BÖSE LEIDENSCHAFT

Ich rauchte meine dritte Zigarette und atmete den Rauch tief in meine Lunge ein. Genoss es, ihn drei Sekunden in mir zu halten, dann entließ ich ihn mit gespitzten Lippen. Der Atem der Freiheit. Ein Schritt weiter von Gott weg, auf den Teufel zu.

Ich dachte an meinen letzten Predigtdienst. Gestern, am Samstagmorgen, war ich wieder in einen hässlichen Wollrock geschlüpft, dazu Lederstiefel und die Umhängetasche. Eisiger Wind wehte um meine Ohren. Meine Nase lief. Zu gerne wäre ich zu Hause geblieben, stattdessen hatte ich zusammen mit den anderen ein kleines Dorf aufgesucht. Fünfhundert Leute wohnten hier, sicher nicht mehr. Und sie alle hatten die Chance gehabt, gerettet zu werden. Von uns. Mir und den anderen. Meinen Brüdern und Schwestern. Ich kam mir vor wie eine Bäuerin, die Ackerland bearbeitete. Säen und Ernten.

Ich hatte die Abneigung der Leute förmlich riechen können. Wie sie hinter ihren Spitzengardinen zum Küchenfenster hinausspähten, voller Groll im Bauch, weil in diesen frühen Morgenstunden sonst niemand wagte zu klingeln. Manchmal entwickelte sich der Groll auch erst, wenn ihnen klar wurde, wer wir waren. Wir waren bekannt. Und nicht beliebt. Noch unbeliebter als Vertreter. Wir waren schlimmer. Sahen harmlos aus, so harmlos, dass viele sich gar nicht trauten, ihrem Unmut Luft zu machen. Sie waren nett und höflich, obwohl sie am liebsten »Verpisst euch!« geschrien hätten. Lächelten einen Moment gequält und hörten reserviert zu, was wir zu sagen hatten. Und das war für sie das Schlimmste. Nicht anders für mich. Auch gestern hatte ich die Ablehnung gespürt, ich wünschte mir förmlich, dass mir jemand ins Gesicht brüllte. Damit ich aufwachte. Einen Grund hatte, mich zurückzuziehen. Ganz offiziell.

Ein schlimmes Erlebnis hätte gerechtfertigt, mich für eine Weile auszuruhen. Ein paar Zusammenkünfte zu versäumen. Vielleicht hätte ich eine solche Situation dramatisieren können. Wie sehr ich doch litte unter den bösen Menschen. Welchen Schmerz mir ihre Ungläubigkeit bereite. Dass es mich zerreiße, helfen zu wollen, um Gottes Stimme zu vernehmen, aber sie wollten einfach nicht hören. Diese Ungläubigen. Sie würden sterben. Aber so wollte es Gott. Sein Wille geschehe.

Schwach, dachte ich. Mein Glauben ist schwach. Wäre er es nicht, würden mir keine solchen Gedanken kommen. Nichts ist schlimmer als ein Ungläubiger. Bin ich nicht. Nicht richtig. Ich glaube schon, nur weiß ich nicht genau, was. Mir wird mein Glauben vorgeschrieben, keine Abweichung vom Skript. Daran habe ich mich zu halten. In diese Form habe ich zu passen. Alles ist geregelt. Kein Platz für Freiheiten und Änderungen.

Früher fand ich es irgendwie beruhigend, genau zu wissen, wie mein Leben verlaufen würde. Was ich für ein Mensch sein würde, welchen Job ich haben würde, welche Hobbys und welche Freunde. Dieser Glaube war aber nicht nur ein Glaube. Er war mehr, als nur einmal pro Woche in die Kirche zu gehen und ab und an das Vaterunser zu beten, wie es normale Christen tun. Dieser Glaube war mein Leben. Dieser Glaube war die Wahrheit. Mal sehen wie lange noch.

