GOLDENER SCHATTEN

Familie. Was ist Familie? Für dich ist das womöglich einfach: Familie sind die Menschen, deren Blut durch deine Adern fließt. Oder zumindest die, die dazugehören. Bei mir ist das etwas anders. Ich hatte den Großteil meines Lebens eine Familie, mit der ich nicht blutsverwandt war. Eine Familie, mit der ich durch wichtigere Dinge als einfach nur Blut verbunden war. Viele Menschen, mit denen ich etwas ganz Besonderes teilte. Menschen mit denselben Ansichten, Werten und Lebensinhalten wie ich. Ein Glaube, dazu bestimmt, eine Einheit zu schaffen, die sich von allen anderen unterscheidet. Ein Glaube, der mehr ist als nur das. Ein Glaube, der mein ganzes Leben formte. Dieser Glaube verbindet Menschen aller Nationen, aller Ethnien und aller Bildungsniveaus. Dieser Glaube ist die Wahrheit. Die einzige Wahrheit. Denn wir wurden von Gott auserwählt und zu seiner Nation ernannt. Eine große irdische Familie, vereint im Glauben an Jehova Gott und seinen Sohn Jesus Christus. Erschaffen und auserwählt, um Gottes Willen auf Erden auszuführen, Menschen zu retten und seine Botschaft zu verkündigen. Denn Harmagedon, der Krieg Gottes, bei dem die Welt gesäubert und eine neue Ordnung entstehen wird, kommt bestimmt, und nur die treuen Diener Gottes werden diese große Schlacht überleben. Meine Glaubensfamilie und ich gehörten dazu.

Aber abgesehen von meinen Glaubensschwestern und -brüdern hatte ich noch eine echte Familie. Die, denen eine Religion, ein Beruf oder eine Haarfarbe nichts ausmacht. Die, die einem ein Muttermal mitgeben, unangemeldet auftauchen und die sich normalerweise nicht verschrecken lassen von seltsamen Lebensphasen oder mehrmaligem Danebenbenehmen. Eine Familie eben. Verbunden durch Blut anstatt durch den heiligen Geist.

Zwar sind diese Familienverhältnisse heute kompliziert, aber das war nicht immer so. Die ersten Jahre meines Lebens war ich wahrscheinlich ein recht glückliches Kind. Wahrscheinlich? Vieles aus meiner Kindheit existiert nicht mehr. Nicht in meiner Erinnerung und nicht in meinem Herzen. Und das ist gut so. Aber ein paar Erinnerungen sind geblieben. Als meine Eltern noch verheiratet waren, verbrachte ich viel Zeit mit ihnen. Diese Momente waren für mich wunderschön. Meine Eltern waren die Einzigen in unserer Familie, die ihr Leben streng nach der Bibel und ihren Lehren gestalteten. Mein Vater interessierte sich in jungen Jahren für die Bibel und fand Gefallen an der engen Gemeinschaft und dem Zusammenhalt von Jehovas Zeugen. Er war schon immer ein fröhlicher, aufgeschlossener Mensch und fand dort schnell Freunde. Als er meine Mutter im Zeichenzirkel kennenlernte und sie später viel Zeit verbrachten, begann auch sie sich für die Wahrheit zu interessieren. Da es Jehova Gott wichtig ist, nur im Herrn zu heiraten, war das ein Pluspunkt. Mein Vater wollte sich an die Regeln der Organisation halten und wählte somit eine Frau, die dem Glauben aufgeschlossen war und sich später ebenfalls taufen ließ. Meine Mutter ging ekstatisch in der Religion auf, während mein Vater immer etwas entspannter war. Irgendwann nach der Hochzeit kam dann ich.

Der Rest der Familie hielt nicht viel vom Glauben meiner Eltern und schon gar nichts davon, dass sie mich so erzogen. So bekam ich Geburtstags- und Weihnachtsgeschenke von meiner Großmutter und meinem Großvater, auch wenn meine Mutter versuchte, das zu unterbinden. Der Glaube an Jehova war ihr Lebensinhalt geworden, und sie wollte auch mich streng nach den Lehren der Bibel erziehen. Sie sagte meinen Großeltern, dass wir doch solche Feste nicht feierten und sie mir nichts schenken sollten, aus Respekt vor unserer Religion. Daraus wurden des Öfteren hitzige Diskussionen, bei denen meine Großeltern den Standpunkt vertraten, man könne mich nicht darunter leiden lassen, dass meine Eltern sich eine fragwürdige Religion ausgesucht hätten. Zum Glück hielten sich meine Großeltern nicht an die Vorschriften meiner Mutter zum Thema Geschenke. Als Kleinkind bekam ich von ihnen einen Ball, der aussah wie ein Marienkäfer, und von da an hießen die Eltern meiner Mutter für mich nur noch Balloma und Ballopa.

