Irgendwo über Galicien ging die Sonne auf. Sie hatte sich als rote Sichel gezeigt, ganz hinten, dort, wo das Mittelmeer sein musste. Unter ihnen war der Ozean, Maurice sah ihn aber nicht. Mittlerweile flogen sie über ein Bett aus weißen Wolken. Eben war er erwacht, nachdem er gleich nach dem Start in Charles de Gaulle eingeschlafen war.

Die Aufregung, die Maurice in diesem Moment erfasste, hielt an, als die Maschine auf der Landebahn aufsetzte und dann mit großem Getöse eine wilde Bremsung eingeleitet wurde. Als er wenig später seinen Koffer über die Gangway schob, fühlte er die Aufregung noch immer, und auch als er in der U-Bahn saß, die ihn ins Zentrum brachte, konnte er sich nicht beruhigen. Sie fühlte sich an wie ein Bienennest in seinem Bauch, aber es war ein schönes Gefühl, das ihn wärmte und von dem er sich wünschte, dass es nicht wieder verschwand. Nie wieder.

Er stieg in die alte Straßenbahn der Linie 1, die sich gleich darauf rumpelnd in Bewegung setzte. In jeder Kurve quietschte es, doch er genoss die Exotik des historischen Gefährts genau wie den Geruch des alten Holzes und des Leders der Sitze. Der Blick hinaus auf den Fluss war phänomenal. Die alte Bogenbrücke querte den Douro, drüben in Vila Nova de Gaia leuchteten die weißen Häuser und die roten Dächer der Portweinlager um die Wette. Schnittige hölzerne Jollen schaukelten auf dem Fluss, der immer breiter wurde, je näher die Straßenbahn dem Atlantik kam.

Das Fenster über Maurice stand offen, so strömte die heiße

Immer wieder waren da Angler, ihre silbernen Ruten ragten ins Wasser, die Sehnen so dünn, dass sie nur als schillernde Striche zu erkennen waren. Maurice griff in das kleine Fach an seiner Tasche und nahm den Brief heraus, der zwei Tage vorher angekommen war. Er war so wichtig wie ihr erster. Ohne den ersten keine Begegnung, ohne diesen hier keine Zukunft. Und keine Erklärung für die Vergangenheit.

Cher Maurice,

 

ich habe auf dich am Bahnhof gewartet, vorgestern, am Mittwoch. Ich habe den alten Hénaff in seinem Wagen sitzen sehen, als wäre nichts gewesen.

 

Für die Menschen in Cancale ist es auch so, als sei nichts gewesen. So ist das in der Bretagne. Wenn sie unzufrieden sind, machen sie ihren Standpunkt klar. Ob das etwas ändert oder nicht. In beiden Fällen geht dann das Leben weiter. Du wirst es nicht verstehen, du bist nicht von hier. Ich auch nicht. Vielleicht verstehe ich es ja auch nicht.

 

Ich habe dich da gesehen am vorletzten Mittwoch auf der Hafenstraße. Ich konnte aber nicht stehen bleiben. Es war einfach zu gefährlich – für uns beide. Dass es dir komisch vorgekommen sein könnte, habe ich erst gemerkt, als du nicht kamst, an diesem Mittwoch. Ich bin fast verrückt geworden vor Schmerz. Dabei wollte ich dir an diesem Tag auf einer Fahrt zur Pointe du Grouin alles erzählen. Die Felsenbucht ist ein herrlicher Ort, um Vögel zu beobachten und um sich zu lieben. Ich wollte dir dort alles über mich erzählen. Die Wahrheit. Endlich. Um hinterher zu sehen, ob du es so fühlst wie ich.

 

 

Wir kennen uns.

Schon sehr lange.

 

Wenn ich das jetzt schreibe, wirst du mich verstehen, auch wenn du vielleicht meinst, ich hätte dich verraten. Aber so war es nicht. Ich musste mir sicher sein. Jetzt bin ich es.

 

Carole war meine Schwester. Du hast ihr den schönsten Sommer ihres Lebens beschert. Das habe ich schon bemerkt, als ich euch zusammen gesehen habe. Wir waren nicht auf diesem Campingplatz am Meer wie ihr mit eurer Gruppe von der katholischen Jugend. Ich war noch zu klein, wir waren in der Nähe in einer kleinen Pension. Ich war viel am Strand, ich habe die Zeit mit Maman und Papa genossen. Aber ich war auch dreimal dort, bei euch, auf dem Zeltplatz, mit meinen Eltern, als wir meine Schwester besuchten. Ich war elf. Ich habe Carole nie wieder so glücklich gesehen wie mit dir an der Hand.

