Plötzlich passierte etwas Neues, etwas, womit ich nicht gerechnet hatte. Ich war vierzehn und verliebte mich. Bei der Orchesterprobe waren immer Brüder und Schwestern aus anderen Versammlungen dabei. Sie verbrachten diesen monatlichen Nachmittag mit uns, um gemeinsam zu musizieren, und im Anschluss tauschten wir uns bei Kaffee und Kuchen über biblische Themen aus.
Hanna – sie spielte auch Flöte – und ich betraten zusammen mit einem Bruder aus unserer Versammlung das Haus von Johanna und ihrer Familie. Wie so oft gab es ein paar neue Gesichter. Diesmal saß jemand anderes am Schlagzeug. Ein junger Mann mit schwarzen kurzen Haaren, einem schelmischen Lächeln und blauen Augen, der sich als Dennis vorstellte. Seine Versammlung war zwar nur eine halbe Stunde von unserer entfernt, aber da er zu einem anderen Kreis gehörte, hatte ich ihn noch nie auf unseren Kongressen gesehen. Plötzlich wollte ich einen guten Eindruck machen. Ich gab mir viel Mühe, als ich Flöte spielte, versuchte, erwachsen zu wirken, und bei der anschließenden Vorbereitung eines Wachtturm-Artikels, der in der nächsten Versammlung behandelt werden sollte, machte ich mir eifrig Notizen und las Bibeltexte vor. Ich wollte, dass er mich mochte. Da er ein eifriger Diener Gottes zu sein schien, ein treuer Christ, und ich ihm imponieren wollte, musste ich wieder mehr für meinen Glauben tun und den Anschein erwecken, ebenfalls eine eifrige Christin zu sein. Ich war nervös. Dennis war groß, zehn Jahre älter als ich, und irgendwie übte er auf mich eine seltsame Anziehung aus.
Erwartungsvoll sah ich der nächsten Orchesterprobe entgegen, in der Hoffnung, ihn wiederzusehen. Und tatsächlich saß er wieder am Schlagzeug. Irgendwann begannen wir, Gespräche zu führen, tauschten sogar unsere Handynummern aus. Doch ich traute mich nie, ihn anzurufen. Da er für ein vierzehnjähriges Mädchen unerreichbar weit weg wohnte, konnten wir auch nie zusammen in den Predigtdienst oder die Zusammenkünfte gehen. Wir sahen uns also nur bei den Proben.
Irgendwann ergab sich die Möglichkeit, ich war inzwischen fünfzehn, zusammen ins Hilfe-Not-Gebiet nach Leipzig zu fahren. Der Predigtdienst ist sehr organisiert. Jede Versammlung hat eine bestimmte Region aus Orten und Dörfern, die sie bearbeiten müssen. Diese Region wird unterteilt in einzelne Gebiete, zu denen Gebietskarten mit einer Übersicht aller Straßen erstellt werden. Als Faustregel galt, dass jeder Hausbewohner einmal im Jahr besucht werden sollte. War eine Region nicht ausreichend von Zeugen bevölkert, kam es vor, dass die Verkündiger nicht alle Gebiete schnell genug besuchen konnten. Das nannte man dann Hilfe-Not-Gebiet. In ihnen wurden meist Pioniertage eingeführt, zu denen Verkündiger aus anderen entlegenen Versammlungen anreisten, um mit in diesen fremden Gebieten zu predigen und die dortige Versammlung zu unterstützen. Ich fuhr also mit einer Gruppe anderer Verkündiger regelmäßig samstags nach Leipzig, um dort den ganzen Tag im Dienst zu verbringen. Das war auch eine tolle Möglichkeit, andere Zeugen in meinem Alter kennenzulernen. Da sich diese Gelegenheit sonst nur auf größeren Kongressen bot, hatten diese Pioniertage manchmal einen leichten Dating-Charakter.
»Willst du nicht mal mit uns nach Leipzig kommen?«, fragte ich Dennis eines Tages nach einer Orchesterprobe. Ich wollte, dass er mich für eine eifrige Christin hielt, denn ein guter zukünftiger Ehemann legte viel Wert auf solche Dinge.
»Tolle Idee, ich komme gern mit«, antwortete er.
Was hatte ich doch für ein Glück, er hatte zugesagt. Ich strahlte Dennis an.
Ich sollte bei Rita, einer Glaubensschwester der ortsansässigen Versammlung, mit der meine Mutter gut befreundet war, übernachten. Und irgendwie gelang es mir, beide davon zu überzeugen, dass auch Dennis in der Wohnung schlafen durfte. Natürlich kam auch meine Mutter mit. Rita war ein paar Jahre älter als meine Mutter, vielleicht Anfang sechzig. Sie hatte noch nie einen Mann, und der Umgang mit ihr war echt nicht einfach. Sie litt unter diversen Krankheiten; jedenfalls pumpte sie sich bis zum Anschlag mit Tabletten voll. Wahrscheinlich kam daher ihr schräges Verhalten, aber ich bemerkte erst später, dass vieles von dem, was sie sagte, gelogen und völlig krank war.
Der Predigtdiensttreff war frühmorgens, und am Abend zuvor wollten wir noch alle gemeinsam auf ein Stadtfest. Und da passierte es. Dennis und ich standen zwischen vielen anderen Menschen, lauschten der Musik, und er nahm meine Hand. Einfach so. Ohne ein Wort, ohne einen Blick. Dieses Gefühl war unbeschreiblich. Als würden Tausende Ameisen auf meine Haut pinkeln. Irgendwann ließ er sie los, und wir gingen zurück, um uns wieder mit meiner Mutter und Rita zu treffen.
Das war meine erste richtige Berührung mit einem Mann! Er bezeichnete es später als »Händchenhalten«. Das klang aber so pubertär und raubte diesem Moment nachträglich die Magie.