Seit ich lesen konnte, liebte ich Bücher. Wie schön für mich, dass mein Großvater seinen Elektroladen neben einer Buchhandlung hatte. Wenn ich ihn besuchte, ging ich oft nach nebenan und stöberte in den neuen Kinderbüchern. Ein Buch hatte es mir besonders angetan: Hexe Lilli und der Ritter auf Zeitreise von Knister. Das Problem an diesem Buch war die Hexe Lilli. Denn Hexe Lilli ist, wie der Name schon sagt, eine Hexe, und Hexen gibt es doch eigentlich nicht. Ich war acht Jahre alt, war fasziniert von dem Buch mit dem spannenden 3D-Einband und wollte es unbedingt haben. Also hat Ballopa mir das Buch gekauft. Ich war überglücklich und begann sofort damit, die Abenteuer von Hexe Lilli und dem verrückten Ritter Don Quichotte auf seinem Pferd Rosinante zu lesen. Als meine Mutter dann das Buch sah, war sie alles andere als begeistert.

»Hexen stehen nicht im Einklang mit der Bibel und sind eine Erfindung Satans«, sagte sie. »So etwas zu lesen schadet deinem christlichen Glauben, denn Spiritismus ist ein Hauptinstrument des Teufels.« Sie sah mich mit großen Augen an, und auf ihrer Stirn bildeten sich Falten. Erst in diesem Moment wusste ich, dass ich einen Fehler gemacht hatte, und fühlte mich etwas schlecht. In unseren Versammlungen hatte ich schon ab und zu etwas von Spiritismus gehört, aber ich wusste nicht, was es bedeutete, und dachte nicht, dass ich beim Lesen eines Buchs etwas falsch machen könnte. Es war doch so witzig und ganz und gar nicht böse. Ja, ich hatte eine Riesenangst vor Satan und seinen Dämonen, doch ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass sie mich mit diesem tollen bunten Buch ködern wollten.

»Aber ich mag die coole Lilli mit ihrem kleinen Drachen und dem witzigen zerstreuten Ritter«, protestierte ich. »Was soll denn daran falsch sein? Das ist doch nur eine Geschichte. Sie ist eigentlich ein normales Mädchen wie ich und erlebt lustige Abenteuer. Ich weiß doch, dass das erfunden ist.«

Meine Mutter seufzte.

»Mama, die Hexe ist nicht böse, sondern lustig. Außerdem hat Opa mir das Buch geschenkt. Warum darf ich das nicht lesen?«

Abermals seufzte meine Mutter und sagte mir, wir würden später noch mal darüber reden, sie müsse erst mal mit Opa sprechen. Dann verließ sie mein Kinderzimmer und schnappte sich das schnurlose Telefon. Der arme Ballopi tat mir leid, ich wollte nicht, dass er wegen mir Ärger mit Mama bekam. Ich fühlte mich schlecht, weil ich nicht darüber nachgedacht hatte, als ich mir ausgerechnet dieses Buch ausgesucht hatte. Vielleicht hätte ich doch einfach eines mit Pferden nehmen sollen, dachte ich. Aber ein paar Minuten später war mein schlechtes Gewissen vergessen, und ich las weiter in meinem Hexe-Lilli-Buch, damit ich die Geschichte noch zu Ende schaffte, falls meine Mutter es mir später wegnehmen wollte.

Mein Ballopa kaufte mir in der nächsten Zeit noch mehr Lilli-Bücher, es war ihm wohl gelungen, sich durchzusetzen. Trotzdem passte ich von nun an besser auf meine Bücher auf und versteckte sie vorsichtshalber ganz unten im Schrank. Ich wollte keinen Ärger von meiner Mutter oder dass sie sich wieder mit meinem Großvater stritt. Ich wollte einfach nur lesen.

Im Winter war ich oft bei meiner Balloma, und wir haben zusammen Plätzchen gebacken. Weihnachtsplätzchen. So haben sie zumindest die anderen Kinder in der Schule genannt, aber für mich waren es einfach nur Plätzchen. Ich stanzte den Lebkuchenteig mit den Backformen aus und bemalte die Kekse mit einer besonderen Zitronenglasur, wenn sie aus dem Ofen kamen und noch nicht ganz abgekühlt waren. Das Geheimrezept war von meiner Urgroßmutter, und ich freute mich jedes Jahr darauf. Im Haus meiner Großeltern standen in fast jedem Fenster erzgebirgische Schwibbögen, und handgeschnitzte Räuchermännchen füllten das Haus mit einem beruhigenden Duft. Es war Tradition, nicht nur bei meinen Großeltern. Wenn ich manchmal im Winter draußen und schon nachmittags alles dunkel war, sah ich in den vielen Fenstern fremder Leute die Schwibbögen stehen. Große, kleine, mit Kerzen oder elektrischen Lichtern beleuchtete Schwibbögen. Erzgebirgische handgeschnitzte Holzkunst.

Einmal fragte ich: »Oma, warum feiern du und Opa eigentlich Weihnachten und wir nicht?«

»Du weißt doch, mein Kind, deine Eltern sind Zeugen Jehovas und wir nicht.« Nun seufzte meine Großmutter.

»Aber glaubt ihr denn nicht an Gott?«, fragte ich.