Es gibt Momente, in denen ändert sich das Bewusstsein. Einen solchen Moment hatte ich damals. Es war keine vollständige Erleuchtung, eher ein Lichtstreif. Dinge, die bisher als unumstößlich gegolten hatten, warfen nun Fragen auf. In meinem Leben hatte ich schon viele dieser Momente gehabt. Immer hatte ich diese Zweifel mit Schwäche assoziiert. Nur ein schwacher Mensch zweifelt. Dass Glaube und Zweifel zusammengehören, hatte mir niemand gesagt. Auch wenn diese dunklen Fragen meist bald verschwanden, sie kamen wieder. Immer und immer wieder. Sie waren wie ein Bumerang. Vornehmlich dann, wenn ich es nicht erwartete, trafen sie mich wie ein harter Schlag am Hinterkopf. Ich hatte sie nicht kommen sehen, war nicht vorbereitet gewesen.

Und jetzt war der Schlag so heftig ausgefallen, dass eine Entscheidung zwingend notwendig erschien. Für oder gegen die Wahrheit. Auf der einen Seite stand meine geistige Familie, eine Gemeinschaft, die geprägt war von identischen Zielen, Werten und Moralvorstellungen. Ein gewohntes Umfeld, in dem ich mich zwar nicht wohlfühlte, das mir aber vertraut und bekannt war. Ein paar Menschen, die ich mochte und die mich verstanden.

Auf der anderen Seite die Welt. Die böse, grausame Welt, randvoll mit Versuchungen, Intrigen und Verführung. Dinge, die falsch sein sollten und sich richtig anfühlten. Freiheit, Selbstbestimmung und Akzeptanz. Ich musste mir eine Liste machen. Bevor ich eine Entscheidung traf, musste ich mir zu einhundert Prozent sicher sein. Denn egal, wofür ich mich entschied – es gab dann kein Zurück. Eine nicht durchdachte Entscheidung hätte alles nur um ein Vielfaches schlimmer gemacht. Erst aussteigen und nach einer Weile zurückwollen, weil man in der Welt nicht klarkommt? Auf gar keinen Fall! Noch mehr Selbsterniedrigung war nicht drin. Ich musste alles abwägen, mich auf jede mögliche Situation vorbereiten, alles im Kopf durchspielen. Hatte ich das getan, wäre ich, so hoffte ich, bereit. Bereit zu gehen oder zu bleiben. Für was ich mich auch entscheiden würde, eines stand fest: Es würde ein Kampf sein, und es würde hart werden. Was wollte ich? Das Doppelleben aufgeben und weiterhin die Fesseln von Heuchelei und erpresserischer Indoktrination akzeptieren? Oder mich lösen und mein komplettes Leben, wie ich es kannte, verlieren? Wie auch immer, ich würde nicht gewinnen. Nur verlieren.

Ich brauchte einen Überblick. Zettel und Stift. Auf meine Liste schrieb ich die Namen der Menschen, die ich nicht mehr sehen dürfte, sollte ich aussteigen, und jener, die ich zurückgewinnen könnte. Würde mich die Gemeinschaft ausschließen, und das würde sie, sollte ich ihr den Rücken kehren, würde man mich ächten. Das kannte ich nur zu gut. Mein Vater, Amelie und viele andere hatte ich ächten müssen. Ich, das Schaf, das seiner Herde abtrünnig geworden war, musste mich darauf vorbereiten, dass keiner jemals wieder ein Wort mit mir sprechen würde. Genau so, wie ich es bei denen getan hatte, die vor mir die Gemeinschaft verlassen hatten. Eine große Familie. Ich wollte meine große Familie verlassen. Wollte ich das?

Oft hatte ich bei Brüdern und Schwestern aus der Versammlung übernachtet oder mit ihnen Ausflüge gemacht. Endlose Erinnerungen würden verlöschen. Meine Mutter würde ich nicht mehr sehen, würde nicht mehr mit ihr reden, und sie nicht mit mir. Da unser Verhältnis aber noch nie wirklich eng war, könnte ich diesen Verlust wahrscheinlich noch am ehesten verschmerzen. Auch wenn unsere Beziehung nach meinem Auszug besser geworden war, von einem Mutter-Kind-Verhältnis, wie ich es von anderen kannte, konnte noch längst nicht die Rede sein. Inzwischen begegneten wir uns alle paar Monate, wenn wir mit anderen Zeugen zu Pioniertagen gingen oder gemeinsam Tanzveranstaltungen besuchten. Somit hatte sich unsere Lage etwas entspannt, war aber noch lange nicht auf einem normalen Level.

