»Nun komm schon mit, du bist jetzt achtzehn, du darfst in einen Club, niemand kann es dir verbieten.« Mandy, die fast jedes Wochenende irgendwo feierte, wollte mich überreden, mich ihrer Clique anzuschließen. Sie war eines der Mädchen aus der Berufsschule, mit dem ich mich gut verstand und das von meiner Religion wusste und sie auch relativ akzeptierte. Mandy war drei Jahre älter als ich, hatte ebenholzschwarze Haare, blasse Haut, ein feenhaftes Gesicht und war immer top gestylt. Ihre Stimme war weich, ihr Blick verführerisch, und sie erinnerte mich oft an Schneewittchen. Sie wirkte wie eine kleine Prinzessin, war beliebt und amüsierte sich gern. Sie wohnte noch bei ihren Eltern, die ihr einziges Kind gern und oft verwöhnten.
»Aber ich war noch nie in einer Disco und bin da sicher absolut fehl am Platz«, widersprach ich. »Ich hab doch gar keine Ahnung, wie das abläuft oder was ich anziehen soll. Am Ende halten mich deine Leute noch für verrückt. Oder dich, weil du mich im Schlepptau hast.«
»Blödsinn. Je mehr du dich verkriechst, umso merkwürdiger wirst du. Noch ist nichts zu spät. Also, abgemacht, bist du dabei?«
Ich nickte. Warum nicht? Warum nicht mal ein Club? Ich wollte keine Außenseiterin sein. Ich wollte Erfahrungen sammeln und mich normal fühlen.
In dieser Zeit begann ich auch mit der Fahrschule, unbedingt wollte ich einen Führerschein machen, ein weiterer Schritt in die Freiheit. Der Unterrichtsraum war nur ein paar Minuten zu Fuß von meiner Wohnung entfernt. In meinem Theoriekurs gab es einen Jungen, der extrem viel Energie hatte, extrovertiert war und nur ein paar Häuser entfernt von mir wohnte. Sein Name war Steve. Spitzname Stiefel. Stiefel war sehr dünn, wog ungefähr sechzig Kilo bei einer Größe von einem Meter achtzig. Er hatte braune gestylte Haare mit abrasierten Seiten. Seine Kleidung war modern, und er zeigte gern seinen Körper, an dem kein Gramm Fett zu sehen war. Muskelstränge, so weit das Auge reichte. Nicht weil er viel Sport machte, sondern weil er einfach kein Fett aufbaute. Er wirkte noch sehr jung, in seinem hübschen Gesicht waren ein paar kleine Pickelchen erkennbar, und sein Bart war eher zarter Flaum. Ich fand ihn süß. Auf platonische Weise.
Irgendwann nach unserem Unterricht verwickelte er mich in ein Gespräch, während wir zusammen in Richtung meiner Wohnung gingen. Wir hatten ja dieselbe Strecke. Er war unglaublich lustig, selbstbewusst, authentisch und offen, ohne zu zögern erzählte er mir von sich und seinem Leben. Jegliche Schüchternheit meinerseits legte ich sofort ab.
Es gab an Stiefel etwas, mit dem ich bislang nie konfrontiert worden war. Er war anders. Schwul. Stiefel war schwul. Er stand dazu, lebte es aus und genoss sein Dasein als homosexueller Mann in vollen Zügen. Was mich jedoch in einen Konflikt brachte. Mir war eingetrichtert worden, dass Jehova Männer verabscheue, die bei männlichen Personen lägen. Das sei Sünde.
Wie immer hatten sie das in den Versammlungen geschickt aufgezogen: »Manche meinen, die Bibel schüre Vorurteile gegen Homosexuelle, und wer sich an die Sexualmoral der Bibel hält, sei intolerant. Sie sagen vielleicht: ›Als die Bibel geschrieben wurde, waren die Menschen noch nicht so tolerant. Aber heute akzeptiert man jede Hautfarbe, Nationalität und sexuelle Ausrichtung.‹ Homosexualität abzulehnen ist für sie das Gleiche, wie einen Menschen anderer Hautfarbe abzulehnen. Doch sie übersehen einen entscheidenden Punkt. Es ist ein Unterschied, ob man das homosexuelle Verhalten ablehnt oder den Menschen. Die Bibel fordert Christen dazu auf, jeden Menschen zu respektieren. Das bedeutet allerdings nicht, dass sie auch jedes Verhalten akzeptieren müssen.