»Doch, natürlich, wir sind Christen, und wir gehen auch manchmal in die Kirche. Besonders gern an Weihnachten, da gibt es einen schönen geschmückten Baum.«

Nachdenklich schaute ich meine Balloma an: »Aber meine Eltern sagen, dass das mit dem Baum und den Heiligen Drei Königen alles gar nicht stimmt und falsch ist. Und die anderen in der Versammlung sagen das auch.«

Eine Weile musste meine Großmutter überlegen, bevor sie antwortete, schaute vorher noch in den Ofen und überprüfte die Plätzchen. Dann sagte sie: »Deine Eltern glauben etwas anderes als wir. Sie glauben, dass nur ihr überlebt, wenn ein Weltuntergang kommt, und wir sterben, weil wir die falsche Religion haben. Wir glauben, dass wir nach dem Tod in einen Himmel kommen, aber ihr glaubt das nicht. Das ist aber nur ein Beispiel. Wir müssen das akzeptieren, aber trotzdem haben wir euch lieb. Auch wenn deine Mutter oft versucht, uns zu überreden, oder es etwas Zank gibt, wenn wir dir etwas schenken. Aber du freust dich doch darüber, oder nicht?«

»Ja, sehr, Omi.«

»Na siehst du. Mir ist es wichtig, dass die Familie zusammenhält, egal wer was glaubt.«

»Und warum glaubst du nicht das, was wir glauben, Omi?«

Meine Großmutter lachte und schüttelte dann den Kopf. »Nein, das ist mir alles viel zu streng.«

Der Geruch der Plätzchen erfüllte die Küche. Er lenkte mich von dem ab, was ich eben gehört hatte. Irgendwie klang es beunruhigend, aber ich konnte nicht verstehen, warum es so war.

Meiner Balloma war das Zusammensein mit der Familie immer sehr wichtig gewesen. Sie sorgte dafür, dass eine angenehme Stimmung herrschte, es wurde in ihrer Gegenwart kaum gestritten, auch wurde der andere nie ignoriert, egal, was er dachte und sagte. Dabei ließen sich in meiner Familie die unterschiedlichsten Charaktere ausmachen. Sie legte Wert darauf, dass alle zu bestimmten Anlässen an einem Tisch saßen, miteinander redeten und zusammen den liebevoll gekochten Braten aßen. Mit ihrem Tod starb diese Tradition.

Manchmal bin ich mir nicht sicher, ob mich meine kindliche Erinnerung trügt und ob diese Familientreffen wirklich so harmonisch abliefen, wie ich es im Gedächtnis habe. Im Vergleich zu allem, was danach geschah, wirken diese Gedankenfetzen fast unglaubwürdig süßlich und irreal. War damals wirklich alles gut, oder war ich nur zu klein, um die Probleme zu bemerken, die vielleicht schon wie ein regenschwerer Himmel über dem Familiensegen hingen?

Ich war in einem Alter, in dem man sich noch darauf ausruhen konnte, ein Kind zu sein. Natürlich wussten alle von meinem Glauben, auch meine Mitschüler und die Lehrer.

Glücklicherweise erwartete noch niemand von mir, mich den Erwachsenen zu widersetzen, wenn etwas im Widerspruch zu dem Glauben meiner Eltern stand. Sicher, es war auch mein Glaube, aber noch sah ich es nicht so. Ich fand es toll, wenn mir Freunde etwas zu meinem Geburtstag schenken wollten oder wenn meine Großmutter mich dazu aufforderte, bunte Glaskugeln an ihren Weihnachtsbaum zu hängen. All die verbotenen Sachen waren absolut aufregend und machten ungeheuer Spaß. Und ich bekam auch kaum Ärger, denn meine Eltern gaben nicht mir die Schuld, sondern meinen Großeltern. In ihren Augen war ich noch zu klein, um Rechenschaft ablegen zu müssen. Leider konnte ich mich nicht ewig hinter meinen ungläubigen Familienmitgliedern verstecken, denn immerhin studierte ich inzwischen die Bibel und besuchte mit meinen Eltern, seit ich mich erinnern kann, die Zusammenkünfte der Zeugen Jehovas.