Um andere Zeugen tat es mir mehr leid, sollte ich aussteigen. Menschen, die mich seit meiner Geburt kannten, Freunde, mit denen ich im Orchester spielte. Sie alle würden verschwinden. Ich würde einer von den Menschen werden, deren Verlust ich immer betrauert hatte, als wären sie gestorben. Nein, ein Gemeinschaftsentzug ist noch schlimmer als der Tod. Denn wer als treuer Christ stirbt, hat eine Auferstehungshoffnung und wird ewig in einem irdischen Paradies leben können. Aber wer ausgeschlossen wird, der hat gar nichts mehr. Keine Hoffnung, keine Zukunft, kein Leben. Er ist verloren. Ich wäre verloren. Für sie alle. Für Familien, die mir meine eigene ersetzten. Mütter, die für mich da waren, wenn es meine eigene nicht war. Väter, die für mich da waren, als mein Vater wegging. Großmütter und Großväter, die für mich da waren, als meine Balloma nicht mehr am Leben war. Schwestern und Brüder, die für mich da waren und mir die Familie gaben, die ich niemals hatte. Sie alle würden sich gegen mich wenden. Ich würde das einzige Leben verlieren, das ich bisher kannte.

Und die Welt, was bedeutete sie? In sie würde ich ebenso wenig reinpassen wie in die Gemeinschaft der Zeugen. Die achtzehn Jahre, die ich in einer Blase gelebt hatte, hatten Spuren hinterlassen, hatten mich geprägt. Ich hatte kaum Ahnung, wie ein Leben draußen funktionierte. Die Menschen außerhalb meiner kleinen Welt waren mir fremd und unheimlich. Ich verstand sie immer noch nicht. Nicht wirklich. Wenn sie redeten, war das für mich, als würde ich eine fremde Sprache hören. Sie hatten andere Ziele, Werte und Moralvorstellungen. Ein völlig anderes Leben. Ich passte eigentlich nirgends rein. Weder in die reine, tugendhafte Welt, in der ich aufgezogen worden war, noch in die böse, dunkle Welt der Versuchung, die von Satan, dem Teufel, regiert wurde. Ich war mittendrin, ohne eine Vorstellung davon zu haben, wie es weitergehen sollte. Aber als mir alle diese Sachen in endlosen Schleifen durch den Kopf gingen und ich meine Liste schrieb, spürte ich, was ich wollte. Nicht, was andere von mir wollten.

Ich wollte Menschen, die ich verloren hatte, zurückgewinnen. Das gab mir auch die Gewissheit, nicht völlig allein zu sein, sollte ich diesen Schritt gehen. Die Chance auf ein ewiges Leben, die ich mir bei einem Ausstieg nahm – das kam mir auf einmal nicht mehr so furchtbar vor. Denn mein Vater und Amelie hatten ihre Chance auf das Paradies ebenfalls verspielt. Und Stiefels oder Mandys Chancen standen sowieso bei null. Also lieber ein schönes und kurzes Leben in Freiheit mit den geliebten Menschen als ein ewiges Leben im Paradies ohne sie.

Ein weiterer Punkt, der mich zunehmend beschäftigte: meine Zukunft mit einem Mann. Würde ich weiterhin Zeugin Jehovas bleiben, müsste ich mich beeilen, um einen Bruder zu finden, der mich heiraten würde. Die annehmbaren Männer waren schnell weg, die Auswahl – bei bestimmten Ansprüchen – sowieso sehr begrenzt. Viele Zeugen heiraten oft nach Erreichen der Volljährigkeit. Der Grund ist Sex. Triebe offiziell ausleben zu dürfen, sich dem anderen und vor allem sich selbst hinzugeben, ohne die Angst und Schuldgefühle im Nacken, etwas Verbotenes zu tun. Kaum einer gab das zu, aber ich wusste es. Michael, den ich schon seit dem Kindergarten kannte, und seine Freundin Jennifer hatten schon länger Sex gehabt, ohne verheiratet zu sein. Zwar hatten sie dieses Jahr geheiratet, aber ich als Freundin und Trauzeugin kannte ihr Geheimnis. Und ich fand es nicht einmal schlimm.

