Kurz nach meinem achtzehnten Geburtstag, acht Monate nach meiner Taufe, trat ich meine erste richtige Reise an. Meine Freundin Amelie und ich flogen gemeinsam mit ihren Eltern nach Sardinien. Amelie war fast auf den Tag genau zwei Jahre jünger als ich, hatte von Natur aus eine braune Lockenmähne und ein schmales hübsches Gesicht mit eisblauen Augen. Dass ihre Eltern ebenfalls Zeugen waren, war der einzige Grund, warum meine Mutter die Reise genehmigte. Zwar wohnte ich schon länger alleine, aber als die Sardinien-Ferien geplant wurden, war ich noch minderjährig und sie mein Vormund. Aber meine und Amelies Mutter verstanden sich gut, also ließ sie mich mit gutem Gewissen den Urlaub antreten. Nicht dass es sie großartig gekümmert hätte, Hauptsache, sie musste kein Geld für mich ausgeben. Von meinem Ausbildungsentgelt zahlte ich meinen Teil selbst, aber Amelies Eltern waren echt großzügig und übernahmen ein paar der Kosten.
Amelie führte ebenso wie ich ein Doppelleben, wir rauchten zusammen und trafen uns mit Jugendlichen, die für uns verbotene Dinge taten. Wir beide hatten Phasen, in denen wir voller Eifer für die Wahrheit waren, gefolgt von denen, bei denen es so aussah, als würden wir den Versuchungen der Welt erliegen. Meistens war Amelie aber die brave, vorbildliche Christin gewesen, sie hatte sich auch schon vor mir taufen lassen. Ihr Vater war Ältester, und ihre Mutter eine fleißige Dienerin Gottes. Die besten Voraussetzungen, um eine Vorzeige-Glaubensschwester zu werden.
Obwohl sie erst sechzehn war, hatte sie mich jedoch in den letzten Monaten überholt, was das Sammeln von verbotenen Erfahrungen anging. Wir forderten uns oft gegenseitig heraus, und dadurch, dass ich alleine wohnte, hatte ich scheinbar mehr Möglichkeiten, das Doppelleben in vollen Zügen zu genießen. Aber Amelie war schon eine Weile nicht mehr das brave, naive Mädchen, das leicht von meinen Erfahrungen zu beeindrucken war. In vielen Dingen nahmen wir uns nichts mehr, und jetzt beeindruckte sie mich. Die Schülerin war zur Meisterin geworden. Hatte die Meisterin sogar überholt. Denn sie hatte eine Erfahrung gemacht, mit der ich bisher nicht mithalten konnte: Jungs. Oder besser gesagt: Männer. Das andere Geschlecht war für mich nach wie vor ein rotes Tuch, und mir boten sich auch nicht wirklich Gelegenheiten. Die Kerle in meiner Berufsschulklasse waren mir zu kindisch, ich fand sie ziemlich unattraktiv, außerdem wäre es nur blamabel gewesen, etwas mit einem von ihnen anzufangen. Immerhin hatten sie im Gegensatz zu mir sicherlich einiges an Erfahrungen in diesen Dingen gesammelt, und ich wollte mich nicht vor jemandem blamieren, den ich regelmäßig wiedersah oder der sich vor anderen über mich lustig machen konnte. Also ersparte ich mir das.
Der Urlaub mit Amelie bot mir die Chance, etwas aufzuholen. Wir bewohnten ein kleines Bauernhaus am Rand eines Berges, etwa fünf Kilometer vom Strand entfernt. Die nächstgelegene Stadt war San Teodoro, und eines Abends fuhr Amelies Mutter mit uns im Mietwagen in dieses wunderschöne Städtchen. Es war Markt, in den Straßen wuselten die Leute, und es wurde laute Musik gespielt. Überall waren Stände mit Süßigkeiten, handgemachtem Schmuck und Souvenirs aufgebaut. Die Stadt war trotz der Nacht hell erleuchtet und zum Leben erwacht.