Dazu ein Vergleich: Angenommen, man findet Rauchen schädlich und abstoßend, aber ein Arbeitskollege raucht. Würde man als intolerant gelten, nur weil man übers Rauchen anders denkt als er? Würde es automatisch bedeuten, dass man Vorurteile gegen ihn hat? Was aber, wenn der Arbeitskollege verlangen würde, dass man den eigenen Standpunkt ändert: Wäre dann nicht er intolerant?
Jehovas Zeugen wollen sich an die Sexualmoral der Bibel halten, und deshalb lehnen sie alle Handlungen ab, die in der Bibel verurteilt werden.«
Nie zuvor hatte ich einen Menschen mit homosexueller Neigung kennengelernt, was wahrscheinlich daran lag, dass ich fast nur von Zeugen umgeben war. Ja, ich hatte mich in meiner Pubertät selbst mit Hanna ausprobiert, und mir gefielen weibliche Körper. Das war aber eher den Umständen und mangelndem männlichen Einfluss und fehlenden Möglichkeiten geschuldet. Ich hielt mich nicht für lesbisch.
Jetzt war da Stiefel, von dem ich wusste, dass er das Paradies auf gar keinen Fall erleben würde. Er war ein Mensch, der falsche Dinge tat, Dinge, die Gott verabscheute. Ich wusste, dass er schlechter Umgang war. Aber es fühlte sich nicht so an. Ich hatte noch nie zuvor einen Menschen getroffen, der so voller Lebensfreude war. Stiefel wirkte so souverän, war aber dennoch emotional und empathisch. Er war lebendig. Je mehr Zeit ich mit ihm verbrachte, umso mehr fiel mir auf, wie tot und leer doch im Gegensatz zu ihm die Menschen im Königreichssaal waren.
Stiefel wollte oft Zeit mit mir verbringen, wollte viel mit mir spazieren gehen. Da er manchmal unangemeldet vorbeikam, gab es Tage, an denen ich ihn abwimmeln musste. Diese Tage waren der Freitag und der Sonntag. Denn an diesen Tagen fuhr ich mit Rita, der Freundin meiner Mutter, nach Leipzig in den Königreichssaal und besuchte die Zusammenkünfte. Ich wollte nicht, dass Stiefel von meiner Religion erfuhr. Er war der erste Mensch, der Interesse an mir hatte, ohne von meinem Glauben zu wissen, und mich so völlig unvoreingenommen einschätzen konnte. Ich schämte mich, von meiner Religion zu erzählen, und wollte wissen, ob ich vor einem normalen Menschen bestehen konnte. Nahm er mich als einen Freak wahr? Merkte er, dass etwas an mir anders war? Dennoch genoss ich es sehr, Zeit mit jemandem zu verbringen, der nichts von diesem Teil meines Lebens wusste. Und kurioserweise konnte ich bei ihm wirklich ich selbst sein. Obwohl er das, was mich ausmachte, nicht wusste. Verrückt.
Eines Nachmittags, der Unterricht an der Berufsschule war vorbei, war ich mit Jana zum Predigtdienst eingeteilt. Für den Rückweg nahmen wir die Straßenbahn. An einer Haltestelle stieg Stiefel ein. Ich grüßte ihn kurz, unterhielt mich aber weiter mit Jana. Ein paar Haltestellen später verließen wir die Straßenbahn, Jana ging zu Fuß nach Hause, während ich weiter zur S-Bahn-Haltestelle lief, denn mein Wohnort war noch ein Stück entfernt. Stiefel, der auch ausgestiegen war, aber sich hinter uns befunden hatte, holte mich ein.
»Wer war denn die Frau?«, fragte er.
»Eine Bekannte«, erklärte ich knapp.
Damit schien er sich zufriedenzugeben.