Auf den Zeugenpartys lernte ich zwar einige heiratsfähige Brüder kennen, die ebenso wie ich ein Doppelleben führten und sich nicht dafür schämten. Aber bisher wollte ich immer »die Guten«. Ich sah auf zu den verklemmten, überkritischen und theokratischen Männern, um die einen jede treue Christin beneidete. Die, die vor der ganzen Versammlung Vorträge hielten und um die sich alle ledigen Schwestern rissen. Diese Männer hatten ein Dienstamt inne, opferten viel Zeit im Predigtdienst und würden ihre Kinder streng nach biblischen Lehren großziehen. Zu diesen Männern konnte man aufsehen, sie respektieren und ihnen untertan sein. Denn so steht es in der Heiligen Schrift geschrieben: Die Ehefrau ist ihrem Mann untertan. Dieser Grundsatz war für mich geradezu in Stein gemeißelt. Achtung und Ehrfurcht vor dem Haupt der Familie. Die Hierarchie innerhalb Gottes Organisation ist ganz klar: Oben steht Gott Jehova, dann kommt sein Sohn Jesus und danach der Mann, als Haupt der Frau, die ganz unten steht. Die Frau hat sich mit göttlichen Eigenschaften wie Demut zu kleiden und ihrem Mann zu gehorchen. Diese Hierarchie hatte ich bislang nie in Frage gestellt.

Vor meinem geistigen Auge hatte ich mich als liebevolle, unterwürfige, loyale Ehefrau, Christin und Mutter gesehen, deren Lebensaufgabe darin bestand, ihren Mann zu unterstützen und Gott zu dienen. Die ersten Zweifel an dieser Lebensphilosophie tauchten nach meiner Taufe auf, als ich Christian kennenlernte, der ein paar Jahre älter als ich war und zu einer Versammlung gehörte, die etwa eine Stunde Autofahrt entfernt lag. Irina, eine Freundin aus Christians Versammlung, stellte uns vor, wir waren zum gemeinsamen Predigtdienst verabredet. Eine Art Blind Date. Irina ging mit einem anderen Bruder aus der Versammlung in den Dienst, und ich mit Christian. Sein Predigtdienstgebiet war ein Dorf, und wir fuhren in seinem gelben Seat Ibiza mit schwarzen Flammen an den Seiten dorthin.

Da ich sonst fast nie mit einem ledigen Bruder im Predigtdienst war, machte sich Nervosität in mir breit. Bevor ich überhaupt einen Gedanken an das Auto verschwenden konnte, begann er sich bereits zu rechtfertigen und erklärte, er hätte es nur vorübergehend, er werde sich bald ein neues kaufen.

Ich nickte nur, und weil wir schwiegen, konnte ich ihn genauer betrachten. Er sah keineswegs hässlich aus, war schlank, hatte ein ebenmäßiges Gesicht, freundliche Augen und ordentlich gekämmte braune Haare. Er sah aus, als könnte er keiner Fliege etwas zuleide tun. Aufgefallen war mir auch, dass er sehr langsam und ruhig gesprochen hatte, fast schon monoton. Ansonsten gab es nichts an ihm, was ihn hervorhob (abgesehen von seinem Auto). Christian war genau der stinknormale, langweilige, liebevolle gute Mann, den ich mir vorgestellt hatte. Ein vorbildlicher Christ. Aber war er wirklich der Traummann, den ich wollte?

Er war an mir interessiert, schon beim zweiten Treffen brachte er mir eine kleine Schachtel Pralinen und eine Orchidee mit. Ich spürte seine Aufregung, als er mich zum Predigtdiensttreff abholte. Bei der Begrüßung hatte er mir seine nassgeschwitzte Hand gegeben und mich eine Sekunde lang zaghaft an sich gedrückt.