Die Mutter meiner Freundin setzte uns ab, und wir bahnten uns unseren Weg durch die Gassen. Irgendwann gingen wir in dem Getümmel verloren. Wir betraten einen kleinen Laden und kauften Zigaretten. Mein Herz pochte bis zum Hals, und Amelie sah sich draußen nach ihrer Mutter um. Niemand da. Dieser Kick turnte uns wahnsinnig an. Ich packte die Zigaretten in meine kleine Umhängetasche, und wir verließen den Laden.
Wir liefen durch eine kleine Gasse und standen plötzlich an der Promenade. Hier war es dunkler, und es waren nicht so viele Menschen unterwegs. Wir zündeten uns eine Zigarette an, nachdem wir uns vergewissert hatten, dass niemand in der Nähe war. Ich machte die ersten Züge, dann gab ich die Zigarette Amelie. Sie tat es mir gleich und gab mir die Zigarette zurück, deren Filter nun feucht war.
»Spuck doch nicht immer so die Zigarette an, das ist ja eklig«, sagte ich angewidert, musste dabei aber lachen, weil sich die Situation so befreiend anfühlte.
»Ich spuck die nicht an, das passiert einfach.« Amelie verzog das Gesicht, nachdem sie beim Sprechen versehentlich den Rauch eingeatmet hatte, und hustete kurz.
Ich kicherte und sagte dann mit Blick auf das tiefschwarze Meer: »Hättest du jemals gedacht, dass wir irgendwann hier sitzen und eine Zigarette rauchen? Dass sich unser Leben so entwickelt und wir so böse werden?«
Amelie sah mich an und überlegte kurz. Dann erwiderte sie: »Wir waren noch nie normal. Selbst in der Versammlung waren wir doch schon immer die Außenseiter. Hanna oder Melanie und alle anderen eigentlich auch wollten doch nie wirklich was mit uns zu tun haben. Sie haben nur auf uns herabgesehen.«
Amelie hatte recht. »Stimmt. Eigentlich war von Anfang an klar, dass wir irgendwann zusammen dasitzen und sündigen.« Ich lachte über meine eigene Aussage, weil mir in dem Moment klar wurde, wie wahr sie war. Wir waren nicht Teil der Glaubensfamilie. Nicht richtig. Egal, was wir taten und wie sehr wir uns bemühten, wir waren anders und passten nicht ins Bild.
Kurz vor unserem Urlaub war ich bei Amelie gewesen, und wir besuchten gemeinsam ihre Versammlung in Erfurt. Auf der Fahrt dorthin sagte Amelies Vater, dass sie, seine Tochter, aussähe wie eine Nutte. Der Grund dafür war, dass ihr Rock beim Sitzen übers Knie gerutscht war. Dieser Moment war prägend für uns beide. Ihr Vater war sonst immer still und hatte tolerant gewirkt, aber diese Worte aus seinem Mund waren für Amelie wie ein Schlag ins Gesicht. Und »Nutte« gehört auch nicht in den Sprachgebrauch eines treuen und loyalen Ältesten. Nach dieser Äußerung brach ein heftiger Streit zwischen Amelies Mutter und ihrem Vater vom Zaun, während wir beide auf der Rückbank im Auto saßen und uns schweigend ansahen. In diesem Moment dachten wir wohl dasselbe: Wir wollen das nicht mehr!
Diese Erinnerung im Kopf, schaute ich Amelie an. Und ich war in diesem Moment glücklich, mit ihr hier zu sein. Der kühle abendliche Sommerwind kitzelte unsere nackten Schultern und fuhr unter unsere Kleider, während sich das Meersalz in der Luft mit dem Geschmack der Zigarette auf unserer Zunge mischte. Es war ein magischer Augenblick.
»So muss sich Freiheit anfühlen«, rief ich laut in die Dunkelheit hinein. Ich schnippte die Zigarette weg und bot Amelie einen Kaugummi an.
»Na komm, lass uns zurückgehen. Hier ist es ziemlich windig, und ich habe Hunger«, sagte sie.