Zum Glück fragte er nicht, warum wir beide hässliche Wollröcke trugen und flache braune Schuhe. Auch meine Predigtdiensttasche, eine Umhängetasche, in die perfekt die Broschüren passten, fiel ihm nicht als solche ins Auge. Ich war erleichtert, nichts mehr zu der seltsamen Situation sagen zu müssen. Aber noch mehr war ich darüber erleichtert, dass Jana nicht bemerkt hatte, dass ich mit diesem offensichtlich schwulen Jungen redete, der ein riesiges Bild von einem halb nackten Jared Leto mit sich herumtrug, ein Geburtstagsgeschenk für eine Freundin.
Stiefel zündete sich auf dem Weg zum Bahnhof eine Zigarette an. Ich drehte mich reflexartig um, um zu sehen, ob Jana schon weg war. Hätte meine Glaubensschwester das beobachtet, hätte mir das ein Gespräch zum Thema falsche Freunde beschert. Ich wollte nicht, dass mich jemand mit Stiefel sah, und dieser Gedanke beschämte mich. Nicht wegen ihm, sondern wegen mir. Auch wenn wir bei uns im Ort spazieren gingen, hoffte ich immer, dass uns Rita nicht sah. Sie war eine der wenigen Zeugen in der Gegend, aber sie wohnte nebenan – und ich war paranoid. Doch das konnte ich Stiefel gegenüber unmöglich zugeben. Also war ich auf der Hut und hoffte, dass uns niemand begegnete, der misstrauisch hätte werden können.
Aber es gab auch einige Veranstaltungen und Aktivitäten, bei denen ausschließlich junge Zeugen anwesend waren. Bei ihnen musste ich mir keine Sorgen machen, ob sie guter Umgang waren. Denn jeder noch so untätige und faule Zeuge war besser als ein Ungläubiger. Einmal im Jahr trafen sich viele am Edersee, zum Winterball, in Marienberg zum Baden oder auf anderen Zeugenpartys. Da ein paar der Singlefreundinnen meiner Mutter auch Kinder hatten, kannte ich einen Bruder, der ein paar Jahre älter war als ich und mich mit nach Chemnitz zu einer Feier nahm. Er holte mich in seinem Auto von zu Hause ab, und an jeder roten Ampel knutschte ich mit ihm herum.
Die Party war lustig. Der DJ spielte weltliche Lieder, und Pärchen tanzten eng umschlungen – manche von ihnen nicht mehr ganz nüchtern – auf dem Dancefloor. Ich war zwar umgeben von gleichgesinnten Christen, aber es fühlte sich nicht so an. Dieser Abend passte eher zu meinem Doppelleben als zu dem der treuen Christin, die ich sonst vorgab zu sein. Ich lernte an diesem Abend sogar einen jungen Mann kennen, der Dienstamtgehilfe war. Er tanzte mit mir, und kurz kam wieder mein Drang, einen Vorzeigechristen zu beeindrucken, in mir auf. Aber er war eigentlich nicht vorzeigbar. Vielleicht offiziell, in den Zusammenkünften. Trotzdem tanzte er mit mir auf einer Party, die alles andere als gesittet und biblisch war.
Der junge Bruder, mit dem ich gekommen war, nahm mich wieder mit nach Hause. Nachdem er mich vor meiner Wohnung abgesetzt hatte, fiel ich betrunken in mein Bett. Am nächsten Tag musste ich zeitig aufstehen und in die Versammlung gehen, beim Einschlafen dachte ich noch: Was soll’s. Mit etwas Restalkohol ist die ganze Show sowieso viel besser zu ertragen. Der Kick des Verbotenen, die Furcht, erwischt zu werden, und die Genugtuung, wenn man es nicht wurde, machten mich an. Ich wollte mehr davon.