»Was wir getan haben, war falsch«, sagte Dennis. »Das hätte nicht passieren dürfen.«
Nach unserer Reise nach Leipzig schrieben wir uns E-Mails und chatteten auf Facebook. Aber noch immer bereute Dennis diesen Augenblick. »Ich habe mich von meinen Gefühlen leiten lassen«, schrieb er, »und das ist unbiblisch.« Ich erinnere mich noch an eine lange Mail, die ich eines Tages in meinem Postfach fand. Bestimmt hundertmal las ich sie. Er teilte mir darin mit, er würde bald die Schule zur dienstamtlichen Weiterbildung besuchen. Diese Schulung werde von der Organisation der Zeugen Jehovas für ledige männliche Christen, die wie er ein Dienstamt innehätten, durchgeführt. Man werde unterwiesen und danach deutschlandweit in neue Versammlungen eingeteilt, was natürlich einen Umzug mit sich bringen würde.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch nie etwas von einer solchen Schule gehört, aber es schien für ihn eine riesige Ehre zu sein, dass man ihn zu dieser Weiterbildung eingeladen hatte. Klartext: Ich sollte ihm dabei nicht im Weg stehen. Er musste weiterhin ledig bleiben und sich voll und ganz auf den Glauben konzentrieren. Aber der Gedanke, dass er bald einer weit entfernten Versammlung zugeteilt würde, ließ mich nicht los. Ich war für ihn ein Schwachpunkt, und es sollte keine Schwachpunkte geben. Sicher, ich war zehn Jahre jünger, aber das war nicht das Problem – ein solcher Altersunterschied zwischen Paaren war nicht unüblich. Das Problem bestand darin, dass ich bislang nicht getauft war. Ich war bloß eine ungetaufte Verkündigerin und somit keine geeignete zukünftige Ehefrau. Keine treue und loyale Christin, die sich zu Gott Jehova bekannt hatte und eines Dienstamtgehilfen als Mannes würdig war. Ich war nicht unreif wegen meines Alters, sondern wegen meines Status als ungetaufte Verkündigerin. Alle treuen Christen waren angehalten, sich Ehepartner zu suchen, die den Glauben an die erste Stelle im Leben setzten.
Da ich nicht getauft war, galt ich eher als schwarzes Schaf. Ich war unreif. Ich war nicht gut genug. Nicht gut genug für ihn. Er wusste es, und ich wusste es. Wäre ich getauft und als Hilfspionierin tätig gewesen, die monatlich mindestens fünfzig Stunden im Predigtdienst verbrachte, wäre das etwas völlig anderes gewesen. Aber das konnte ich nicht vorweisen. Ich war nicht vollwertig. Keine vollwertige Christin und somit auch keine geeignete zukünftige Ehepartnerin. Es wäre nur peinlich für ihn gewesen, eine Freundin wie mich zu haben. Er hätte sich vor anderen rechtfertigen und sich für mich schämen müssen. Ich spielte einfach nicht in seiner Liga. Das führte dazu, dass er die Sache mit mir, die nie etwas Richtiges war, mit dieser Mail sehr unschön beendete.
Meine Motivation, mich als treue Christin zu beweisen, sank erneut auf ein Minimum. Ich war enttäuscht von Jehova. Nach meinem Selbstmord, der mir von oben nicht gestattet worden war, dachte ich, Gott hätte mir diesen Glaubensbruder geschickt, als eine Art Zeichen. Vielleicht als Wiedergutmachung oder als Motivationsschub. Ich dachte, er habe mir dadurch zeigen wollen, dass das Leben auch herrliche Seiten haben kann, hatte angenommen, er habe mir die Chance auf eine Zukunft mit ungeahnten Möglichkeiten gegeben. Stattdessen war alles genauso schlimm wie vorher. Wozu? Wozu treu sein? Wozu dienen?
Das Doppelleben, das ich wegen Dennis hatte aufgeben wollen, da mich mein biblisch geschultes Gewissen zu sehr plagte, hatte nun einen noch größeren Reiz auf mich bekommen. Ich fühlte mich nicht mehr schlecht. Ich fühlte mich nicht mehr schuldig. Ich wollte jedoch diese bösen, verbotenen Dinge tun. Ich wollte böse sein. Wollte Rache. An Gott konnte ich mich nicht rächen, aber ich wollte Jehova wehtun, so wie er mir wehgetan hatte. Ich hatte alles für ihn gemacht, ihm mein ganzes beschissenes Leben verschrieben, ihn immer an die erste Stelle gesetzt, ohne an mich selbst zu denken. Was war der Dank? Nichts als Verrat, Schmerz und Enttäuschung. Also fühlte ich mich nicht mehr schlecht, sondern stark, wenn ich die Dinge tat, von denen ich wusste, dass Gott sie hasste.
In der Kunst-AG in der Schule – ich liebte es, übers Zeichnen meine Gefühle auszudrücken – gab es ein Mädchen, das schon sechzehn war. Sie kaufte mir zwei Schachteln Pall Mall Red. Im Keller des Gebäudes waren Schließfächer, und ich verabredete mich mit ihr dort. Sie überreichte mir die Zigarettenschachteln und ich ihr das Geld. Vorsichtig blickte ich um mich, ich fühlte mich wie eine Kriminelle. An meiner Schule gab es zwei andere Zeugenmädchen, die auf keinen Fall davon etwas erfahren durften. Die eine rote Schachtel versteckte ich im Geheimfach meines Schulranzens, die andere ganz hinten in meinem Spind. Auf dem Heimweg kam ich an einer Garagenanlage vorbei, und wenn es mir nicht gut ging, huschte ich zwischen zwei Garagen und rauchte eine Zigarette. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Ich fühlte mich wie ein Soldat im Krieg, hörte jedes Geräusch und hielt die Augen auf, aus Angst, jemand könnte auftauchen und mich erwischen. Ich wusste, Gott sah mich, aber ihn fürchtete ich nicht. Ich fürchtete Menschen, die mich auffliegen lassen konnten. Reichlich paranoid war das.