Bald waren wir wieder auf der hell erleuchteten Straße und sahen uns an ein paar Ständen die gefälschten Handtaschen an. Schließlich setzten wir uns vor ein Restaurant und teilten uns eine Pizza. Wir tranken jeder einen Cider, dann zogen wir weiter. Am Ende der Straße war eine Karaokebar, und wir standen eine Weile davor und hörten einer wahnsinnig talentierten Italienerin beim Covern eines Songs zu. Ich wollte auch unbedingt singen, und Amelie ermutigte mich. Musik faszinierte mich, und ich sang tagtäglich in meiner Wohnung lauthals vor mich hin. Wir setzten uns, und als »Unfaithful« von Rihanna gespielt wurde, war ich an der Reihe. Ich war extrem nervös, aber ich wusste, dass mich hier niemand kannte. Also sang ich, so gut ich konnte.
Wir tranken noch einen Cider und hörten gespannt den Sängern zu, die danach dran waren. Manche von ihnen waren richtig klasse. Ich kannte viele der Lieder nicht, und Amelie ging es ähnlich. In diesem Moment wurden wir wieder daran erinnert, wer wir waren und warum wir diese Lieder nicht kannten. Nicht wegen unseres Alters, sondern weil es weltliche Musik war.
Als plötzlich »LoveGame« von Lady Gaga einsetzte, gab mir Amelie das Mikrofon, und ich musste singen, obwohl ich den Text kaum konnte. Ich sang erbärmlich falsch. Aber es war lustig. Lachend verließen wir die Bar. Wir hatten noch etwas Zeit, bevor wir zurück zur Unterkunft fahren sollten, also setzten wir uns erneut vor eine Bar, wo wir einen leeren Tisch entdeckten. Die Straße war voll von Menschen, und wir waren wie berauscht von all dem Leben um uns herum. Und vom Cider. Wir zündeten uns abermals eine Zigarette an. Der Kellner kam, und Amelie bestellte eine Cola und ich noch einen Cider. Ich gab Amelie die Zigarette und kramte in meiner Tasche nach dem Labello.
Plötzlich hörten wir neben uns eine Stimme. »Was zum …« Wir drehten uns panisch um. Es war Amelies Mutter. Alarmglocken schrillten in meinem Kopf. Amelie drückte die Zigarette in den Aschenbecher, aber es war zu spät. Ihre Mutter hatte uns erwischt. Sie war außer sich vor Empörung, und wir stammelten etwas davon, dass uns der Kellner die Zigarette angeboten hatte und wir aus Höflichkeit nicht ablehnen wollten. Sie glaubte uns nicht, und es gab einen heftigen Streit. Wir beteuerten weiter, dass es das erste Mal sei, dass wir rauchten, und dass wir es gar nicht wollten, aber sie bestand darauf, sofort zu gehen. Auf der Autofahrt zu unserem Ferienhaus hielt uns Amelies Mutter einen langen Monolog, es ging allein darum, wie enttäuscht sie und Jehova von uns seien, von angestrengter Stille überschattet. Wir wussten nicht, was wir noch sagen sollten.
Wir hatten Angst, dass dieser Vorfall irgendwelche Konsequenzen haben könnte, aber ein paar Tage später war er scheinbar vergessen. Wir besuchten mit ihren Eltern die Zusammenkünfte der ortsansässigen Versammlung in Sala del Regno dei Testimoni di Geova und versuchten, aufmerksam zuzuhören, obwohl wir kein Wort Italienisch verstanden. Die Brüder und Schwestern freuten sich über unseren Besuch und machten Fotos mit uns. Uns überkam für einen Moment ein schlechtes Gewissen, als uns bewusst wurde, welcher großen geistigen Familie wir doch angehörten und dass wir drauf und dran waren, uns das mit unserem sündigen Verhalten kaputtzumachen.
Reue und Gewissensbisse hielten nicht lange an, und so kam es, dass Amelie und ich uns ein paar Tage später in einer benachbarten Stadt wieder von den Begierden des Teufels verleiten ließen. Wir trafen auf eine Gruppe junger Italiener, mit denen wir uns in gebrochenem Englisch unterhielten und zusammen Schnaps tranken. Wir gingen in eine Gasse, rauchten und fanden es toll, von den Jungs beachtet zu werden.