Auch mehr Nächte in Clubs. Es dauerte noch ein wenig, bis Mandy mich überredet hatte, mit ihr in die Moritzbastei zu gehen. Der Leipziger Club befand sich in einem alten Backsteinkeller, hauptsächlich Studenten und Azubis kamen hierher. Ich fuhr zu ihr nach Hause, wir glühten mit zwei Flaschen Hugo vor und machten uns fertig. Sie zog sich wahnsinnig sexy an, aber vielleicht kam es mir mit meiner prüden Art auch nur so vor. Ich wagte es nie, einen Ausschnitt oder kurzen Rock zu tragen, besaß auch keine derartigen Kleidungsstücke. Was, wenn mich jemand in so einem Outfit gesehen hätte? Neben ihr fühlte ich mich, als würde ich eine Burka anhaben. Später lieh sie mir Klamotten, und ich lernte von ihr, mich richtig zu schminken. Zuvor hatte ich nie etwas von Contouring gehört. Als ich mich im Spiegel erblickte, sah mich ein anderer Mensch an. Keine Ahnung, wer dieses Mädchen war, aber es gefiel mir. Ich war nicht mehr schüchtern und unsicher. Ich war attraktiv. Wild. So wie dieses Mädchen auf Sardinien. Und für einen Moment frei.
Wir fuhren mit der Straßenbahn in die Innenstadt und tranken noch eine Flasche Hugo während der halbstündigen Fahrt. Jedes Mal, wenn die Bahn hielt und sich die Türen öffneten, hatte ich Angst, jemand aus meiner Versammlung oder einer Nachbarversammlung würde eintreten und mich erkennen. Mein Herz schlug bis zum Hals. Aber es stieg nie jemand ein. Genauso beim Überqueren einer Ampel. Ich musterte alle Autos, die bei Rot warteten, alle Fußgänger, die mir entgegenkamen. Aber in einer Stadt mit einer halben Million Einwohnern war ich anonym. Keiner konnte mich verraten und an den Pranger stellen. Außer Gott natürlich. Jehova sah alles. Aber bisher hatte er mich nicht verraten.
Die Schlange vor dem Club war eine weitere Herausforderung. Menschen liefen vorbei und starrten uns an. Panik. Als wir endlich im Keller waren, fiel eine Last von mir ab. Selbst wenn mich hier jemand erkannte, hatte ich genauso viel gegen ihn in der Hand wie er gegen mich. Es war eine Erlösung. Ich war umgeben von fremden Menschen, die mich nicht verurteilten und denen ich nichts vormachen musste. Und ich bemerkte etwas Neues. Männer reagierten auf mich. Mandy hatte schon mehrere Beziehungen, hatte schon Sex gehabt und war auf der Suche nach einem neuen Lover. Sie bezeichnete sich selbst als sexsüchtig, was ich gar nicht nachvollziehen konnte. Zwar war ich volljährig, aber ich hatte noch nie eine Beziehung oder ein Date, geschweige denn Sex gehabt. Das Krasseste, was ich bisher erlebt hatte, war der von Gewissensbissen verdrängte Pompino auf Sardinien. Ich hing ziemlich hinterher und hatte keine Ahnung, wie das Leben außerhalb meiner Blase funktionierte. Aber dafür war Mandy ja da.
Sie hielt die Augen auf und suchte nach passablen Typen, die uns ein Getränk spendieren konnten. So lernten wir zwei Studenten kennen, Mandy gefiel der eine, und ich scheinbar dem anderen. Wahnsinn. Jemand stand auf mich. Das hatte ich noch nie erlebt, zumindest nicht auf diese Weise. Wir vier tranken ein paar Shots, und ich war vollkommen überrascht, dass die Jungs sie bezahlten. Ich fühlte mich irgendwie verpflichtet, und ich wollte Hannes, jenem Studenten, der mir zwei Kurze spendiert hatte, gerne meine Dankbarkeit zeigen und ihm irgendetwas zurückgeben. Ich wollte nicht, dass er dachte, ich würde ihn ausnutzen. Gott, was war ich naiv.
Mandy war schon ziemlich angetrunken und wollte mit mir verschwinden, um sich nach anderen Kerlen umzusehen, während die beiden auf der Toilette waren.
»Das können wir doch nicht machen, die haben sich doch so nett mit uns unterhalten und extra Shots spendiert«, warf ich ein, völlig überrascht, dass sie so unbeeindruckt weiterziehen wollte.