Ich hatte immer ein Deospray und Kaugummis dabei, damit meine Mutter bei meiner Heimkehr keinesfalls etwas roch. Einmal fing sie mich an der Wohnungstür ab und schrie mich an: »Du hast geraucht!«, dann schlug sie mir ins Gesicht.
Ich verteidigte mich: »Das ist nicht wahr, ich habe nur mit den Lehrern nach der Kunst-AG draußen gestanden, die haben geraucht, und deshalb rieche ich danach.«
Sie durchsuchte meinen Schulranzen. Da waren keine Zigaretten. Die dort aufbewahrte Packung hatte ich schon aufgebraucht, die andere befand sich in meinem Spind. Ich hatte nur eine einzelne Zigarette mitgenommen und das Feuerzeug in meinem BH versteckt. Meine Mutter gab sich damit zufrieden, dass sie nichts gefunden hatte. Aber mein Gewissen schlug an. Ich hatte nicht nur geraucht, sondern auch gelogen. Schamlos. Ich fühlte mich trotz meiner Rachegedanken mies. Vielleicht hatte Gott das doch nicht verdient. Ich war wertlos, keine gute Christin. Ich wollte es wiedergutmachen, indem ich mehr studierte und betete. Dieser Wunsch hielt abermals nicht lange an, und was folgte, war ein scheinbar endloses Auf und Ab aus Sünde und Reue. Ich verlor mich immer mehr in Schuldgefühlen und den Kicks des Verbotenen.
Nach der neunten Klasse wechselte ich vom Gymnasium auf die Mittelschule. Da ein Studium für mich als Zeugin Jehovas sowieso nicht in Frage kam, war das Abitur sinnlos, und der Abschluss nach der zehnten Klasse wäre auf dem Gymnasium wesentlich schlechter ausgefallen als auf der Realschule. Ich kannte keine Glaubensbrüder oder -schwestern mit einem Abitur, geschweige denn einem Studienabschluss. Höhere Bildung war nicht nötig, um Gott zu dienen, und materialistisches Denken oder das Streben nach einer Karriere waren nicht glaubenskonform. Also entschied ich mich dafür, nach der zehnten Klasse eine Ausbildung zu machen, ganz im Sinn der Organisation.
Viele Möglichkeiten hatte ich nicht, einige Berufe kamen aufgrund meiner Religion nicht in Frage, und ich wollte auch nicht etwas machen, was mir überhaupt nicht lag. Auf dem Gymnasium war unser beruflicher Werdegang nie groß ein Thema gewesen. Alle sollten einmal studieren, davon war man ausgegangen. Wir hatten nie gelernt, eine Bewerbung oder nur einen Lebenslauf zu schreiben. Dann wechselte ich auf die Mittelschule und hatte das Gefühl, keine Ahnung vom echten Leben zu haben. Die anderen hatten schon seit über einem Jahr Bewerbungstrainings und wussten, was sie mal werden wollten. Ich hatte keine Ahnung.
Immerhin lief es dafür in der neuen Schule besser, zumal in meiner Stufe zwei Jungs aus der Versammlung waren. Michael, der bereits mit mir im Kindergarten gewesen war, war einer von ihnen. Es war angenehm, nicht die einzige »Verrückte« in der Klasse, nicht mehr das Mobbingopfer Nummer eins zu sein. Das war natürlich übertrieben, aber ganz ehrlich: Ich hatte nie die gesehen, die noch beschissener dran waren als ich. Die noch mehr gehänselt und gegretelt wurden. Ich hatte nur meinen eigenen Schmerz wahrgenommen, und der war groß genug. Deswegen wollte ich in diesem letzten Jahr auf der neuen Schule auch alles richtig machen. Einen Neuanfang. Ich wollte endlich einmal beliebt und cool sein. Das funktionierte anfangs auch ganz gut. Die anderen Schüler waren wie ich aus weniger gut situierten Verhältnissen, manche hatten ebenfalls geschiedene Eltern oder überhaupt keine. Die wenigsten waren überdurchschnittlich clever.
Ich freundete mich mit Paula an, einem ruhigen, zurückhaltenden Mädchen aus der Parallelklasse. Ihre rötlichen, schulterlangen Haare waren zu einem Seitenscheitel gekämmt, und der schräge Pony umrahmte ihr ungeschminktes Gesicht – bei einer so makellosen Haut brauchte sie auch kein Make-up. Paula trug coole Klamotten, war lässig drauf und verurteilte mich nicht. Ihr war meine Religion egal, und das mochte ich. Wir verbrachten immer mehr Zeit miteinander, und ich bekam durch sie einen Einblick in das Leben einer normalen Fünfzehnjährigen. Der Schulstoff war einfach und überschaubar, die Hausaufgaben konnte ich bereits nebenher im Unterricht machen oder von anderen abschreiben. Easy.