Es war so weit. Ich hatte endlich die Chance, aufzuholen. Ich knutschte mit einem Jungen namens Dario rum, und Amelie mit einem seiner Freunde. Dario und ich konnten die Finger nicht voneinander lassen, und so geschah es, dass er mit seiner Hand unter meine cremefarbenen Shorts zwischen meine Beine wanderte. Ich zog ihm seine Hose ein Stückchen herunter und tat etwas, das ich noch nie zuvor getan hatte. Pompino. Italienisch für Blowjob. Ich lutschte meine Schuldgefühle weg und ergab mich dem inneren Drang, diese Art von Erfahrungen sammeln zu müssen. Immerhin war ich schon achtzehn, es wurde Zeit. Bis zur Ehe warten war schon lange keine Option mehr, und ich wollte nicht länger das junge unerfahrene Mädchen sein. Ich fühlte mich nicht wohl dabei, aber ich wollte es unbedingt, um mir etwas zu beweisen. Als ich aus dem Augenwinkel sah, wie Amelie mit Darios Kumpel in einem verlassenen Hauseingang verschwand, hörte ich auf und lief ihr hinterher.
»Was hast du vor?«, fragte ich sie.
»Ich will es tun«, antwortete Amelie.
Trotz meines Drangs, selbst all die verbotenen Sachen zu machen, dachte ich, dass das dann doch irgendwie zu viel und zu schnell sei.
»Wir müssen los«, sagte ich und zog sie von dem Italiener fort. Wir gingen ein paar Meter, und ich merkte, dass Amelie betrunken war. An einem Pizzastand hielt ich an und bestellte uns die billigste Pizza auf der Karte, da ich kaum noch Geld übrig hatte. Ich dachte, es wäre eine Pizza Margherita, aber wir bekamen nur einen Pizzaboden mit Gewürzen.
»Iss schnell auf«, sagte ich, weil wir uns gleich mit ihrer Mutter treffen sollten und Amelie auf gar keinen Fall so betrunken sein durfte. Die Pizza half nicht viel, und Amelie saß auf dem Bordstein wie ein Schluck Wasser.
Natürlich bemerkte ihre Mutter, dass sie betrunken war, und zog mich zur Rechenschaft. Ich versicherte ihr, dass ich nicht bemerkt hätte, wie viel Amelie getrunken hatte, und dass es mir leidtue. Ihre Mutter war stinksauer, glaubte, ich hätte einen schlechten Einfluss auf ihre Tochter. Als Amelie sich später übergab, hatte ich wieder einmal ein extrem schlechtes Gewissen. Ich hatte vergessen, dass sie erst sechzehn war, und ich fühlte mich furchtbar, weil ich sie in diese Situation gebracht hatte. Wenigstens hatte ich sie davon abhalten können, noch intimer mit diesem Italiener zu werden.
Am nächsten Tag lachten wir beide darüber und freuten uns, den besten Abend unseres Lebens gehabt zu haben. Es kam uns vor, als wären wir Kriminelle, und wir genossen das Gefühl, durch ein weiteres Geheimnis verbunden zu sein. Wir kicherten noch über die Jungs, als wir nackt in der Sonne lagen.
»Spürst du auch diesen Kick, wenn wir etwas tun, was wir nicht tun dürfen?«, fragte sie.
»Natürlich, und wie! Am Anfang hatte ich ziemliche Schuldgefühle, vor allem, als du mit dem Typ im Hauseingang verschwandst. Aber jetzt, im Nachhinein, finde ich, wir hatten eine richtig geile Zeit«, sagte ich.
»Haha, ich war ziemlich besoffen, aber es war so irre, dass wir machen konnten, was wir wollten.«
»Immerhin ist es für alle anderen normal. Hast du manchmal ein schlechtes Gewissen wegen Jehova?« Gespannt wartete ich auf ihre Reaktion.
»Nee, nicht wirklich. Manchmal ganz kurz wegen meiner Mum, aber nicht wegen der Versammlung. Die anderen sind sowieso alles Heuchler und machen viel Schlimmeres, also warum sollen wir uns schlecht fühlen?«
Ich nickte stumm. Sie hatte recht. Wir kannten beide die Leichen im Keller von vielen anderen Zeugen. In den Zusammenkünften taten sie so, als wären sie Jesus höchstpersönlich, aber in ihrer Freizeit machten sie Dinge, dagegen waren wir noch harmlos. Das wussten wir beide. Ein schlechtes Gewissen war also überflüssig. Und dennoch ließ es einen nie los.