Wir trafen uns zweimal pro Woche im Königreichssaal in unserem Nachbarort und einmal pro Woche zum Buchstudium. Der Königreichssaal ist ein Anbetungshaus, wie bei Christen die Kirche. Unsere Versammlung bestand ungefähr aus 120 Verkündigern. Zu jeder Zusammenkunft kamen immer alle adrett gekleidet, Frauen in Röcken und Männer in Anzügen, so wie Jehova es verlangt. Das Gebäude, in dem unsere Ortsversammlung regelmäßig zusammenkam, verfügte über zwei große Säle mit kleinen angrenzenden Räumen, die »zweite Klasse«, die durch eine Glaswand einen Blick in den Hauptsaal hatte. Im Foyer gab es eine große Garderobe und einen riesigen Eingangsbereich, in dem an Pinnwänden die Neuigkeiten für jede Ortsversammlung hingen. In der oberen Etage gab es eine Bibliothek, natürlich nur mit Literatur, die von der Wachtturm Bibel- und Traktat-Gesellschaft der Zeugen Jehovas e. V. herausgegeben wurde, also von Jehovas Zeugen. Wer denkt, dass diese Veröffentlichungen nicht mehr als ein Bücherregal, geschweige denn eine ganze Bibliothek füllen könnten, täuscht sich. Mehrere hundert Bücher haben Jehovas Zeugen schon veröffentlicht, dazu kommen Broschüren und Zeitschriften. Allem voran natürlich der Wachtturm, die auflagenstärkste Zeitschrift weltweit, mit, laut eigener Angabe auf jw.org, über zweiundvierzig Millionen Ausgaben pro Auflage, die seit 1879 ohne Unterbrechung erscheint. Erwachet! ist die zweite Zeitschrift von Jehovas Zeugen, mit einundvierzig Millionen Exemplaren pro Ausgabe rangiert sie weltweit auf Platz zwei. Da diese Zeitschriften in über 230 Ländern und Territorien angeboten werden, sind sie in fast jeder Sprache verfügbar. Die anderen Bücher und Broschüren werden ebenfalls regelmäßig überarbeitet und neu aufgelegt. Dazu kommen auch neue Veröffentlichungen. Es war für uns immer ein besonderes Highlight, wenn zu den Kongressen neue Publikationen veröffentlicht wurden, und ich wollte immer eine der Ersten sein, die ein Exemplar eines neuen Buchs oder einer Broschüre in den Händen hielt.

Das Buchstudium war, wie der Name schon sagt, das Studium eines der von Jehovas Zeugen veröffentlichten Bücher. Dazu wurde die Versammlung in Gruppen von Verkündigern, die in derselben Region wohnten, unterteilt, die sich einmal pro Woche trafen, um ein paar Abschnitte aus dem Buch, welches einem helfen soll, die Lehren der Bibel besser zu verstehen, gemeinsam zu studieren. Sobald ein Buch fertig studiert war, kam das nächste dran. Irgendwann wurden diese Gruppen vonseiten der Organisation aufgelöst, und das Buchstudium fand von nun an gemeinsam für alle Verkündiger als Programmpunkt zu den regulären Zusammenkünften statt. Die Vorbereitung auf die einzelnen Programmpunkte nahm immer viel Zeit in Anspruch.

Oft war ich unruhig, weil ich nicht so lange stillsitzen wollte und die ganzen schwierigen Wörter nicht verstand. Manchmal malte ich nebenbei, aber das fand meine Mutter gar nicht lustig. Sie ermahnte mich, immer aufmerksam zu sein, schließlich ging es um mein ewiges Leben. Vieles von dem, was ich lernte, verstand ich nicht richtig. Die Geschichte von Gottes Volk Israel, die schwierigen Namen der Propheten und Könige und die seltsamen Formulierungen der Bibel. Da es vielen Kindern so ging, gab es eine Veröffentlichung, die Eltern helfen sollte, die Wahrheit besser ins Herz ihrer Kinder zu pflanzen: Mein Buch mit biblischen Geschichten. Dieses bebilderte Buch behandelte kurz die wichtigsten Bibelinhalte für Kinder. Wir sollten verstehen, wie Gott die Erde schuf, warum eines seiner Geschöpfe plötzlich zu Satan, dem Teufel, wurde und wie wir aus den Fehlern all derer lernen, die Jehova seit Beginn der Menschheitsgeschichte enttäuscht und verraten haben. Stattdessen sollten wir uns an seinen treuen Dienern – Moses, Hiob, Rahab oder den Aposteln – ein Beispiel nehmen, um schließlich Jesus, seinen Sohn, der nur für uns gestorben ist, nachzuahmen. Das Buch endete mit der großen Schlacht um Harmagedon und der neuen Weltordnung danach. Alle treuen Diener Gottes leben endlich in einem Paradies auf der Erde, ohne Trauer, Tod und Krankheiten. Ein Happy End.

Ich las sehr oft in diesem Buch, aber ein paar Kapitel machten mir auch furchtbare Angst. Die Spezies der bösen Nephilim, eine Kreuzung aus Engel und Mensch, die auf der Erde als gewalttätige Riesen lebten. Lots Frau, die zur Salzsäule erstarrte, als sie sich umdrehte, während Sodom und Gomorra in der Ferne untergingen. Oder die Vergewaltigung von Dina, einer Israelitin, die sich die falschen Freunde suchte. Die Bilder waren grausam und so Furcht einflößend, dass ich manchmal nachts Albträume von ihnen bekam. Aber meine Mutter versicherte mir, dass ich nichts zu befürchten hätte, wenn ich mich nur brav an Gottes Gebote hielte. Dann würde mir die Hoffnung auf das Paradies bevorstehen, und ich könnte dort für immer glücklich leben, ohne jemals zu sterben. Das wollte ich unbedingt. Die Bilder vom Paradies waren bunt und wunderschön. Viele Bäume mit Früchten, überall lachende Menschen und ganz viele zahme Tiere. Das wollte ich mir auf keinen Fall kaputtmachen, indem ich Jehova enttäuschte, weil ich unüberlegt etwas täte, was ihm nicht gefiele. Letztlich wusste ich schon sehr früh in meinem Herzen, was falsch und was richtig war.