Nachmittags suchte ich nach Ausreden, um Zeit mit Paula verbringen zu können. Wir fuhren mit dem Bus in die nächstgrößere Stadt und gingen in Cafés und in Klamottenläden. Meine Mutter gab mir ein Taschengeld, welches abhängig von meinen Noten war. Drei Euro für eine Eins und 1,50 Euro für eine Zwei. Auf dem Gymnasium hatte ich so gut wie nie Einsen nach Hause gebracht, aber auf der Mittelschule fast ausschließlich. Einmal ließ ich meine Mutter von meinem Sparbuch Geld abheben und sagte ihr, ich wolle es in der Versammlung in den Spendenkasten werfen. Das tat ich natürlich nicht. Dann steckte mein Vater mir noch jeden Monat Geld zu, und ich konnte mir davon in Läden wie Tally Weijl oder New Yorker endlich moderne Klamotten kaufen. Ich liebte die reduzierten Sachen, denn ich musste mein Geld gut einteilen. Manchmal gab mir meine Mutter auch etwas von dem zurück, was ich für Kleidung ausgegeben hatte. Aber meistens war sie der Ansicht, ich bräuchte nichts Neues, da ich alles hätte. Und mit alles meinte sie die abgelegten Sachen der anderen Glaubensschwestern.
Zwar hatten auf meiner neuen Schule nicht so viele der Jugendlichen Markensachen wie auf dem Gymnasium, allerdings hatten viele auch nichts, worüber sie sich sonst definieren konnten. Da zählte dann doch wieder das Äußere. Die wenigen Schüler mit geilen Sachen und geringer Perspektive aufgrund mangelnder Schulnoten fühlten sich supertoll und blickten auf Paula und mich herab – und das, obwohl Paula Markensachen trug. Keine Ahnung, das Prinzip erschloss sich mir nicht. Arme können mobben, Reiche können mobben, Schlaue können mobben, und Dumme können ebenfalls mobben. Wehrte man sich nicht, wurde man zum Opfer. Das wusste ich, immerhin hatte ich es die letzten Jahre erlebt.
Ich war froh, eine Freundin zu haben, die mich nicht verurteilte. Mit Paula konnte ich mein Doppelleben ausleben, bei ihr musste ich keine Angst haben, erwischt oder verraten zu werden. Unter dem Vorwand, bei meinem Vater zu sein, übernachtete ich oft bei ihr. Zum Glück ging es meinem Vater inzwischen gesundheitlich wieder besser, der Krebs war nach einer Operation weitgehend überstanden. Nun war er voll und ganz mit seiner Arbeit beschäftigt, er hätte mich auch nie bei meiner Mutter verpetzt.
Paula hatte ein großes, schönes Zimmer, viele Freiheiten und eine Mum, die sehr viel lockerer als meine Mutter war. Wir konnten abends raus, ich lernte Paulas ältere Freunde kennen, und wir tranken Bier, aßen Pizza und rauchten Zigaretten. Wir knutschten ab und zu mit Jungs, saßen im Park und genossen den Sommer. Ich genoss mein Leben, die Freiheit, die ich noch nie hatte. Ich fuhr mit der Straßenbahn ohne Ticket, klaute Kosmetik und kotzte auf einen Spielplatz. All die letzten Jahre hatte ich nie die wirklich verbotenen Dinge getan. Aber Übung macht den Meister. Als ich keine Angst mehr hatte, wurde die Religion zum ersten Mal in meinem Leben zu einer Nebensache. Manchmal schämte ich mich hinterher und hielt Paula für einen schlechten Einfluss, aber dann wurde mir klar: Das bin ich. Eine, die eine Sünde nach der nächsten beging. Und die riesigen Spaß daran hatte. Es sei mir verziehen. Endlich war ich ein normaler Mensch. Ich fühlte, wie ich mich veränderte. Sogar innerhalb meiner Versammlung wurde ich nun mehr von den anderen Jugendlichen akzeptiert. Auch wenn sie natürlich nichts von all dem wussten, was ich tat. Aber ich war nicht mehr die junge, unerfahrene Naive, sondern war reifer und erfahrener geworden. Ich kam mehr aus mir heraus, und ich merkte, dass andere meinen Humor mochten.
Dadurch, dass ich in einer Stufe mit Michael und Jens war, bildeten wir eine Clique mit Mädchen und Jungs aus der Versammlung. Die Clique hatte es schon gegeben, bevor ich dabei war, aber nun waren die Jungs nicht mehr nur für sich, sondern auch andere Mädchen aus der Versammlung und ich waren dabei. Verbrachten wir Zeit miteinander, gab es nie Probleme mit meiner Mutter, denn ich war ja bei meinen Glaubensbrüdern und -schwestern, die automatisch guten Umgang bedeuteten.
Es stellte sich heraus – schon erstaunlich –, dass sich alle aus der Clique kaum von den »normalen« Jugendlichen unterschieden. Wir schauten zusammen Blockbuster, in denen Gewalt und vorehelicher Sex vorkamen, tranken Caipirinhas, und mit einem der Mädels, Jennifer, rauchte ich heimlich Zigaretten. Was die Jungs natürlich wussten. Jennifer und Michael waren ein Paar, und, Überraschung, sie hatten Sex. Und das, obwohl sie nicht verheiratet waren. Sünde?! Jennifer ließ sich tätowieren. Sünde?! Einer der anderen Jungs ging mit weltlichen Jugendlichen zusammen in eine Disco. Sünde?! Ich merkte, dass all die anderen Zeugen, von denen einige bereits sogar getauft waren, viel mehr Sünden begingen als ich und sich dafür überhaupt nicht schlecht fühlten. Worüber machte ich mir überhaupt Sorgen? Wenn alle Zeugen heimlich sündigten und es nicht bereuten, nicht mit den Ältesten redeten und ihnen nicht beichteten, warum sollte ich das dann? Warum sollte ich die Einzige sein, die sich an den Pranger stellte und sich selbst verurteilte? Meine Schuldgefühle waren unnötig. Ich mochte zwar keine perfekte Christin sein, aber ich musste mich nicht länger unter Druck setzen und mich schlecht fühlen. Dieser Eifer, von dem ich dachte, dass all die anderen ihn haben, existierte nicht.