Nach ein paar Tagen flogen wir von Sardinien nach Mailand, um dort noch ein paar letzte Tage zu verbringen. Amelie und ich hatten ein eigenes Hotelzimmer, und so konnten wir abends wieder losziehen, auf der Suche nach neuen Erfahrungen und teuflischen Versuchungen. Amelie wollte unbedingt jemanden finden, der Gras hatte, aber auch das war eine Sache, bei der ich nicht mitreden konnte. Schließlich lernten wir erneut ein paar verrückte Typen kennen, tranken zu viele Cocktails in einer Bar und trafen in den Morgenstunden auf schwedische Studenten, die mit uns warteten, bis die Gitter der U-Bahn öffneten und wir zurück zum Hotel konnten. Wir klauten einem Typen die Sonnenbrille, fanden eine Kreditkarte und hauten vor einem verrückten Mofafahrer ab, der uns ein paar Blocks verfolgte. In diesen wenigen Tagen erlebten wir so unglaublich viel wie nie zuvor. Es erschien uns, als würde uns erst jetzt bewusst werden, wie riesig doch die Welt war und dass wir bisher in einem Käfig lebten.
Wir erzählten niemandem von den Dingen, die in diesem Urlaub geschehen waren. Wir teilten beide die Angst vor Konsequenzen, nicht nur durch Amelies Eltern, sondern auch durch die Versammlung. Ein Rechtskomitee oder Hirtenbesuche konnte keiner von uns gebrauchen. Wir hatten zu viel zu verlieren. Da wir auch nicht wussten, wem von den Weltmenschen wir trauen konnten, schworen wir uns, unsere Geheimnisse auf ewig zu begraben. Aber nach dieser Reise sollten wir nie wieder dieselben sein. Wir hatten von der Freiheit gekostet, und es war uns unmöglich, ihren Geschmack zu vergessen.
Während Amelie zurück in Erfurt ihr Leben lebte, litt ich wie üblich. Obwohl es mir Spaß gemacht hatte, fühlte ich mich wieder schlecht und unwürdig. Nach meiner Taufe hatte ich doch ein besserer Mensch werden wollen, eine treue Christin ohne Sünde – und was war passiert? Kaum waren acht Monate vergangen, hatte ich schlimmer gesündigt als je zuvor. Schon wieder war ich eine Enttäuschung für Gott. So konnte es nicht weitergehen. Das Auf und Ab aus schlechtem Gewissen, Scham und dem verzweifelten Versuch, endlich eine perfekte Dienerin Gottes zu sein, nahm abermals seinen Lauf.
Es war ein Teufelskreis. Ich versuchte, noch fleißiger und aufrichtiger zu sein, aber ich wusste, ich konnte von meinen Sünden nicht reingewaschen werden, solange ich sie nicht gestand und bereute. Nur würde das auf gar keinen Fall passieren. Nie würde ich zu den Ältesten gehen und haarklein erzählen, was ich getan hatte. Niemals! Das würde Folgen haben. Alle würden wieder wissen, dass ich versagt hatte, dass mein Glauben schwach war. Also machte ich es weiter mit mir selbst aus.
Ein paar Monate später wurde Amelie ausgeschlossen. Meine Amelie. Trotz unseres Doppellebens und all der Dinge, die passiert waren, dachte ich, es würde einfach so weitergehen. Ich hätte nicht im Traum daran gedacht, dass sie diesen Schritt wagen könnte, zumal ihre Eltern Zeugen waren und sie wusste, was ein Ausschluss bedeutete. Sie wusste doch, dass ich dann nie wieder mit ihr reden durfte.
Die ganzen Jahre war sie an meiner Seite gewesen, egal, wie groß die Entfernung zwischen uns war. Wir hatten davon geträumt, zusammen in eine WG zu ziehen, beste Freundinnen für immer. Im irdischen Leben und auch im Paradies. Als ich auf der Suche nach einer Ausbildung war, hatte ich mich bei ihr in Erfurt beworben und hätte die Stelle auch bekommen. Aber leider war meine Mutter nicht einverstanden gewesen, und so hatte ich keine Wahl. Wäre ich damals nach Erfurt gegangen, überlegte ich, hätte sich Amelie sicher nicht gegen die Wahrheit entschieden.