Das spürte ich auch bei einem anderen Erlebnis, das lange Zeit düster und dunkel in der hintersten Ecke meines Kopfes versteckt war. Verpackt in einer Schachtel mit der Aufschrift »Nicht öffnen!«. Aber diese Erinnerung drängte nach vorn, wurde dominant und damit unauslöschlich. Es war das erste Mal, dass ich tiefe Trauer in mir wahrnahm, nicht nur einen Moment flüchtigen Traurigseins. Es war ein Gefühl, das für Erwachsene bestimmt ist, nicht für Kinder. Ich besuchte erst die zweite Klasse, und in meiner kleinen Welt gab es eigentlich keinen Grund, eine solche Verstörung zu empfinden. Bisher war ich unbeschwert gewesen. Doch dann kam dieser Abend.

Ich lag in meinem Bett und hörte meine Eltern in der Küche streiten. Draußen war es dunkel, die Rollos waren heruntergezogen, und ich hätte schon längst schlafen sollen. Nur konnte ich einfach nicht einschlafen. Es war unmöglich. Mein Zimmer lag weit am anderen Ende des Flurs, mit vielen Wänden dazwischen, und dennoch hörte ich sie schreien. Weil ich bei diesem Lärm nicht schlafen konnte, versuchte ich zu lauschen, obwohl ich gar nicht wissen wollte, worum es bei dieser Auseinandersetzung ging. Ich war mir sicher, dass ich es sowieso nicht verstanden hätte. Weder die Worte noch ihren Sinn. Ich lag einfach nur da in meinem Bett, und auf einmal fing ich an zu weinen. Unendlich viele heiße Tränen kullerten über meine Wangen auf mein Kopfkissen – bis es völlig nass war. Was passierte da? Ich presste beide Hände auf meine Ohren, hielt sie zu, hörte das Geschrei aber immer noch. Laut und deutlich in meinem Kopf. Schließlich fing ich selbst an zu schreien. Niemand hörte mich. Es war wie ein Albtraum, aus dem ich nicht erwachte. Gefühle von großem Schmerz und großer Verzweiflung überrollten mich. Aber warum? Was war die Ursache? Was bedeutete das?

Irgendwann, als ich es nicht mehr aushalten konnte, stand ich auf und schlich den langen Flur hinunter. Er erschien mir endlos. In meiner Hand Ela, mein Plüschhund, den ich von Sanitätern geschenkt bekommen hatte, als ich zwei Jahre zuvor ins Krankenhaus musste. An diesem Tag besuchte ich meine andere Großmutter auf dem Dorf und rannte stundenlang mit meiner Cousine durch Felder mit meterhohen Gräsern. Es war herrlich. Manchmal ließ ich mich fallen und schaute kichernd in den Himmel. Als ich dann abends heimkehrte, juckten meine Augen, und ich bekam nur ganz schwer Luft. Meine Großmutter sah mich komisch an. Ich schaute in den Spiegel, und mir blickte ein völlig fremdes Gesicht entgegen. Ich war total rot und hatte riesige geschwollene Lider mit winzigen Augen. Meine Oma machte sich Sorgen und rief meinen Vater an. Da meine Mutter Migräne hatte, kam er alleine und holte mich ab. Eigentlich war geplant, dass ich bei meiner Großmutter übernachten sollte. Aber mein Vater packte mich ein, und wir fuhren zurück.

Zu Hause riefen meine Eltern den Notarzt. Ich konnte mittlerweile nur noch ganz schwer atmen, und meine Augen tränten aus zugeschwollenen Lidern. Zwei Sanitäter erschienen mit einem riesigen Koffer und neonorangen Uniformen. Sie brachten mir einen Plüschhund mit großem Kopf mit, um mich von der Spritze abzulenken, die sie in meinen Arm piksten. Als sie entschieden, mich mit ins Krankenhaus zu nehmen, bekam ich Angst. Einer der beiden Sanitäter nahm mich hoch auf seinen Arm und trug mich im Schlafanzug, mit meinem neuen Plüschhund in der Hand, in den Rettungswagen. Da lag ich also allein und festgeschnallt auf der Liege im Rettungswagen, der mit Blaulicht in den nächstgelegenen Ort düste. In meiner Hand immer noch der Plüschhund, dem ich den Namen Ela gegeben hatte. Nach ein paar Tagen wurde ich dann wieder entlassen und hatte von nun an eine Allergie und eine neue flauschige Freundin.

Ela begleitete mich seit jenem Tag. Sie war auch bei mir, als ich die Küchentür öffnete und meine Eltern sich vor meinen Augen anbrüllten. Ich hatte ihre wilden Gesten schon verschwommen durch die Glastür gesehen, aber ich hatte meinen ganzen Mut zusammengefasst, um in den Raum hineinzugehen. Doch sie bemerkten mich nicht, als ich leise die Klinke hinunterdrückte und mich langsam in die Küche schob, sondern stritten weiter.