Auf einmal fand ich mein Doppelleben nicht mehr schlimm. Ich bereute es nicht mehr. Ich fand es cool. Ich machte etwas Cooles. Ich. Die größte Loserin wird cool. Die ganzen verbotenen Dinge animierten mich, Regeln zu brechen. Das machte mich an. In mir erwachte etwas Düsteres, Dunkles, das von Sünden angezogen wurde. War es Satan, der Macht über mich erlangte? Waren das seine Fänge? War er auf der Jagd und versuchte, mich zu fassen? Aber war dieses wilde Monster wirklich so böse? Was hatte ich mir nicht alles sagen müssen: Er will, dass wir seinen Versuchungen erliegen. Schwach werden und uns blenden lassen. Von der Schönheit der Welt. Dem Geld, der Macht, dem Sex. Er ist ein Meister der Versuchung. Ein Meister im Täuschen. Er ist gefährlich. Will dein Leben. Deine Seele. Deinen Körper. Und deinen Geist. Er will, dass du die verbotene Frucht kostest. Nur ein kleiner Bissen, ist doch nicht weiter schlimm. Ein einziges Mal. Was ist schon dabei? Aber er ist die Schlange im Garten Eden. Hat schon Eva verleitet. Du solltest eigentlich aus ihrem warnenden Beispiel lernen. Solltest es dir eine Lehre sein lassen. Aber konnte ich das? Wollte ich das?
Ich zweifelte nicht an der Existenz Satans, aber ich zweifelte daran, dass er so böse war, wie alle behaupteten und er in der Bibel dargestellt wurde. Jehova, der universelle, allmächtige, liebevolle und fürsorgliche Vater, der seine Schäfchen nie allein lässt – er hatte mich im Stich gelassen. Ich hatte ihm vertraut, und er hatte mich verarscht. Was, wenn es dem Teufel auch so ergangen war? Immerhin war Satan einst einer von Gottes Engeln gewesen – und was war daraus geworden? Er wurde verbannt und hinausgeschleudert aus dem Himmel. Wer wäre da nicht wütend?
Also kostete ich mein Doppelleben in vollen Zügen aus. Ich entwickelte eine eigene Persönlichkeit, glich nicht mehr der Marionette, die ich innerhalb der Gemeinschaft war. Natürlich hatte mein Glauben in meinem Leben noch einen hohen Stellenwert. Ich kannte es ja nicht anders. Aber diese neu entdeckte Freiheit, wenn ich bei meinen weltlichen Freunden war, war unbeschreiblich. Ich wollte mehr davon. Wollte mehr Menschen kennenlernen. Ich wollte einfach nur Spaß haben. Und den hatte ich dann auch.
Paula und ich lebten uns gemeinsam aus. Sie zeigte mir, wie man in einem Kaufhaus Labellos klaut, und ich fand es superaufregend, bei einer eindeutigen Sünde nicht erwischt zu werden. Das pochende Herz, die Angst, nicht davonzukommen, und die Erleichterung, als man mit der Beute entwischen konnte, fühlten sich großartig an. Alleine wäre ich nie auf die Idee gekommen, so etwas zu tun. Aber Paula gab mir ein Gefühl von Sicherheit und zeigte mir, worauf ich zu achten hatte. Mit jedem Erfolg wurde ich entspannter, meine Nervosität sank. Wir fühlten uns clever und stark. Allerdings nicht allzu lange, dann passierte es. Finito. Game over. Wir hatten verloren. Der Ladendetektiv erwischte uns, bevor wir überhaupt wussten, was passiert war. Zack, und wir saßen im Polizeiwagen und wurden auf die nächste Wache gebracht.
Ich musste heulen, weil mir klar wurde, was mir blühen würde, sobald meine Mutter von meinem kleinen Ausflug erfuhr. Da ich erst fünfzehn war, musste ich mich von einem Erziehungsberechtigten bei der Polizei abholen lassen. Ich rief meinen Vater an. Er war natürlich nicht begeistert, als ich ihm erzählte, was geschehen war. Glücklicherweise versprach er mir, meiner Mutter nichts von dem Vorfall zu erzählen. Aber das würde mich nicht vor den Folgen retten.
Die nächsten Tage und Wochen saß ich wie auf glühenden Kohlen. Würde meine Mutter von meiner Tat erfahren, wüsste bald die halbe Versammlung davon, und ich müsste mich wieder den Ältesten stellen. Ein Hirtenbesuch. Schon wieder. Und diesmal hätte es schlimmere Konsequenzen als vor zwei Jahren. Voller Angst schaute ich jeden Tag nach der Schule in den Briefkasten. Nichts. Mir blieb nichts anderes übrig, als zu warten und zu beten. Da ich meinen Fehler nicht rückgängig machen konnte, versuchte ich, mich mit den Sachen zu beschäftigen, die wichtig für meine Zukunft waren.
Da war noch die Sache mit der Ausbildung. Für welche sollte ich mich nur entscheiden? Doch weil ich gern las und Tanja offiziell noch immer mein Vorbild war, wollte ich denselben Beruf wie sie erlernen. Sie hatte eine Ausbildung in einer Bibliothek gemacht. Obwohl meine Noten sehr gut waren, war es schwierig, in der Nähe eine Stelle zu finden. Bei Beendigung der zehnten Klasse wäre ich gerade erst sechzehn, und bisher hatte ich gedacht, man müsste volljährig sein, um alleine zu wohnen. Aber da meine Mutter keine Ambitionen hatte, wegen meiner Ausbildung wegzuziehen, versuchte ich herauszufinden, ob es Optionen gab, sodass ich dennoch alleine wohnen konnte. Ich stellte fest, dass man auch als Minderjährige alleine leben durfte, meine Mutter müsste lediglich den Mietvertrag unterschreiben.