Die Nachricht hatte mich wie ein Donnerschlag getroffen. Per WhatsApp hatte ich von ihrem Ausschluss erfahren, und ich musste die Konsequenzen ziehen, die ich nur zu gut kannte. Ich versuchte, sie zu überreden, bei den Zeugen zu bleiben, brachte all die Argumente an, von denen ich wusste, dass sie sie nur zu genau kannte.
»Amelie, willst du wirklich die Chance auf ein ewiges Leben im Paradies verlieren? Willst du deine Eltern, alle deine Freunde, mich verlieren? Willst du wirklich sterben, wenn Harmagedon kommt? Weißt du, wie enttäuscht Jehova von dir sein wird?«
»Sophie, du meinst es nur gut«, sagte Amelie mit sanfter Stimme. »Du weißt selbst, dass niemand einfach so geht. Ich bin mir sehr sicher, ich habe lange darüber nachgedacht, aber ich kann nicht das Leben meiner Eltern führen. Ich möchte mein eigenes Leben haben. Außerdem weißt du, was wir alles getan haben, und ich habe keine Lust, mich länger zu verbiegen, nur um anderen zu gefallen. Ich will endlich die Dinge tun, die mich glücklich machen. Und ich will nicht immer in Sorge sein, bei Sachen erwischt zu werden, die für andere selbstverständlich sind.«
»Aber dann werden wir uns nie mehr wiedersehen!«, warf ich verzweifelt ein. »Dann ist es so wie bei meinem Vater.«
»Sophie, ich kann nicht wegen dir bei den Zeugen Jehovas bleiben. Das geht nicht«, sagte Amelie traurig.
»Noch vor einem Jahr, bei meiner Taufe, haben wir uns in den Armen gelegen und waren überglücklich darüber, das beste Leben zu führen, das ein Mensch haben kann. Gesegnet von Jehova Gott und auserwählt, zu seinem Volk gehören zu dürfen. Ich verstehe es nicht. Du bist von klein auf mit den Lehren, Hintergründen und Prinzipien des Glaubens vertraut. Jehova Gott war genau wie bei mir der Mittelpunkt deines Lebens. Auch wenn wir uns nicht immer an die Gebote gehalten und Scheiße gebaut haben, wussten wir doch trotzdem, dass das die Wahrheit ist, oder? Was ist passiert?« Zugleich dachte ich: Wenn Amelie es nicht schafft, treu zu bleiben, wie soll ich das dann schaffen? Sie hat im Gegensatz zu mir Eltern, die alles dafür tun, dass sie stark im Glauben ist.
»Ich will meine eigenen Gedanken haben und sie mir nicht verbieten lassen.«
Das war meine zweite Glaubensprüfung. An diesem Abend lag ich abermals lange wach und konnte nicht schlafen. Ich ging das Gespräch mit Amelie wieder und wieder durch. Auch wenn ich selbst von Schuldgefühlen zerfressen wurde, war ich doch beeindruckt von ihr. Sie hatte den Mut, eine Entscheidung zu treffen, und war nicht wie ich die ganze Zeit hin- und hergerissen zwischen dem Sog der Welt und dem Drang nach Vergebung. Sie hatte sich selbst befreit und konnte nun tun und lassen, was sie wollte. Sie zog bei ihren Eltern aus und ein in eine WG und lebte von nun an ihr eigenes Leben.
Obwohl ich den Kontakt zu ihr abbrechen musste, hörte ich doch nie auf, an sie zu denken. An all die Momente, die wir zusammen erlebt hatten. War ich nicht diejenige, die sie zu all den bösen Dingen verleitet hatte? Ohne mich wäre sie vielleicht heute noch eine treue Dienerin Jehovas. Oder vielleicht doch nicht? War es womöglich besser für sie, dass sie diese Entscheidung getroffen hatte? War das der richtige Weg? War ich eventuell diejenige, die an einem Irrglauben festhielt, sich täuschen und manipulieren ließ?
