WAHRE OBSESSION

Eines Tages war meine Mutter mit ihren Freundinnen unterwegs. Ich sollte in ihrer Abwesenheit die Küche auf Vordermann bringen.

Eindringlich warnte sie mich, dass alles sauber sein müsse, bevor sie die Wohnungstür hinter sich zuzog.

Große Lust zum Putzen hatte ich nicht, aber ich wollte auch keinen Ärger. Also riss ich mich zusammen, ging in die Küche und machte Musik an. Ich trocknete das Geschirr ab und räumte es ein. Messer hatten schon immer eine große Anziehung auf mich gehabt. Gefährlich. Wunderschöne scharfe Klingen. Sie konnten mit einem kleinen Schnitt Blut hervorlocken. Gottes heiliges Blut. Lebenselixier. Sie konnten aber auch ein Werkzeug sein, mit dem man sündigt. Ich drückte die Spitze der Klinge eines Messers gegen die Kuppe meines Zeigefingers. Die Haut war prall und spannte unter der Spitze der Klinge. Noch etwas mehr Druck. Ein Schreck durchfuhr mich. Ein kleiner oberflächlicher, nahezu schmerzloser Schnitt. Hellrotes Blut füllte langsam die Kerbe in meiner Haut auf. Ich sah dabei zu. Es war nicht viel Blut. Der Schnitt war kaum zu sehen. Ich zögerte einen Moment, dann steckte ich mir den Finger in den Mund. Saugte daran. Kostete das Blut. Ich hatte früher schon mal kleine Wunden abgeleckt, wenn ich mich verletzt hatte. Aber das war automatisch passiert. Ein Reflex. Da wusste ich noch nicht, dass ich das nicht durfte. Es war aus Versehen geschehen. Wie es kleine Kinder so tun. Inzwischen war ich älter und versuchte, meinen Glauben besser zu verstehen. Ich wollte nicht aus Versehen Fehler machen, wegen denen ich nicht ins Paradies kommen würde. Aber irgendwie faszinierten mich diese verbotenen Dinge. Es war mein eigenes Blut. Konnte es wirklich Sünde sein, wenn ich meinen Finger ablutschte?

Mit den Schwestern aus meiner Versammlung studierte ich einmal wöchentlich die Bibel, um so die Lehren Gottes besser zu verstehen. Jehovas Zeugen hatten unzählige Bücher veröffentlicht, die einem dabei helfen sollten. Eine der Glaubensschwestern war Katharina, die Ehefrau eines der Ältesten, die ihre endlosen schwarzen Haare meist in einem geflochtenen Zopf mit Pony trug, bevor sie sie eines Tages zu einer Kurzhaarfrisur schnitt. Ihre strahlenden blauen Augen waren hinter einer Brille mit dicken Gläsern versteckt, die sie noch größer wirken ließen. Katharina mochte ich besonders gern. Sie hatte zwei erwachsene Söhne, tat sich durch einen großen Eifer hervor und war immer freundlich. Sie war bei uns Pionierin, was bedeutete, sie war eine Vollzeitpredigerin, die keiner Arbeit nachging und mindestens siebzig Stunden monatlich im Predigtdienst verbrachte. Sie war die einzige Pionierin in unserer Versammlung, und somit waren sie und ihr Ehemann das Vorzeigeehepaar. Er hatte einen tiefen erzgebirgischen Dialekt, der oft für kleine Lacher sorgte. Beide waren sehr herzliche und lustige Menschen, und ich mochte sie wahnsinnig gern.

Katharina konnte so viele Bibeltexte auswendig, wusste immer eine Lösung und war für mich fast wie eine Heldin. Ich war überglücklich, mit dieser Frau nun studieren zu dürfen. Trotz ihrer Position als Pionierin und Frau eines angesehenen Ältesten war sie absolut bodenständig, aufrichtig und kein bisschen überheblich. Zu ihr hatte ich ein enges Vertrauensverhältnis, mit ihr konnte ich über all die negativen Gedanken, Gefühle und Zweifel sprechen. Sehr oft fragte ich sie um Rat.

