Kurze Zeit nach dem missglückten Date bekam ich einen Brief. Von Christian. Handgeschrieben auf weißem Papier, die Zeilen mit Lineal vorgezeichnet und dann wegradiert. Seit dem Nachmittag im Fußballstadion mied ich ihn, und schrieb er mir eine SMS, antwortete ich nur mit wenigen Worten. Ich hoffte, er würde den Wink verstehen und mich in Ruhe lassen, sodass sich »die Sache« für ihn genauso erledigt hatte wie für mich. Christian war aber nicht ich. Ich las den Brief und konnte kaum fassen, was da stand. Er beteuerte, wie wichtig ich ihm bin, was für ein toller Mensch ich doch sei. Etwas, das ich unmöglich glauben konnte, denn er kannte mich ja nicht. Er kannte nur die Version von mir, die ich ihm vorgespielt hatte. Das war nicht ich gewesen. Christian trauerte einer Frau hinterher, die nicht existierte. Und diese emotionalen Floskeln, sie klangen so falsch. Er wusste nichts über mich und klammerte sich dennoch verzweifelt an eine Illusion, die einer gemeinsamen Zukunft. Im Sinne der Zeugen Jehovas.
Christian hatte mir die Augen geöffnet, dafür bin ich ihm sogar dankbar. Die Vorstellung, diesen Mann zu heiraten, mit ihm zu schlafen, Kinder zu bekommen und mein gesamtes irdisches Leben und danach noch im Paradies an ihn gebunden zu sein – nein, das war undenkbar. Diesen Mann hätte ich niemals respektieren und ihm untertan sein können. Christian war für mich nicht jemand, zu dem ich hätte aufsehen können. Ich konnte mit ihm nicht reden, ihn nicht ernst nehmen, und er übte keinerlei sexuelle Anziehung auf mich aus.
Ich rief ihn an und teilte ihm mit, dass ich kein Wiedersehen wolle. Christian flehte mich an, ihm noch eine Chance zu geben, aber ich blieb bei meinem Nein. Aus Mitleid wollte ich mich nicht zu einer Beziehung überreden lassen. Aber eigentlich hatte ich kein Mitleid mit ihm, auch kein schlechtes Gewissen. Absolut untypisch für mich. Ein Meilenstein. Das erste Mal stand ich zu dem, was ich tat, dachte zuerst an mich und erst dann an den anderen. Ich ließ mich nicht überreden oder gar manipulieren – und es ging mir fantastisch damit. Ich fühlte mich stark. Ich hatte getan, was ich wollte. Ich. ICH. Nicht, was andere wollten. Dieses Gefühl war so berauschend, dass ich mehr davon wollte. Niemals mehr wollte ich mich wieder in eine Form pressen lassen, niemals wieder andere glücklich machen müssen und dabei selbst unglücklich sein.
Ja, ich fühlte mich böse, und ja, es gefiel mir. Der Teufel schien wohl doch Macht über mich zu haben.
Mein neu erwachtes Selbstbewusstsein motivierte mich, noch weitere Aufräumarbeit zu leisten. Ich wollte Klarheit, wollte niemandem mehr etwas vormachen, vor allem mir selbst nicht. Die Männerthematik stand nun allgemein auf meiner Liste. Das Problem Christian hatte sich erledigt, aber was war mit den anderen? Da man sich als Zeuge Jehovas nur scheiden lassen darf, wenn ein biblischer Scheidungsgrund vorliegt (Ehebruch), hat das zur Folge, dass man ewig an den Partner gebunden ist, selbst im Paradies. Dieser Gedanke war schon unerträglich, war man mit jemandem wie Christian zusammen, aber letztlich war er noch harmlos. Was, wenn ich einen Ehemann hätte, der mich regelmäßig verprügelte, Alkoholiker war oder sich über die Jahre in einen Mistkerl verwandelte? Dann wäre ich ebenfalls auf ewig an ihn gekettet. Oder wenn ich mir nach einer Scheidung einen neuen Partner suchen würde, wäre ich eine Geächtete. So, wie mein Vater ein Geächteter wurde.