Licht am Horizont! Mein Rettungsanker! Das war die Gelegenheit, auf die ich mein ganzes Leben gewartet hatte. Auch wenn ich mich gerade vom Sog der Welt in einen Bann ziehen ließ, durfte ich mich keinesfalls von meinem Ziel ablenken lassen. Ich durfte mir das nicht versauen. Dafür war es notwendig, fleißig Bewerbungen zu schreiben und all das aufzuholen, was meine Mitschüler bereits gelernt hatten, als ich noch ahnungslos auf dem Gymnasium war.
Mich packte der Ehrgeiz, denn ich wollte unbedingt frei sein und nicht am Ende irgendwo landen und eine Ausbildung machen, die mir nicht gefiel. Mein Vater wünschte sich, dass ich die Ausbildung in der Stadt, in der er aufgewachsen war, absolvierte. Seine Mutter wohnte in der Nähe, und es wäre nicht so weit von ihm und meinem aktuellen Wohnort entfernt. Ich wusste, wenn ich mich entscheiden würde, dorthin zu ziehen, würde ich nicht mehr in die Zusammenkünfte gehen und der Wahrheit den Rücken kehren.
Meine Mutter hatte über eine Dating-Website für alleinstehende Zeugen Jehovas einen Glaubensbruder in Nürnberg kennengelernt – und war hin und weg von ihm. Sein Name war Valentino, der mich äußerlich etwas an meinen Vater erinnerte. Nicht allzu groß, dafür ein Bauchumfang, der auf einen feinen Gaumen hindeutete. Bereits nach zwei Treffen gab sie ihm unseren Wohnungsschlüssel. Sie vertraute ihm blind, denn sie war verliebt und der Mann immerhin ein treuer Zeuge. Was sollte da schon schiefgehen? Sie schrieben sich Liebesbriefe, telefonierten und machten zusammen Unternehmungen. Nach ein paar Treffen suchte sie bereits nach einer Wohnung in Nürnberg. Sie sagte mir nichts, bis ich es eines Tages im Browserverlauf unseres Computers entdeckte. Ich sprach sie darauf an.
»Ich will nicht nach Nürnberg ziehen«, sagte ich. »Nur weil du plötzlich in einen Mann verliebt bist, den du erst seit ein paar Wochen kennst, kannst du doch hier nicht alles aufgeben.«
Und ob sie das könne, erwiderte meine Mutter. Endlich habe sie jemanden gefunden, den sie liebe, das lasse sie sich durch mich nicht vermiesen.
Es war für mich unverständlich gewesen, wie man nach ein paar Treffen einem letztlich wildfremden Mann den Schlüssel zur eigenen Wohnung aushändigen konnte. Außerdem wohnte ich ja auch dort, aber mich hatte niemand gefragt. Ab sofort schloss ich mein Zimmer ab.
»Er kann doch auch hierherziehen.«
In Nürnberg habe er einen Job und verdiene sein Geld. Das könne er hier nicht, erwiderte sie.
»Ich werde dann nicht mitkommen.« Selbstbewusst sah ich meine Mutter an. »Ich werde dorthin ziehen, wo ich eine Ausbildung kriege.«
Meine Mutter zuckte nur mit den Schultern. Sie musste sehr verliebt sein, sonst hätte sie Streit gesucht.
Als die Postbotin irgendwann bei uns klingelte, sprang ich sofort zur Tür. Ich öffnete, aber da wir ja im vierten Stock wohnten, dauerte es eine Weile, bis sie an der Wohnungstür angelangt war. Ich nahm den gelben Brief entgegen, während meine Mutter aus dem Wohnzimmer hinter mich in den Flur trat und mich fragte, wer geklingelt habe. Sie sah den Brief, und das Unheil nahm seinen Lauf. An diesem Tag waren wir nicht allein, sie hatte Besuch von Valentino, der im Wohnzimmer saß. Ich flehte meine Mutter an, nicht loszuschreien und das Ganze später mit mir unter vier Augen zu besprechen. Ich schämte mich so schon zutiefst und war voller Angst vor meiner Bestrafung.
Aber alles Betteln half nichts. Meine Hoffnung, sie würde sich vor Valentinos Augen beherrschen, um einen guten Eindruck zu erwecken, löste sich augenblicklich in Luft auf. Sie riss mir den Brief aus den Händen, stürmte ins Wohnzimmer und las ihn laut vor. Ich fühlte mich bloßgestellt. Sie schrie mich an, Valentino sagte, er wolle mit mir alleine reden. Noch nie hatte ich erlebt, dass meine Mutter sich etwas sagen ließ, aber sie ging aus dem Raum und ich blieb mit ihm allein zurück.
Als ihr zukünftiger Mann wäre er nicht nur ihr Haupt, sondern auch das der Familie geworden. So sind die Regeln. Der Mann steht über der Frau. Die Frau hat zu gehorchen. Punkt. Und ich als Kind hatte sowieso keine Rechte. Verloren. Ich saß also da, und vor mir stand ein wütender Mann, der eigentlich ein Fremder war. Während er lautstark verkündete, was für eine vom Teufel besessene Rotzgöre ich sei, kam er mir immer näher. Seine Spucke flog mir ins Gesicht. Ich drehte meinen Kopf angewidert weg und schwieg. Das brachte ihn nur noch mehr auf. Seine Hasstirade wurde noch ausfallender. Er packte mich an den Schultern und schüttelte mich, während er mir ins Gesicht schrie, was für eine elende Enttäuschung ich für meine Mutter und Jehova sei, und er werde dafür sorgen, dass ich in seinem zukünftigen Leben mit meiner Mutter keinen Platz habe. Ich wollte erwidern: »Damit habe ich kein Problem«, aber er ließ mich nicht zu Wort kommen, sondern fuhr mich nur noch energischer an.