»Mach dir darüber keine Gedanken«, sagte sie. »Das ist völlig normal, du musst dich zu nichts verpflichtet fühlen.«
»Aber ich will auf keinen Fall einen falschen Eindruck hinterlassen. Das ist der erste normale Mann, mit dem ich hier trinke.«
Mandy lachte. »Ach, das vergesse ich immer wieder. Hab einfach Spaß. Die sind zwar ganz süß, aber wir finden sicher noch bessere, glaub mir.«
Ich verdrehte die Augen, sagte aber nichts und folgte meiner Freundin, die zielstrebig durch den Club steuerte und alle Männer abcheckte. Scheinbar fand sie doch nichts Besseres, also trafen wir nach einer Weile erneut auf Hannes und Paul, und die Jungs bestellten noch eine Runde.
An diesem Abend war auch einer von Mandys Ex-Freunden in der Moritzbastei und sah sie mit Paul eng umschlungen tanzen. Sie bemerkte das und provozierte ihn, indem sie mit Hannes’ Kumpel noch anzüglicher tanzte. Nicht ohne Folgen: Der Ex flippte komplett aus und schlug Paul mitten auf der Tanzfläche ein paar rein. Alles ging ganz schnell. Die Security tauchte auf und brachte uns vier zum Hintereingang raus. Damit war der Abend vorbei. Und weil es auch schon spät war, entschieden Mandy und ich, nach Hause zu fahren. Bevor wir aber in ein Taxi stiegen, gab ich Hannes noch meine Handynummer.
Was für ein krasser Abend. Ich war geflasht, geschockt und überwältigt gleichermaßen. Wieder einmal tat sich eine neue Welt für mich auf, eine Welt, die mich faszinierte. Mandy faszinierte mich. Ihr Umgang mit Männern war so ungehemmt und provokant. Sie wirkte auf mich wie eine Naturgewalt, die sich holte, was sie wollte. Mich hatte sie vielleicht als Freundin ausgesucht, weil ich einen guten Sidekick abgab, anders konnte ich es mir nicht erklären.
Mandy zeigte mir auch, mich besser zu kleiden. So etwas wie Modebewusstsein war mir fremd, in Stilfragen war ich doch eher geprägt von Secondhandklamotten und dem biederen Zeugenlook. Ich wünschte mir schon lange, schön und anziehend auszusehen, aber ich hatte keine Ahnung, wie ich das hinbekommen sollte. Vielleicht lag das daran, dass meine Mutter mich und mein Äußeres ständig kritisiert und mir nie jemand das Gefühl gegeben hatte, hübsch zu sein. Stattdessen machte sie oft spitze Bemerkungen über mein Gewicht, und schon als Teenager hatte sie mich regelmäßig darauf aufmerksam gemacht, wie unvorteilhaft ich doch in vielen Sachen aussehen würde. Aber endlich verdiente ich mein eigenes Geld und musste nicht mehr die abgelegten Sachen anderer tragen. Zwar kam ich mir immer noch zu dick für gewisse Outfits vor, doch Mandy stritt das entschieden ab.
»Du siehst super aus in diesem Top und den engen Leggins«, sagte sie anerkennend, als ich mich aus der Kabine traute. »Dreh dich mal!«
»Ich bin viel zu fett dafür.«
»Du spinnst.«
»Aber sieh doch, wie dick meine Oberschenkel sind. Du bist schlank, du bist eine Traumfrau, du kannst solche Sachen tragen, aber mir steht das überhaupt nicht.«
»Ich verlasse gleich den Laden, wenn du weiterhin so dummes Zeug redest. Du wiegst vielleicht fünf Kilo mehr als ich, jetzt tu nicht so. Schau dich hier doch mal um, da hinten diese Frau, die sollte mal ans Abnehmen denken.«
Mandy blickte zu einer Frau, die fast doppelt so dick war wie ich. Eigentlich kein Maßstab, und es sollten noch ein paar Jahre vergehen, bis ich zu einem gesunden Körperbewusstsein fand, aber der Grundstein war immerhin gelegt. Und ich kaufte mir das Top mit dem tiefen Ausschnitt und die engen Leggins.
Es war ein ungewohntes Gefühl, wie nach einer Verwandlung, als ich in heißen Outfits mit ihr ausging. Ich sah nicht nur anders aus, ich empfand mich auch anders. Ich spürte diesen neuen Menschen, die Seite von mir, die ich sonst verheimlichte. Es stimmte, was Mandy gesagt hatte, ich konnte mit ihr mithalten. Ich wurde von Männern angesprochen. Und es gab mir ein seltsames Gefühl der Befriedigung, begehrt zu werden.