Christian wusste nichts von meiner Vergangenheit, auch nicht, dass ich erst frisch getauft war. Ich war zurückhaltend, nett, höflich und all das, was von mir erwartet wurde. Er musste mich für die optimale Partnerin halten. Bei unserem dritten Treffen – ein weiteres Mal in Leipzig – gingen wir erst wieder predigen, danach hatte er eine Überraschung geplant. Es war ein kalter, regnerischer Tag, und ich war erkältet. Nach den drei Stunden von Haustür zu Haustür war ich ziemlich durchgefroren und freute mich darauf, ins Warme zu kommen. Christian hatte zwei Kumpels aus seiner Versammlung gebeten, uns zu begleiten, denn wir beide durften nicht allein irgendwohin, einzige Ausnahme war das Predigen. Schon im Dienst merkte ich, dass ich keine richtige Lust auf ihn hatte. Die Gespräche waren ermüdend, er hatte nichts Dominantes und Durchsetzungsfähiges an sich. Ich war froh, dass ich in der zweiten Runde mit Mathias gehen konnte, Janas Mann. Unterwegs erzählte ich ihm von Christian und dass ich überhaupt nicht darauf erpicht sei, mich später noch auf seine »Überraschung« einzulassen.

»Sophie, versuche es einfach«, sagte er. »Vielleicht läuft alles viel besser, als du denkst. Christian ist ein feiner Kerl, ich würde ihn mir genauer anschauen.«

»Und wenn es schiefläuft?«

»Läuft es eben schief. So etwas kommt vor. Und falls du Hilfe brauchst, melde dich. Kopf hoch, das wird schon.« Mathias zwinkerte mir zu.

»Okay, ich lasse mich mal drauf ein.«

Er fragte noch, wo wir überhaupt hingehen würden. Und als ich ihn darauf hinwies, dass es doch eine Überraschung sein sollte, wünschte er mir viel Spaß.

Nach dem allgemeinen Mittagessen im Königreichssaal fuhren Christian, seine Kumpels und ich los. Was hatte er sich bloß überlegt? Wir hielten noch kurz am Hauptbahnhof, weil ich dort eine Flasche Wein für eine Glaubensschwester aus der Nachbarversammlung, die mich abends eingeladen hatte, besorgen wollte. Anschließend ging es nach Leutzsch, einem Stadtteil im Nordwesten von Leipzig. Keine Ahnung, was wir da wollten. Dann bog Christian mit seinem Seat auf einen Weg ein. Langsam dämmerte es mir. Oh mein Gott! Wir waren am Bruno-Plache-Stadion. Er wollte mit mir ein Fußballspiel ansehen.

Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. Immerhin war ich eine liebevolle, selbstlose, aufopferungsbereite Christin, die dem Mann untertan ist. Flehentlich sah ich die Polizisten am Eingang des Stadions an und hoffte, sie deuteten meinen Blick als Entführung und würden mich befreien. Wunschvorstellung. Und die Security am Eingang durchsuchte meine Tasche und nahm mir auch noch die Weinflasche und mein Deo ab. Meine Stimmung sank. Nun hatte ich ein Date zu viert, bei einem Fußballspiel, im Predigtdienstrock und bei Nieselregen.

Christian zahlte sieben Euro für meine Eintrittskarte, dann holten er und seine Kumpels sich je einen Radler. Nach fünf Minuten kippte mir bereits einer der betrunkenen Hooligans in der Fankurve sein Bier über meine Jacke und den Rock. Meine Laune sank noch weiter in den Keller, auch mein Husten wurde schlimmer. Wäre es wenigstens ein Spiel von Red Bull gewesen, aber es war der FC Lok! Die fünfzehn Einsatzwagen der Polizei standen nicht aus Spaß vor dem Eingang. Es gab hier regelmäßig Schlägereien und Ausschreitungen zwischen gegnerischen Fans.