Und dennoch halten viele Zeugen in ihren Ehen durch. Durch die jahrelange mentale Manipulation erweisen sich viele Mitglieder zwischenmenschlich als kompromissbereit, demütig, gütig, selbstlos, loyal und verfügen noch über zahlreiche weitere »göttliche« Eigenschaften, die sie sich mühevoll haben antrainieren lassen. Eine gute Grundlage für eine lebenslange Partnerschaft.
Und unter den Zeugen jemanden zu finden, den ich lieben würde? Das kam mir aussichtslos vor. Ein Gefängnis mit bunter Tapete und schillernder Inneneinrichtung ist immer noch ein Gefängnis. Nur dass es sich länger in ihm aushalten lässt. Würde ich mein Leben so weiterleben wie bisher, könnte ich mit einem Dienstamtgehilfen oder später Ältesten verheiratet sein, hätte zwei Kinder und einmal wöchentlich Sex in Missionarsstellung. Ich würde in meiner sicheren Zelle hocken, wäre ein gut geöltes Zahnrädchen im Getriebe der Organisation. Ich wäre nicht glücklich, aber ich würde funktionieren, so wie man es eben erwartete. Aber so war ich nicht.
Doch Männer waren nicht alles. Da gab es ja noch den Umstand, dass Bluttransfusionen verboten waren. Bislang hatte ich Glück gehabt, ich hatte als Kind nie eine gebraucht. Ich war mir sicher, dass meine Mutter mich hätte für Gott sterben lassen, wäre sie in eine solche Situation geraten. Aber nun versuchte ich, mir auszumalen, ich selbst wäre eine Mutter und hätte meine Kinder in der Wahrheit erzogen. In dem Fall, dass nur eine Bluttransfusion ihr Leben hätte retten können, hätte ich meine Kinder sterben lassen müssen. Nein. Diese Vorstellung übertraf alles, was ich bisher gedacht hatte. Niemals könnte ich den Tod meiner Kinder wollen. Ich würde einer Bluttransfusion zustimmen.
Ein paar Jahre nach meinem Ausstieg fragte ich meinen Vater danach. Der Gedanke, in was für einer potenziellen Gefahr ich als Kind geschwebt hatte, ließ mich einfach nicht los.
»Papa, als Kind musste ich immer meinen Blutausweis dabeihaben. Meine Mutter hätte sicher nie einer Bluttransfusion zugestimmt – aber hättest du mich auch sterben lassen?«
»Als deine Mutter und ich noch zusammen waren, hätte sie sicher versucht, mich durchzusetzen.«
»Aber nach der Scheidung, was wäre da passiert, wenn ich einen schweren Unfall gehabt hätte?«
Durch die Leitung hörte ich sein Seufzen. »Ich hätte alles unternommen, um dich am Leben zu halten. Aber wenn ich mich durchgesetzt hätte und du der Transfusion auch zugestimmt hättest, wärst du danach unrein gewesen. Und du weißt ja sicher, was für Folgen das gehabt hätte.«
Oh ja, das wusste ich auch nur zu gut.
»Wie können diese Menschen in den Spiegel schauen, wenn sie ihre eigenen Kinder auf dem Gewissen haben?« Wut kam in mir auf, weil ich selbst jahrelang der Ansicht gewesen war, solch eine Entscheidung wäre richtig.
»Da siehst du mal, wie sehr man Menschen beeinflussen kann.« Damit hatte mein Vater mehr als recht.
Noch ein anderer Punkt war verstärkt in mein Bewusstsein gerückt: das Verbot von Abtreibungen. Ohne Wenn und Aber. Zwar ist in der Bibel nie direkt von Abtreibung die Rede, doch es wird davon ausgegangen, dass Jehova jegliches ungeborene Leben schützt, dass die Leibesfrucht ein Segen Jehovas ist. Aber was, wenn eine Frau vergewaltigt wurde? Diese Frage stellte ich auch einmal einem Ältesten in meiner Versammlung.