»Sei ruhig, wenn ich rede, du undankbares Kind. Du hast keinerlei Respekt und hast gefälligst zuzuhören.«
Er kam mir wieder näher, und als ich fürchtete, er würde ausholen, sprang ich schnell auf und sagte: »Du hast mir nichts zu sagen. Du bist nicht mein Vater und wirst es auch nie werden. Ja, ich habe keinen Respekt vor dir, denn du bist nur ein Fremder, den meine Mutter dreimal gesehen hat und der denkt, das gäbe ihm das Recht, so mit mir zu reden. Kümmere dich um deine eigenen Kinder. Und fass mich gefälligst nicht an!«
Das war das Mutigste, was bis dahin jemals aus meinem Mund gekommen war. Ich wusste, ich hatte einen Fehler gemacht und würde dafür bestraft werden, aber dieser Typ hatte definitiv nicht die Erlaubnis, sich da einzumischen, so mit mir zu reden und mich sogar anzufassen.
Mit meiner Mutter hatte ich nach diesem Tag unzählige Auseinandersetzungen, sogar mehr als sonst, denn noch mehr als meine Sünde machte ihr zu schaffen, dass ich sie vor ihrem neuen Verehrer bloßgestellt hatte. Sie darauf hinzuweisen, dass dieses Problem hätte vermieden werden können, wenn sie die Sache zwischen uns vertraulich behandelt hätte und ihm nicht das Recht eingeräumt hätte, mich zu disziplinieren, stieß nicht auf offene Ohren.
Selbstverständlich unterrichtete meine Mutter die Ältesten in der Versammlung von meiner Tat, und meine größte Befürchtung wurde nun Realität. Mein zweiter Hirtenbesuch stand bevor. Ich saß in einer Runde mit meiner Mutter und den beiden Ältesten aus meiner Versammlung, die mir erklärten, dass ich eines der Zehn Gebote gebrochen hätte und dass Jehova Gott wahnsinnig enttäuscht von mir sei. Welch Überraschung. Viele Bibeltexte wurden gelesen und an mich zahlreiche rhetorische Fragen gestellt, die ich nur zu gut kannte.
»Weißt du denn nicht, dass Stehlen eine Sünde vor Gott ist?«
Doch, weiß ich.
»Weißt du denn nicht, dass Diebe Gottes Königreich nicht erben werden?«
Doch, auch das weiß ich.
»Ist dir klar, dass du als ungetaufte Verkündigerin eine gewisse Verantwortung trägst und dass du Jehova schwer enttäuscht hast?«
Ja, Herrgott, das weiß ich.
Da die Ältesten zwar vorbildlich indoktriniert, aber dennoch nicht blind waren, war ihnen natürlich nicht entgangen, dass ich die letzten Jahre erhebliche Probleme mit meiner Mutter hatte. Sie wussten, dass nicht wirklich Klauen mein Problem war, sondern meine Familienverhältnisse. Auch wenn meine Mutter sich die letzten Jahre als Opfer und Märtyrerin aufgespielt hatte, so kam der Großteil der Versammlung nicht drum herum, sich insgeheim eingestehen zu müssen, dass nicht alles meine Schuld war. Daher wurden bei diesem Hirtenbesuch nicht nur mir Ratschläge erteilt, sondern auch meiner Mutter. Das gefiel ihr gar nicht, und sie war sich keiner Schuld bewusst.
Da offensichtlich unser gestörtes Verhältnis die Ursache für meine furchtbare Sünde war, wurde ihr nahegelegt, mehr Zeit mit mir zu verbringen und die Wahrheit auf etwas liebevollere Art und Weise in mein Herz zu pflanzen. Von nun an sollten wir täglich den Tagestext gemeinsam betrachten und danach zusammen frühstücken, ein Familienstudium durchführen und beten. Welch grausamer Gedanke. Nicht nur für mich, sondern auch für sie. So etwas hatten wir seit Jahren nicht mehr getan, was offensichtlich meine Schuld war. Genauso wie es meine Schuld war, dass sie, wie sie mir nach dem Ältestengespräch mitteilte, nun vor allen schlecht dastehe und ich nicht nur auf Jehova, sondern vor allem auch auf sie ein schlechtes Licht mit meiner Tat geworfen hätte. Sie schäme sich für mich und würde sich nun vor allen Glaubensgeschwistern rechtfertigen müssen, warum ich solch eine verachtenswerte Sünde begangen hätte. Das muss wohl auch der Grund dafür gewesen sein, dass sie jedem in der Versammlung brühwarm davon erzählte. Zu ihrer Verteidigung: Als in der kommenden Zusammenkunft von der Bühne verkündet wurde, dass ich von nun an keine ungetaufte Verkündigerin mehr sei, sah sie sich in Erklärungsnot. Die arme Frau. Ich schämte mich, und sie schämte sich noch mehr für mich. Aber wenigstens hatte sie in Valentino einen braven Diener Gottes als zukünftigen Partner in petto, der ihr eine rosige, hoffnungsvolle Zukunft versprach. Ein Lichtstreif am Horizont.
Als sie dann Valentino in Nürnberg besuchte und feststellte, dass er sie nur in die Nachbarversammlungen mitnahm und nicht in seine Heimatversammlung, wurde sie schließlich doch misstrauisch. Er hatte Kinder, aber keinen Kontakt zu ihnen, und bei Nachfragen seitens meiner Mutter verhielt er sich seltsam. Am Ende stellte sich heraus, dass er sein Ältestenamt verloren hatte und es irgendwelche Probleme gab. Somit hatte sich diese Geschichte von selbst erledigt. Meine Mutter beendete die Beziehung, und bald kehrte wieder Normalität ein. Zum Glück hatte sie in ihrem Übereifer nicht bereits eine Wohnung in Nürnberg gemietet.