Angst stieg in mir hoch. Ich fühlte mich klein und mit jeder Sekunde noch kleiner. Um mich herum war alles laut, hell und schrill.

»Ich kann nicht schlafen«, sagte ich in das Laute hinein, um mich bemerkbar zu machen.

Für einen Moment war es still. Mein Vater und meine Mutter schauten mich mit ihren erhitzten Gesichtern an. »Geh wieder ins Bett«, sagte meine Mutter in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

Ich gehorchte, verließ die Küche und schloss die Tür hinter mir. Ich schlich zurück in mein Zimmer, legte mich wieder ins Bett und drückte meine Nase an Elas plüschigen Bauch. Wieder liefen mir Tränen übers Gesicht. Wieso schrien sich meine Eltern so an? So hatte ich sie noch nie gesehen. Wieso waren sie so laut und Furcht einflößend? Irgendwann schlief ich erschöpft ein, in der Hoffnung, dass alles gut werden würde und es bloß ein böser Traum war, von dem morgen nichts mehr übrig sein würde.

Es war nicht der letzte Streit. Einmal kam meine Mutter in mein Zimmer gerannt, aber schon vorher, als ich ihre keifenden Stimmen hörte, hatte ich mich aus lauter Angst hinter meinem hohen braunen Schrank versteckt. Mein Vater war meiner Mutter gefolgt, und nun ging ihre Auseinandersetzung in meinem Zimmer weiter. Ich presste mich an die Wand und hielt mir die Ohren zu. Als mein Vater mich entdeckte, trat er zu mir.

»Wovor versteckst du dich?«, fragte er mich.

»Ich … ich«, stotterte ich und brachte kein weiteres Wort heraus. Ich hätte sagen können: »Ich verstecke mich vor dir.« Ja, ich versteckte mich vor meinem eigenen Vater. Und ich weiß bis heute nicht, warum. Meine Mutter behauptete oft, mein Vater hätte sie mit Worten geschlagen. Ich aber hatte nie eine Beleidigung von ihm gehört und verstand diese Aussage nicht, doch sie jagte mir Angst ein. Das Geschrei jagte mir Angst ein.

Tage und Wochen vergingen, die aggressiven Anfeindungen wiederholten sich, und irgendwann riefen mich meine Eltern in die Küche.

»Sophie, wir haben dir etwas mitzuteilen«, sagte meine Mutter. »Papa zieht aus unserem Haus aus.«

Ich starrte auf die Mikrowelle. Die Worte hallten in meinem Kopf wider. Ich war traurig, weil ich nicht wollte, dass mein Vater uns verließ. War verzweifelt, weil ich nicht mit meiner Mutter allein sein wollte. Sie hatte oft schlecht über ihn gesprochen, so oft, dass ich mich tatsächlich vor ihm fürchtete, obwohl er weder ihr noch mir jemals wehgetan hatte. Er hat mich mit Worten geschlagen. Ich wusste nicht, wem ich was glauben sollte. Ich wollte nur noch zurück in mein Zimmer, wollte allein sein.

Mein Vater suchte sich eine kleine Wohnung im benachbarten Ort. Eigentlich wollte er nur vorübergehend für ein wenig Abstand sorgen, damit sich die Lage etwas entspannte. Da seine Firma weiterhin in unserem Haus war und meine Mutter nach wie vor im Büro mitarbeitete, sahen sie sich fast täglich. Für mich war es schön, dass er oft da war, dass ich zu ihm ins Büro gehen konnte, wenn ich aus der Schule nach Hause kam. Leider hatte die neue Wohnungssituation nicht zu einer Verbesserung des Verhältnisses meiner Eltern beigetragen. Die Streitereien führten sie im Büro weiter, und meine Mutter hatte oft schreckliche Laune. Irgendwann ging sie aufs Einwohnermeldeamt unserer Gemeinde und meldete meinen Vater aus unserer Wohnung ab. Er hatte keine Ahnung davon gehabt. Ohne es zu merken, verwandelte sich die kleine Einzimmerwohnung, die er nur als vorübergehenden Rückzugsort vorgesehen hatte, in seinen Hauptwohnsitz.

Bevor sich ein Ehepaar der Zeugen Jehovas trennt, ist es ein langer Weg. In der Gemeinschaft gibt es kein Privatleben, wie es bei »normalen« Menschen üblich ist. Es ist nicht normal, mit vermeintlich fremden Männern Gespräche über die intimsten Probleme in der Partnerschaft zu führen. Hat man Schwierigkeiten in der Ehe, werden die Hüter der Herde Gottes um Rat gefragt. Auch andere Glaubensgeschwister erteilen gern und oft Ratschläge, sodass die Beziehung nichts Privates mehr ist. Das Problempaar führt also Unterredungen mit den Aufsehern der Versammlung, Älteste genannt, und diese schlauen, von Gott auserwählten Männer geben dem Paar biblische Anweisungen. Gehorsame, treue Christen setzen diese in die Tat um, erhalten Gottes Segen, und die Herausforderungen sind gelöst, die Krise ist abgewendet.