 

Weißt du, ich bin froh, dass du nicht nach ihr gesucht hast. Es hätte dir das Herz gebrochen, wie es meines gebrochen hat.

 

Es war ihr letzter Sommer. Sie ist im Winter im Eis eingebrochen, oben auf einem See in den Ardennen, ganz nah bei der Stadt. Es war ein strahlender Tag, sonnig, kalt, klar, ein Tag, den wir beide geliebt haben. Sie wollte Schlittschuh laufen, ich wollte lieber mit meiner besten Freundin spielen. Sie war mit zwei ihrer Freundinnen dort. Sie haben beide überlebt, aber für Carole waren die Pompiers zu spät, sie haben sie nicht mehr lebend herausholen können. Sie ist erfroren, ertrunken in diesem See. Ich habe jahrelang geweint. Aber irgendwann Trost gefunden bei dem Gedanken, dass

 

Als ich viele Jahre später sehr krank wurde, wäre auch ich fast gestorben. Aber ich wusste, dass das nicht sein darf. Ich habe gekämpft. Die Narbe zeugt davon. Du hast mich nie danach gefragt. Ich bin mir aber sicher, dass wir noch darüber gesprochen hätten. Du wolltest mir wohl den Raum lassen.

 

Ich habe das Foto von euch beiden gehütet wie einen Schatz. Es war in ihrem Zimmer versteckt. Das Foto am Strand. Carole & Maurice. Sie hatte es mit Filzstift auf die Rückseite geschrieben.

 

So habe ich dich gleich erkannt, als du ins Hotel kamst.

Maurice. Maurice. So hat sie dich immer genannt.

 

Maître van der Berge. So hießest du plötzlich.

Ich habe es nicht fassen können. Als ich den Namen bei der Reservierung las, bin ich zusammengezuckt, wie immer, wenn er mir begegnet ist. Aber als ich dich dann sah, da musste ich mich festhalten. Lieber Gott, was hast du mit mir vor, habe ich gebetet.

 

Ich habe dich gesehen und gespürt, was Carole gespürt haben muss.

Ich hoffe, das ist nicht anmaßend.

 

Aber es war so. Ich habe mich in dich verliebt. In der ersten Sekunde.

Mehr Macht kann das Schicksal nicht haben. Diese zweite Chance, die Carole uns von dort oben schenkt. Denn das weiß ich sicher: Es ist ihr Geschenk an uns.

 

 

Ich könnte jetzt viel erklären.

 

Aber dafür haben wir so viel Zeit.

 

Ich will mit dir leben.

Ich hoffe, du willst das auch.

 

Ich sehe dich in Porto. Am Mittwochmittag.

Am Strand von Foz. Es ist der Strand des Lichts.

 

Bis dann. Ich liebe dich.

Deine Dominique

Er hatte recht gehabt. Mit so vielem. Ohne es zu ahnen. Er hatte sie erkannt, ohne darauf zu kommen. Am Strand, als sie auf dem Felsen lagen. Die Wildheit in ihren Augen, die denen ihrer Schwester so ähnlich waren. Ihre Traurigkeit, als er über Carole gesprochen hatte. Ihre Traurigkeit und ihre Rührung. Die Vergangenheit und die Zukunft.

Am Passeio Allegre stieg er aus, weiter fuhr die Straßenbahn nicht. Er ging durch einen kleinen Park, hinter dem die typischen Häuschen der Stadt standen, niedrige Bauten mit bunten Fensterkreuzen, die Wände waren mit Azulejos besetzt oder fein ziseliert. Als er die Praia das Pastoras erreichte, musste er einen Moment innehalten vor Überraschung. Darüber, wie aus dem Flüsschen Douro einfach so der Ozean geworden war – mit welchem Krachen die Wellen hier heranpflügten, Naturgewalten mit Sonnenglitzer obenauf.

Er erreichte Praia da Luz vor der Zeit. Also zog er am Strand die Schuhe aus und stellte sie hinter die hohe Mauer in den Schatten. Die Socken stopfte er hinein. Am Ufer krempelte er die Hosen hoch und machte einen großen Schritt ins Wasser. Eisige Wellen mitten im Sommer. Sie umfingen seine Füße, sodass er schneller atmete. Er spürte die Frische, das Kitzeln. Er musste lachen. Endlich. Maurice lachte und lachte, er konnte gar nicht mehr aufhören. Ein kleines Kind neben ihm sah ihn erst merkwürdig an, und dann lachte es einfach mit. Er musste die Augen mit der Hand beschirmen, weil er das Schiff draußen am Horizont erkennen wollte, als er hinter sich ihre Stimme vernahm.

»Maurice, Liebster …«