Christian schien nicht zu bemerken, dass ich seine Überraschung wenig toll fand, und selbst wenn, es war mir inzwischen auch egal. Ich hatte die Nase voll. Am liebsten wäre ich weggerannt, nur blöd, dass ich zuvor keine Haltestelle entdeckt hatte, womöglich hätte ich ewig durch den stärker gewordenen Regen laufen müssen. In meiner Not schrieb ich Mathias eine SMS:

»Das Treffen ist eine Katastrophe. Kannst du mich abholen?«

»Wo bist du denn?« Prompt antwortete er auf meine Nachricht.

»Im Bruno-Plache-Stadion.«

»Herrje, eine perfekte Überraschung. Ich hole dich gleich ab. Bin sowieso in der Nähe. Warte am Eingang auf mich.«

»Mache ich.«

Zu Christian sagte ich: »Das hier ist nichts für mich. Zu viel Geschubse und Gegröle. Ich verschwinde besser. Außerdem wird meine Erkältung schlimmer.«

Verwundert schaute er mich an. »Ich hätte gedacht, dass es dir gefällt«, erwiderte er. »Du bist doch sehr temperamentvoll.«

Ich schüttelte den Kopf, nieste und hustete ihn versehentlich an.

»Und wie kommst du nach Hause?«

»Mathias, der Bruder aus meiner Versammlung, holt mich ab. Ich soll am Eingang auf ihn warten.«

»Dann bringe ich dich noch dorthin.«

Als Christian mich vor dem Eingang abgeliefert hatte, verabschiedete er sich sofort, um zu seinen Kumpels zu kommen und keine weitere Minute des Spiels zu verpassen. Er hatte nicht einmal geschaut, ob Mathias schon da war.

Wenige Minuten später tauchte der zum Glück auf. Er war Taxifahrer und hatte gerade keine Fahrt.

»Bin ich froh, dass du da bist«, sagte ich zu Mathias, als ich in sein Taxi kletterte. »Das war nicht zum Aushalten.«

Verschmitzt schaute mich Mathias an. »Kannst von Glück sagen, dass du jetzt nicht jedes Wochenende auf den Platz musst. Ich denke mal, es gibt kein weiteres Date?«

»Davon kannst du ausgehen. Oder meinst du, ich hätte das durchstehen sollen?«

»Nein, nicht bei diesem Wetter, und schon gar nicht mit einer Erkältung.«

Im Stillen dachte ich: Aber sonst schon, oder? Sonst sollte ich Dinge tun, um es anderen recht zu machen. Insbesondere einem zukünftigen Ehemann. Was war schon ein bisschen geheucheltes Interesse an einem Fußballspiel? Aber ich hatte auf der Tribüne mit einem Mann gestanden, der keine Ahnung von mir, der nicht einmal die geringste Frage an mich gestellt hatte. Doch womöglich war auch Christian nur das Opfer einer Lebensform, bei der man in ein Korsett gepresst wurde.

»Mathias, was soll ich bloß tun?«, fragte ich unvermittelt. »Ich habe das Gefühl, dass ich nicht weiterweiß. Ich habe so viele Zweifel. Manchmal denke ich, dass unsere Religion nicht die Wahrheit ist.«

»Nach so einer Überraschung wären wohl auch mir Zweifel gekommen. Aber an Christian, nicht an der Wahrheit.« Nachdenklich blickte er mich kurz an, während er mich Richtung Hauptbahnhof fuhr. »Es ist nicht immer leicht, ein Diener Gottes zu sein. Aber ich bin mir sicher, dass es bei dir nur eine vorübergehende Phase ist. Jeder kennt sie. Hab Geduld mit dir.«

Wenn das nur stimmte. Plötzlich wurde mir siedend heiß.

»Bitte, erzähle Jana nichts von meinen Zweifeln. Das würde ihr nur das Herz brechen. Falls es stimmt, was du sagst, würde es nur unnötig für Aufregung sorgen. Und falls nicht, möchte ich selbst mir ihr darüber reden.«

»Versprochen«, sagte Mathias.

Wir waren im Zentrum angelangt. Fröstelnd stieg ich aus, winkte ihm noch hinterher, auf dem Weg zu seiner nächsten Fahrt.