Montecristo hatte ihn zurückgestoßen. Dann hatte er dem Jungen das T-Shirt hochgezogen, und beim Anblick von neuen und noch zahlreicheren Blutergüssen auf dem kleinen Rücken hatte sein Verstand ausgesetzt, und der animalische Teil in ihm hatte die Oberhand gewonnen.