»Was kann ich denn gegen negative Gedanken tun?«, wollte ich einmal von ihr nach unserem Studium wissen.

Statt einer Antwort fragte sie mich, was meine negativen Gedanken wären.

»Ich glaube, dass ich schwach bin«, gestand ich und dachte an meine Messergeschichte. Und ich dachte an meine Mutter. Ich war davon ausgegangen, dass jeder Zeuge Jehovas automatisch ein guter Mensch sei. Ich hatte keine Ahnung, wie falsch ich damit lag. Aus diesem Grund habe ich mich auch nie getraut, mich gegen die Peinigungen meiner Mutter zur Wehr zu setzen. Eine der Bibelstellen, mit denen meine Mutter jede ihrer Taten rechtfertigte, lautete: »Ehre deinen Vater und deine Mutter, welches das erste Gebot mit einer Verheißung ist: Damit es dir gut geht« (Eph. 6:2,3). Eingebrannt in der Tiefe meines Geistes. Eigentlich sollte ich ihr vertrauen und sie ehren. Aber sie demütigte mich, tat mir weh und schrie mich tagtäglich an.

Die Pionierin erklärte mir, dass ich von mir keine Perfektion erwarten könne. In der Bibel stehe, dass kein Mensch so rechtschaffen sei, dass er immer richtig handeln und nie einen Fehler machen würde. Fehler und Schwächen würden nicht bedeuten, dass ich ein Versager, sondern einfach nur, dass ich ein unvollkommener Mensch sei. Ich solle einfach realistisch sein und an meiner Persönlichkeit arbeiten. Ich solle versuchen, aus meinen Fehlern zu lernen, und es das nächste Mal besser machen, dann sei Jehova auch stolz auf mich. Er gäbe mir so viele Hilfen, aus seinem Wort, der Bibel, und es läge an mir, sie anzuwenden.

»Ich denke, wenn ich so schwach bin, dann finde ich auch keine Freunde«, gestand ich weiter.

Sie fragte mich, wen ich als Freund ansehen würde und was für mich wahre Freundschaft ausmachen würde. Ich überlegte für einen Moment, aber ich wusste, worauf sie hinauswollte. Als Kind teilt man mit Spielkameraden seine Zeit, aber als Jugendlicher mit Freunden seine Ansichten und Werte. Das Thema hatten wir erst vor Kurzem im Buchstudium.

Sie schlug mir vor, dazu einen Bibeltext zu lesen, während ich noch in Gedanken versunken war. Sie öffnete ihre Bibel in Sprüche 17:17. Ich war beeindruckt, dass sie immer genau wusste, wo welcher Text stand. Sie gab mir die Bibel und ließ mich vorlesen.

»Ein wahrer Gefährte liebt allezeit und ist ein Bruder, der für die Zeit der Bedrängnis geboren ist.« Ich klappte die Bibel wieder zu und sah sie an.

Genau das seien wahre Freunde. Menschen mit anziehenden Eigenschaften, die einen positiven Einfluss auf mich ausübten und hohe Prinzipien hätten. Auf diese Kriterien sollte ich bei der Wahl meiner Freunde achten. Dann würde ich wahre Freunde finden, die mich in der Zeit der Bedrängnis nicht allein lassen würden. Auch sie sei meine Freundin, obwohl sie etwas älter sei, fügte Katharina schmunzelnd hinzu. Sie deutete auf den Saal und sagte, dass ich von Menschen umgeben wäre, die dieselben Ansichten und Werte wie ich verfolgen würden. Und dass es doch gelacht wäre, wenn ich hier keine richtigen Freunde finden würde. Sie sah mich fragend an, und in ihren Augen, die durch das dicke Brillenglas viel größer wirkten, machte sich ein zuversichtliches Strahlen breit. Ich nickte und ließ mich von ihrer Freude und Gelassenheit beruhigen, sodass meine Sorge, keine Freunde zu finden, für einen Moment wie weggeblasen schien.