Meine Eltern waren diesbezüglich eine Ausnahme. Eines Tages kamen zwei der Ältesten aus unserer Versammlung und führten ein langes Gespräch mit ihnen. Die Bibel nennt zwei Gründe für eine Scheidung, die vor Gott als rechtskräftig gilt: Hurerei und Tod. Da weder das eine noch das andere bei ihnen der Fall war, galten meine Eltern vor Jehova Gott nach wie vor als verheiratet, womit es als Verstoß gegen Gottes Gebote gewertet würde, sich nach der Scheidung einen neuen Partner zu suchen.

Selbst ich verstand langsam, dass es nicht besser werden würde. Es gab häufig Streit, und ich konnte mich kaum an eine Zeit erinnern, in der es nicht so war. Meine Mutter genoss die Gunst der Glaubensbrüder und -schwestern, von allen Seiten wurde ihr Mitleid entgegengebracht, denn sie hatte sich ja offensichtlich so um eine gute Ehe bemüht, sonst wäre sie auch nicht zu Glaubensbrüdern oder gar den Ältesten gegangen und hätte um Rat gefragt. Sie war das hilflose, verzweifelte Opfer, das sich natürlich an Jehovas Gebote halten wollte, und mein Vater der Böse, weil er der Ansicht war, seine Ehe müsse nicht mit der Hälfte der Versammlung diskutiert werden. Sie gab ihm die Schuld für alles, immerhin hatte er sich eine Wohnung gesucht und sie mit mir allein gelassen. Alle glaubten ihr die verdrehten Tatsachen, und das Schicksal meines Vaters war von da an nur noch eine Formalität. Er konnte nicht länger Teil der Versammlung bleiben, und ihm wurde nahegelegt, aus der Gemeinschaft auszutreten.

Nach einigen Gesprächen tat er es auch. Er wurde ausgeschlossen. Von diesem Moment an galt er als Abtrünniger, was noch schlimmer war als ein Ungläubiger. Er hatte sich bewusst Jehovas Geboten widersetzt, und folglich musste er mit den Konsequenzen leben. Ab dem Zeitpunkt der Bekanntmachung seines Ausschlusses vor der ganzen Versammlung änderte sich alles. Von der Bühne verkündete der Redner, dass mein Vater von nun an kein Zeuge Jehovas mehr sei. Damit wussten alle, was zu tun war. Man würde ihn ächten. Jedem treuen Diener Gottes war es fortan untersagt, ihn, den Abtrünnigen, auch nur zu grüßen, geschweige denn, mit ihm zu reden und Zeit zu verbringen. Mein Vater verlor sein komplettes soziales Umfeld, seine Familie und die Hoffnung auf ein ewiges Leben im Paradies. Wie sich das auf unser Verhältnis auswirkte, bekam ich erst später in voller Härte zu spüren.

Endgültig zog er in die kleine Einzimmerwohnung im Nachbarort ein, und ich lebte mit meiner Mutter weiterhin in unserem Haus. Ich ging nun allein mit ihr zu den Zusammenkünften, doch es gefiel mir dort nicht mehr. Die früheren Freunde und Glaubensbrüder meines Vaters redeten schlecht über ihn und erklärten mir, er würde nicht mehr nach den Maßstäben der Bibel leben, er sei kein guter Umgang mehr für mich. Ich sah ihn zwar weiterhin, aber ich hatte das Gefühl, zwischen den Stühlen zu sitzen. Meine Mutter erntete Mitleid von den Brüdern und Schwestern der Versammlung, während sich niemand mehr für meinen Vater interessierte. Ich konnte nicht verstehen, warum er mit einem Mal böse war und von allen verachtet wurde. Ich dachte, wir seien eine große Glaubensfamilie? Hatte ich das nicht oft genug gehört? Ging man so mit seiner Familie um? Ich verstand die Welt nicht mehr.

Die Brüder und Schwestern in der Versammlung, die sich meiner Mutter und meiner annahmen, um uns in dieser schwierigen Zeit mit theokratischer Aufmunterung zu unterstützen, kamen oft in unser Haus und hielten auch dort Predigtdiensttreffs oder das Buchstudium ab. Wenn sie meinem Vater im Haus begegneten, weil er wegen der Arbeit in der Firma war, grüßten sie ihn tatsächlich nicht, so, wie es vorher angekündigt worden war. Das bloß zu hören war jedoch etwas anderes, als es real zu erleben. Die Nichtbeachtung, das konsequente Ignorieren führte natürlich dazu, dass sich meine Eltern erneut stritten. Schließlich war es sein Haus. Im Nachhinein kann die Trennung meiner Eltern nur als hässlich bezeichnet werden. Das Einzige, was ich wollte, war, dass sich alle verstanden. Mein Vater, meine Mutter und meine große Glaubensfamilie. Das war der Wunsch eines kleinen Mädchens, das nicht begriff, was da vor sich ging. Erwachsenenprobleme.