Nach der Bekanntmachung, dass mir mein Vorrecht als ungetaufte Verkündigerin entzogen worden war, wurde ich wieder einmal von allen Seiten mit verachtenden Blicken gestraft. Viele Glaubensbrüder und -schwestern wollten Gespräche mit mir führen und machten mir deutlich, wie sehr ich sie alle und Jehova enttäuscht hatte. Alle wussten sie von meiner Tat, und ich brauchte nicht einmal zu versuchen, es zu verheimlichen. Ich war eine Versagerin. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich diese Nachricht auch in anderen Versammlungen. Als müssten alle treuen Diener vor mir, der reuelosen Sünderin, gewarnt werden, die der Teufel im Griff hatte. Ich stellte nun eine Gefahr für die geistige Gesundheit meiner Brüder und Schwestern dar. Wie der Vater, so die Tochter.
Johanna, die Glaubensschwester, bei der regelmäßig unsere Orchesterprobe stattfand, erzählte es brühwarm der Mutter von Dennis, mit dem ich noch immer Kontakt per Mail hatte. Sobald er davon erfuhr, war auch das Geschichte. Wie beschämend, dass er als treuer Theokrat, der die Schule zur dienstamtlichen Weiterbildung besuchte, sich jemals mit einer untreuen Möchtegern-Christin wie mir eingelassen hatte. Als ich Johanna, die ich trotz allem für eine Vertraute hielt, zur Rede stellte, war sie sich keiner Schuld bewusst. Immerhin, so sagte sie, müsse ich für meine Sünde geradestehen, und andere müssten gewarnt werden, dass ich im Glauben schwach sei. Meine Strafe sollte kein Ende nehmen.
Meine Mutter versank in Selbstmitleid, hatte ständig andere Beschwerden. Seit ich mich erinnern konnte, klagte sie unentwegt, ständig ging es ihr wegen irgendetwas schlecht, sodass sie nicht arbeiten, keinen Haushalt führen, nicht aufstehen oder gar das Licht anmachen konnte. Sie investierte viel Geld in Heilpraktiker, Pillen und Wässerchen aus diversen Heilpflanzen und kombinierte das Ganze mit verschreibungspflichtigen Medikamenten. Sie zappte unsere Lebensmittel und Cremes mit einer Art Brett oder energetischer »Wunderplatte«, um sie so reiner zu machen, und stellte selbst Zaubertränke wie kolloidales Silber her. Um das Übermaß an Homöopathie und Nahrungsergänzungsmitteln auszugleichen, stopfte sie gern Schokolade und andere Süßigkeiten in sich hinein. Ein Wunder, dass sie dennoch ihre schlanke Figur behielt. Aber in ihrem Gesicht machten sich unzählige Falten und riesige Pickel breit, die sie mit mehreren Schichten Make-up zu übertünchen versuchte, welches man nur mit einem Spachtel abbekam. Die Lippen waren vom verbitterten Aufeinanderpressen noch dünner geworden, als sie es von Natur aus waren. Da man sie kaum noch sah, betonte sie sie mit einem grellen pinkfarbenen Lippenstift. Ihre kurzen blonden Haare sprühte sie mit Haarspray ein, sodass sie in harten Strähnen zusammenklebten. Dazu noch ihr seltsamer Kleidungsstil, der ebenfalls viele grelle Farben beinhaltete, all das machte sie zu einer unübersehbaren Erscheinung. Ich war mehr und mehr auf mich allein gestellt. Das Zuhause, in dem ich mit ihr lebte, hatte sich für mich noch nie wie ein Zuhause angefühlt. Es war, als wäre ich bei ihr zu Gast. Aber nicht wie bei Freunden, nach dem Motto »Fühl dich wie zu Hause«, sondern eher, als wäre man bei einem Fremden, bei dem man am liebsten schnell wieder verschwinden möchte, aber nicht wegkann. Unwohl. Nennen wir es einfach unwohl. Im Vergleich zur Wohnung meines Vaters sah es bei uns unordentlich aus. Kartons mit Sachen standen fünf Jahre nach unserem Umzug immer noch ungeöffnet herum. Vieles war mit Kisten, Körben und Krimskrams zugestellt. Obwohl ich selbst in einem Alter war, in dem man sich eher darüber beschwerte, aufräumen zu müssen, fand ich die Unordnung abschreckend. Kein Wunder, dass ich nicht einsah, die Listen mit den Aufgaben, die sie für mich aufgeschrieben hatte, abzuarbeiten. Ich war für sie die Hausfrau, und so fühlte ich mich auch. Nun wollte ich nur noch ausziehen. Hätte ich mich genauso gehen lassen wie sie, wäre ich dazu bestimmt nicht bereit gewesen. Aber ich war bereit. Und hoffte, dass meine Ausbildung an einem Ort war, weit genug weg, damit meine Mutter nicht einfach unangemeldet vorbeischauen konnte. Das durfte ich nicht versauen, ich musste ein gutes Abschlusszeugnis haben, denn wenn ich es vergeigte, würde ich noch länger bei ihr bleiben müssen. Auf gar keinen Fall! Ich musste also Vollgas geben, um endlich von ihr wegzukommen. Da mich niemand sonst motivierte, musste ich das selbst tun. Ich musste für mich kämpfen, vernünftig sein und neue Dinge für mein eigenes Glück lernen.
Meine Bewerbungen liefen gut, und am Ende hatte ich von drei verschiedenen Bibliotheken in drei Bundesländern Zusagen. Nun stand eine Entscheidung an. Die Freiheit, nach der ich mich schon so lange sehnte, war zum Greifen nah. Mit der richtigen Wahl hätte ich mein Leben in völlig neue Bahnen lenken und einen Neuanfang wagen können. Es wäre so leicht gewesen. Eine Chance zum Greifen nah. Ich ließ sie vorüberziehen.