Meine Gedanken überschlugen sich. Aber eines war klar: Ich war wirklich eine elende Heuchlerin. Seit Jahren versuchte ich erfolglos, der Mensch zu sein, den alle von mir erwarteten. Gott. Meine Glaubensbrüder. Meine Mutter. Ich selbst. Aber das war ich nicht. Ich schaffte es nicht. Weil ich es nicht konnte? Oder weil ich es nicht wollte? Wann würde ich endlich einsehen, dass der Versuch zwecklos war?
In den Publikationen der Zeugen Jehovas gibt es oft Erfahrungsberichte von Personen, die die verschiedensten Hürden im Leben als treue Diener Gottes gemeistert haben und beispielhaft und loyal im Glauben vorangehen. Sie sollen die Verkündiger, die sich in ähnlichen Lebenslagen befinden, ermuntern und ihnen beweisen, dass mit Gottes Hilfe alles gut wird, wenn der eigene Glaube nur stark genug ist. In der Studienausgabe des Wachtturms vom März 2018 mit dem Titel Lass dich von Jehova erziehen und werde weise wurde auch darüber berichtet, wie man sich gegenüber ausgeschlossenen Familienmitgliedern zu verhalten hat:
Eine der größten Prüfungen für manche Eltern hat mit dem Verhalten gegenüber einem ausgeschlossenen Kind zu tun. Eine Mutter, deren ausgeschlossene Tochter von zu Hause auszog, gibt zu: »Ich suchte nach Schlupflöchern in unseren Veröffentlichungen, um mit meiner Tochter und mit meiner Enkelin Zeit zu verbringen.« Dann sagt sie: »Aber mein Mann erklärte mir liebevoll, dass wir es nicht mehr in der Hand haben, wie es mit unserem Kind weitergeht, und dass wir uns nicht einmischen dürfen.«
Einige Jahre später wurde die Tochter wiederaufgenommen. »Sie ruft mich jetzt fast jeden Tag an – oder sie schreibt mir«, erzählt die Mutter. »Und sie hat großen Respekt vor meinem Mann und mir, weil wir Gott gehorcht haben. Jetzt haben wir wieder ein richtig gutes Verhältnis.« Hast du ein ausgeschlossenes Kind? Vertraust du dann »auf Jehova mit deinem ganzen Herzen, und stützt dich nicht auf deinen eigenen Verstand«? (Spr. 3:5, 6). Denk daran: Jehovas Erziehungsmaßnahmen sind ein Beweis seiner unvergleichlichen Weisheit und Liebe. Er gab seinen Sohn für jeden von uns – auch für dein Kind. Unser himmlischer Vater möchte nicht, »dass irgendjemand vernichtet werde« (Lies 2. Petrus 3:9). Vertraue also Jehova und folge seiner Anleitung, selbst wenn es schmerzlich ist. Arbeite in Erziehungsfragen immer mit Jehova zusammen, nicht gegen ihn.
Lese ich solch eine rührende Erfahrung, kommen mir fast die Tränen. Nicht vor Freude, weil mir warm ums Herz wird. Nein. Sondern weil ich mir sicher bin, dass so etwas nie passiert ist und mir diejenigen, die das glauben, leidtun. Ich kannte damals und kenne auch heute niemanden, der zur Wahrheit zurückgekehrt ist. Mit diesen Berichten, die meiner Meinung nach erfunden sind, wird den Menschen, die jemanden durch einen Ausschluss verloren haben, vorgegaukelt, sie haben das Richtige getan. Sie werden manipuliert, und es wird endlos Hoffnung in ihren vernarbten Herzen geschürt, dass die abtrünnigen, aber geliebten Menschen irgendwann Reue bekunden und umkehren. Vorausgesetzt, sie sind treue Diener Gottes, die sich an die Spielregeln halten und aus Liebe keinerlei Kontakt zu den Ausgeschlossenen haben.
Mir wurde eingeredet, ich hätte das Richtige getan. Jehova wäre stolz auf mich, Jesus, die Ältesten, meine Glaubensbrüder und -schwestern könnten stolz auf mich sein. Auch ich könne stolz auf mich sein. War ich aber nicht. Es war eher so, als hätte ich meinen einzigen Vater und meine beste Freundin verraten. Verlogene Heuchlerin.