Seine Antwort: »Wenn eine Frau von einer Vergewaltigung schwanger wird, darf sie das Kind trotzdem nicht abtreiben. Nur Jehova darf Leben geben und Leben nehmen.«
»Aber wie soll man denn das Kind eines Vergewaltigers gebären und großziehen?« Schockiert schaute ich den Ältesten an.
»Es ist auch dein Kind. Ein Kind Gottes.«
Meine Liste wurde länger und länger – und ich mir immer sicherer. Ja, ich wollte aussteigen. Ich spürte, es war die richtige Entscheidung. Dieses eine kleine Prozent Zweifel, das noch blieb, ignorierte ich. Es gab keine hundertprozentige Sicherheit. Woher auch? Man konnte sich immer irren. Aber Selbstbestimmung war nur möglich, wenn man bereit war, ein Risiko einzugehen.
Nachdem ich alles tausendmal gründlich durchdacht hatte, war ich so weit. Der Entschluss war gefasst und unumstößlich. Die Freiheit zum Greifen nah. Viele Aussteiger schreiben einen Brief an die Ältesten und kommen sogar in die Versammlung, wenn ihr eigener Ausschluss verkündet wird. Ich halte das für eine moderne Form der Folter.
Stell dir vor, du kommst in den Saal, und vor der Zusammenkunft sind alle freundlich und fragen dich, warum du so blass aussiehst. Du kennst die Menschen seit Jahren, und alles ist wie immer, keiner außer dir hat den Hauch einer Ahnung, was gleich von der Bühne bekanntgegeben wird. Und dann, zwei Stunden später, redet keiner mehr ein Wort mit dir, man sieht dich kaum von der Seite an, und der Raum voller Menschen ist getränkt von Ablehnung oder Mitleid. Das grenzt an Selbstverletzung. Denn gerade in dem Moment, in dem man sich für ein Leben ohne Gehirnwäsche entscheidet, sollte doch die Selbstbestimmung anfangen. Und dazu gehörte für mich, auf die Art und Weise zu gehen, die für mich am besten war, und nicht so, wie es verlangt wurde.
Ich wollte zwar auch ein letztes Mal die Zusammenkunft besuchen, aber in ihr wollte ich den wenigen, die mir ans Herz gewachsen waren, persönlich sagen, dass sie mich nie wiedersehen würden. Ich hatte mir einen Abend ausgesucht, an dem das Gedächtnismahl zelebriert wurde, ein Mahl zur Erinnerung an den Tod Jesu Christi, eine Feier zu seinem Gedenken. Es handelt sich dabei um den einzigen Anlass, den zu feiern Jesus Christus seine Jünger angewiesen hatte. Es wird auch Abendmahl des Herrn genannt und wird in der Regel Ende März oder Anfang April begangen. Dann versammeln sich weltweit alle Zeugen Jehovas nach Sonnenuntergang, wie es zu biblischer Zeit üblich war.
Während des Programms herrschte eine besinnliche, bedrückte Stimmung, denn man betrauerte Jesu Tod, dankte aber auch Jehova Gott für das Loskaufopfer. Durch Adams Ungehorsam im Paradies verlor er seine Vollkommenheit und somit auch wir, seine Nachkommen. Um uns Menschen von der Sklaverei der Sünde und des Todes zu befreien, beschaffte Jehova ein Lösegeld: seinen Sohn Jesus. Durch seinen Tod opferte er sein vollkommenes Leben als Preis für Adams Sünde um uns zu retten. Er verteidigte Jehovas Namen vor Satan, in dem er bewies, dass ein vollkommener Mensch mit freiem Willen bereit ist, Gott treu zu bleiben, sogar bis in den Tod. Jesus wurde an den Marterpfahl genagelt. Jehova nahm den Wert des Opfers Jesu als Lösegeld an und damit bietet sich uns die Möglichkeit von Sünde befreit zu werden. Um Vergebung zu erlangen, sind Glauben und Werke notwendig. Wir müssen unsere Sünden bereuen, Gott treu dienen und unser Leben in seinen Dienst stellen.