Saß ich am darauffolgenden Tag in der Versammlung, war da wieder die Angst, dass mich jemand gesehen haben könnte, wie ich nachts im kurzen Rock angetrunken durch die Stadt gezogen war. Aber da war auch wieder dieser Kick, ein Geheimnis zu haben. Etwas zu wissen, das niemand sonst wusste, mit Ausnahme von Jehova.
Die Sünden der Nacht blieben im Verborgenen, es war fast wie Magie. Ich fürchtete Konsequenzen, aber der Drang, Regeln zu brechen und mich lebendig und frei zu fühlen, war größer. Manchmal ließ ich die Zusammenkünfte sogar ausfallen. Die verrückte Freundin meiner Mutter befand sich zu dieser Zeit mal wieder in einer krassen Phase. Vor ein paar Wochen saß ich noch bei ihr zu Hause und tröstete die heulende Rita, die sich umbringen wollte. Jetzt war ihre Suizidphase vorbei, und sie litt wieder unter Paranoia und Verfolgungswahn. Sie bildete sich ein, ich würde in der Versammlung Lügen über sie erzählen und alle gegen sie aufhetzen. Ihre bösen Blicke und schnippischen Kommentare wurden immer verstörender, und ein paar Tage später zog ich eine Karte mit folgendem Text aus dem Briefkasten:
Liebe Sophie!
Bitte verdrehe nicht die Tatsachen. Das, was du über mich erzählt hast, entspricht nicht der Wahrheit. Das habe ich nicht gesagt! Auf Lüge und Verleumdung gibt es Gemeinschaftsentzug. Bleibe bitte schön bei der Wahrheit. Sonst ist es vorbei mit Schwester Sophie!
Liebe Grüße von Rita
Ich hatte keine Ahnung, wovon sie da sprach und was sie glaubte, dass ich über sie erzählt hätte. An ihren Formulierungen merkte ich, dass sie es selbst nicht wusste, sonst hätte sie ja konkret benannt, was ich angeblich gesagt hatte. Dennoch machte mir ihre Drohung zu schaffen. Alle in der Versammlung wussten von ihrer Krankheit, denn sie war bekannt dafür, regelmäßig ellenlange E-Mails an die komplette Ältestenschaft und sogar Kreisaufseher zu schicken, wenn sie sich wieder in etwas verrannte und jemanden auf dem Kieker hatte. Es war regelmäßig jemand anderes an der Reihe, und offensichtlich war nun ich dran. Wahrscheinlich war sie harmlos, aber ich hatte trotzdem panische Angst vor ihr. Sie war einfach unberechenbar, und durch die Freundschaft zu meiner Mutter kannte sie all die düsteren Geheimnisse aus meiner Vergangenheit. Wenn sie das in der Versammlung herumposaunte, wäre ich geliefert.
Ich erzählte Jana und Mathias von der seltsamen Karte und dass ich mir Sorgen machte, aber sie beruhigten mich damit, dass jeder wisse, wie irre Rita sei, und sie von niemandem ernst genommen werde. Doch da ich ihnen nicht eingestehen konnte, warum ich solche Angst vor Ritas Aktionen hatte, war ich weiterhin beunruhigt. Bei der nächsten Zusammenkunft hielt ich mich fern von ihr, nur um sicherzugehen.
Genau eine Woche später zog ich einen Brief aus dem Briefkasten mit folgendem Inhalt:
Liebe Sophie!
Ich lasse mich von dir nicht anlügen. Deine frei erfundenen Worte über mich verbiete ich dir! Das habe ich nicht gesagt. Verdrehe bitte nicht die Tatsachen. Du fährst ab sofort mit jemand anderem mit. Machst du das noch einmal, bekommst du Gemeinschaftsentzug wegen Lügen und Verleumdung. Bei Mathias traust du dich nicht, so frech zu sein. Ändere dich mir gegenüber, und das ab sofort. Jedes kleine Kind weiß: Du darfst nicht lügen, und du darfst nicht stehlen. Wie bist du mit fünfzehn Jahren auf die Idee gekommen, du kannst stehlen und es merkt niemand? Wie oft hast du deine Mutti getäuscht und belogen? Du warst mit sechzehn nicht einmal ungetaufte Verkündigerin, als du nach Leipzig gekommen bist. So geht das nicht weiter. Dein Verdrehen der Tatsachen und deine große Klappe haben ein Ende!