Die Situation spitzte sich weiter zu, als mein Vater eine neue Frau kennenlernte. Ich war mittlerweile in der dritten Klasse und gespannt auf meine neue Stiefmutter. Da ich mir als Einzelkind immer eine Schwester gewünscht hatte, freute ich mich, dass sie eine dreijährige Tochter hatte. Wenn ich die Wochenenden mit ihnen verbrachte, machten wir Ausflüge zu Schlössern, Burgen und in Tierparks. Das war eine schöne Abwechslung zu meinem anstrengenden Alltag. Studieren, Bibellesen und Zusammenkünfte waren nicht halb so spannend, wie alte Kettenhemden von Burgrittern anzuschauen.

Ein weiteres Highlight bei meinem Vater war, dass ich bei ihm fernsehen durfte. Zwar nur den Kinderkanal zusammen mit meiner kleinen Schwester, aber zu Hause, bei meiner Mutter, durfte ich nicht einmal das. Zwar gab es bei uns einen Fernseher, aber meine Mutter schaltete ihn fast nie an. Sie war der Meinung, dass es gefährlich sei, fernzusehen, es würde meinen Geist vergiften. Also konnte ich nur stumm dasitzen, wenn meine Klassenkameraden über Sendungen auf Super RTL sprachen. Ich konnte nicht mitreden. Ich erinnere mich an ein Gespräch im Speisesaal der Grundschule, als sich die anderen am Tisch über eine Zeichentrickserie namens Typisch Andy! unterhielten, deren Hauptcharakter ein Junge namens Andy war, der leidenschaftlich gern seinen Lehrern und Mitschülern Streiche spielte.

»Das macht Andy nur, weil er in Lori verknallt ist, er will sie mit seinen Streichen beeindrucken«, sagte Tim.

»Seine arme Schwester Jennifer, die ist so oft Opfer seiner Taten«, bemerkte mitleidig Vanessa, die Banknachbarin von Lara.

»Ich mag Danny lieber als Andy«, erklärte Lara.

Wer war denn nun wieder Danny?, dachte ich, denn ich hatte nicht eine einzige Folge gesehen.

Ein weiterer seltsamer Moment war, als sich alle in der Schule für Harry Potter interessierten. Einmal haben sich nach der Schule im Hort sämtliche Kinder einen Harry-Potter-Film auf DVD angeschaut. Doch ich ging ins Hausaufgabenzimmer, da ich wusste, dass ich mir das nicht angucken durfte. Es war wie bei der Hexe Lilli, nur dass mein Großvater mich nicht mehr verteidigen konnte. Meine Mutter hatte mir eindringlich zu verstehen gegeben, dass Jehova es hasse, wenn wir uns solche bösen Sachen ansähen. Magie gäbe es nicht. Der Teufel warte nur darauf, in meinen Kopf zu kommen. Weil ich brav war und das, was meine Mutter sagte, nicht in Frage stellte, wollte ich mir auch nicht heimlich die Geschichten über den Schüler aus dem Zauberinternat Hogwarts zu Gemüte führen. Ich hütete mich inzwischen sogar vor allem, was irgendwie von Satan kommen könnte. In den Versammlungen wurde ständig über den Teufel gesprochen, und er machte mir Angst.

»Wir sind das auserwählte Volk, und Jehova wird seine himmlische Armee schicken, um alles Böse auf der Erde zu vernichten.«

»Satan geht umher wie ein brüllender Löwe und versucht uns zu verschlingen.«

»Wir stammen von Gott, aber die ganze Welt liegt in der Macht dessen, der böse ist.«

»Satan ist der Gegner des allmächtigen Gottes Jehova, sein größter Widersacher.«

All diese Sätze hatten sich in mir eingenistet. Ich hatte viel zu viel Furcht davor, dass, sollte der Teufel einmal in meinem Kopf sein, ich ihn nie wieder loswerden würde. Als mir das bewusst wurde, musste ich mir eingestehen: Ich bin anders als meine Mitschüler. Sie sahen sich unbeschwert Harry-Potter-Filme an, sie hatten keine Angst vor dem Teufel, sie hätten mich nur ausgelacht, wenn ich ihnen von meiner erzählt hätte.

In meiner Klasse gab es noch einen Jungen, Anton, dessen Eltern ebenfalls Zeugen Jehovas waren. Aber seine Eltern waren nicht so streng wie meine Mutter. Sie waren cool, lustig und gaben ihm viele Freiheiten. Deshalb konnte er mitreden und war beliebter bei den Mitschülern. Mich hielt man für komisch, weshalb kaum jemand mit mir etwas zu tun haben wollte. Überhaupt waren Freundschaften zu Mitschülern oder Kindern aus meiner Nachbarschaft unerwünscht. Anton durfte mit anderen Kindern spielen und feiern, er hatte Glück, und ich beneidete ihn oft darum.