Als Symbol für Christi Leib gingen Teller mit Brot durch die Reihen. Jeder, der den Teller umfasste, hielt kurz inne und reichte ihn dann an den Nächsten weiter. Ebenso kreiste ein Glas Rotwein, Symbol von Jesu Blut. Keiner aß vom Teller oder trank aus dem Glas, mit Ausnahme der kleinen Gruppe der Gesalbten. Allerdings hatte ich in all den Jahren nie erlebt, dass jemand von den Symbolen nahm, denn es lebten nur noch sehr wenige der 144 000 Auserwählten. Nach einem letzten Gebet war der Abend beendet. Ich trug ein bodenlanges schwarzes Kleid, was nicht nur dem Anlass angemessen war – das Gedächtnismahl überzog immer der leichte Hauch einer Trauerfeier –, sondern auch meinem persönlichen Abschied. Bis auf die Tatsache, dass das Kleid eng anlag. Aber ich wollte gut aussehen bei meinem letzten Auftritt. Dazu ein hübsches Make-up und High Heels. Mein Abgang sollte sexy sein. Eine Hymne an mein neues Leben.
Nach dem Programm sagte ich einigen mir lieb gewordenen Personen, dass ich heute aussteigen würde. Auch wenn ihre Trauer mich schmerzte und mir Tränen über das Gesicht liefen, wir uns umarmend dasaßen – ich musste diesen Weg gehen. Es war schlimm. Ich wusste, was sie alle in diesem Moment fühlten. Kannte ihren Schmerz, ihre Verzweiflung und ihre Enttäuschung nur zu gut. Verlust. Ich war verloren. Für sie alle starb ich in diesem Moment. Aber für mich war es nicht weniger schlimm. Sie alle hatten sich gegenseitig, aber ich hatte niemanden. Sie verloren einen Menschen, aber ich verlor sie alle. Meine große Familie. Nie wieder würde einer von ihnen ein Wort mit mir sprechen. Weil sie es so wollten. Und sie wollten es, weil es ihnen vorgeschrieben wurde. Sie litten darunter, genauso wie ich damals bei meinem Vater und Amelie. Aber so waren die Regeln. Ich war ihnen nicht böse. Sie hatten sich entschieden, wie sie leben wollten. Ich hatte nun meine eigene Entscheidung getroffen.
Da ich vorher schon meinen Verlust betrauert, mir diese Reaktionen auf meine Abtrünnigkeit bewusst gemacht, das Übermaß an Gefühlen erwartet hatte, brach ich an diesem Abend nicht zusammen. Ich hatte schon seit Wochen Qualen gelitten und war voller Trauer gewesen, hatte Schmerz und Kummer heftig gespürt.
Schließlich verabschiedete ich mich. Ich nahm meinen Mantel, zog ihn an, griff meine Tasche und trat aus dem Königreichssaal hinaus in die Dunkelheit. Ich hatte viel geweint und fühlte mich erschöpft, aber der frische Wind machte mich schlagartig wach. Die kühle Luft und die Ruhe taten mir gut. Langsam realisierte ich sie. Die Freiheit. Ich war frei.
Der Moment, als ich das Gebäude verließ und wusste, ich würde niemals wieder dorthin zurückkehren, haute mich fast um. Ich ließ das Licht hinter mir, ging über den Parkplatz und durch das Tor. Ich drehte mich nicht um, lief mit schnellen Schritten in die Dunkelheit hinein. Meine hohen Absätze auf dem Fußweg füllten die Stille der Nacht mit einem Klackern. In meinem Kopf das Lied »Reach The Sun« von meiner Lieblingsband Northern Lite, das ich auf der Hinfahrt gehört hatte. Der Wind streichelte mein Gesicht, und ich musste lächeln. Ja, ich erreichte die Sonne, spürte das Licht. Erleuchtung. Ich fühlte mich stark. Wie eine Kriegerin, die siegreich aus einer Schlacht hervorgegangen war. Geschunden, aber lebendig. Verwundet, aber unzerstörbar. Müde, aber doch voller Klarheit. Ich war ein neuer Mensch. Ich stieg in mein Auto und fuhr los. Die Fenster ließ ich unten, die Musik drehte ich laut auf, meine Haare umwehten mein Gesicht.