Liebe Grüße von Rita
Dieser Brief war einer jener Momente, in denen mir erneut klar wurde, in was für einer Freakshow ich gelandet war. War das etwa die Nächstenliebe, die gepredigt wurde? Früher hielt ich es fast für normal, dass gefühlt jeder Zweite in meinem Umfeld suizidgefährdet war oder diverse andere psychische Erkrankungen hatte. Aber seit ich mit offeneren Augen durch die Welt ging, Menschen begegnete, von denen mir gesagt wurde, dass sie krank seien und Heilung benötigten, da sie unter Satans Einfluss stünden, mir diese Menschen aber geistig gesünder erschienen als der Großteil meiner Glaubensbrüder, begann ich zu merken, dass ich in einer verdrehten Umgebung lebte.
Ich befand mich mal wieder in einer Phase, in der meine Motivation für den Glauben stark abnahm. Ich merkte das daran, dass ich wieder Stunden auf meinem Predigtdienstbericht fälschte, ohne darüber nachzudenken. Worüber ich aber nachdachte: So kann es nicht weitergehen. So kann ich nicht weiterleben. In meinen Träumen sah ich meinen enttäuschten, trauernden Vater, Amelie und Jehova, der ebenfalls enttäuscht von mir war. Ich sah, wie die verrückte Rita allen in der Versammlung von meinen früheren Vergehungen berichtete und mich an den Pranger stellte. Satan rieb sich die Hände, denn er hatte mich in seine Schlinge gezogen, und ich fand es nicht einmal schlimm. Ich fragte mich, was mich noch mit dieser Religion verband. Waren es die Menschen? Sicher, es gab in meiner neuen Versammlung ein paar tolle Frauen und Männer, auch in den Nachbarversammlungen, aber ich passte nicht in diese langjährigen Cliquen, wollte das eigentlich auch gar nicht. In Wahrheit war ich selbst ein Einzelgänger.
Mit Mandy oder Stiefel fühlte ich mich frei und konnte alles vergessen, aber die endlosen schlaflosen Nächte wurden nicht weniger. Und schlief ich doch, plagten mich Albträume. Ich vermisste meinen Vater. Ich vermisste Amelie. Auch wollte ich mich nicht schlecht fühlen, weil ich einen Freund hatte, der schwul war. Ich wollte mich nicht schlecht fühlen, wenn ich mich attraktiv und sexy stylte und selbstbewusst war. Ich wollte mich nicht schlecht fühlen, wenn ich mit Menschen befreundet war, die keine Diener Gottes waren. Ich wollte mich nicht schlecht fühlen, wenn mich ein Mann küsste. Ich wollte mich nicht schlecht fühlen, wenn ich Spaß am Leben hatte. Ich wollte mich überhaupt nicht schlecht fühlen. Aber ich fühlte mich schlecht. Sehr. Einerseits genoss ich mein Leben. Das war die neue, wilde Sophie. Andererseits hasste ich mein Leben. Das war die alte Sophie, die nie genug war und allen und vor allem sich selbst etwas vormachte.
Ich musste mich entscheiden, und zwar endgültig. Viele Jahre hatte ich mich davor gedrückt. Gewohnte Muster aufzubrechen, die wohlbekannte Umgebung zu verlassen hatte ich mich bisher selten getraut. Ich hatte schon immer Zweifel gehabt, aber ich hatte sie mit dem Gedanken erstickt, dass die Schuld daran mein zu schwacher Glaube war. Ich hatte mich schlecht gefühlt, schuldig und erbärmlich, weil ich nie der Mensch war, der ich sein sollte. Ich war nicht das, was man von mir erwartete. Ich dachte stets, das wäre falsch. Aber vielleicht war das gerade richtig. Vielleicht war dieses Gefühl richtig. Nicht gut genug, nicht christlich genug, nicht perfekt genug.