Ein anderes Mal sagte ich zu Katharina: »Alle Mitschüler erleben immer so Spannendes, aber ich bin nie dabei. Ich finde das frustrierend, und ich beneide sie sogar manchmal um ihr aufregendes Leben.«

Katharina lächelte mich an, nahm meine Hand und sagte mir, dass nicht immer alles so sei, wie es scheine. Dass das, was mir so toll erscheine, oft nur die halbe Wahrheit sei. Ich solle mich nicht mit den anderen vergleichen. Im Brief des Paulus an die Galater stehe: »Lasst uns nicht ichsüchtig werden, indem wir miteinander wetteifern und einander beneiden.«

»Aber sie lachen über mich!«

Dann wären sie zynisch, hätten einen durch und durch negativen Charakter. Da sei es nur gut, wenn ich mich von ihnen fernhalten würde, meinte sie darauf.

All ihre Worte halfen mir, meine Schwächen zu überwinden, mich nicht mehr verunsichern zu lassen. So lernte ich auch, meine Emotionen mehr unter Kontrolle zu halten. Zumindest für den Moment.

Tanja war eine andere Glaubensschwester, mit hellblonden, lockigen Haaren und einem schmalen, hübschen Gesicht. Sie spielte Gitarre in unserem Orchester, und unsere Mütter waren eng befreundet. Beide waren alleinerziehend und Teil einer Gruppe von ledigen Zeugen, die viel Zeit miteinander verbrachten. Tanja war wie eine große Schwester für mich. Sie war so, wie ich immer sein wollte, stark in ihrem Glauben, gottgefällig, eine Person, zu der man aufschauen konnte. In ihrem Zimmer hatte sie Lautsprecherboxen, und daraus kamen keine Königreichslieder, sondern moderne Musik. Trotzdem hatte ich nicht den Eindruck, dass daran etwas falsch war. Sie trug lange flippige Röcke und war bei allen in der Versammlung beliebt. Sie war einfach total cool.

Tanja studierte später mit mir die Jugendbücher. Diese Jugendbücher heißen eigentlich Fragen junger Leute und wurden von Jehovas Zeugen extra für jugendliche Christen veröffentlicht, um wichtige Fragen anhand der Bibel zu beantworten. Es waren Ratgeber zu den Themen Familie, Freundschaft, Sex, Liebe und Moral sowie Freizeitgestaltung. Für mich waren sie gleichzusetzen mit der Bibel. In Gottes Heiliger Schrift waren manche Verhaltensweisen und Ratschläge oft unverständlich ausgedrückt und nur schwer auf die heutige Zeit anzuwenden. Damit man in jeder Situation wusste, was richtig und falsch war, wurden die Jugendbücher veröffentlicht, um die Lehren Jehovas unverkennbar und deutlich zu formulieren und klare Regeln und Erwartungen festzusetzen. So gab es kaum Grauzonen, und für jede mögliche Versuchung Satans hatte die Organisation eine passende Lösung parat. Leitende Beispiele wie von Joseph, Lydia, den drei Hebräern oder König Hiskia waren so gewählt, dass sie zum Lehrinhalt des Kapitels passten und uns Jugendlichen Mut machen sollten.

Auch Tanja bemerkte, dass ich unzufrieden war, und so behandelten wir gemeinsam das Beispiel von Hiob.

»Gott gestattete Satan, Hiob alles wegzunehmen, zuerst seinen Besitz und seine Kinder und dann auch noch seine Gesundheit. Hiob wusste nicht, dass Satan dahintersteckte. Ihm war unbegreiflich, warum Gott das alles zuließ. Doch er sagte sich von Jehova nie los«, las sie mir vor, und ich hörte aufmerksam zu.

Sie erklärte mir, dass Hiob Besuch von drei falschen Freunden bekommen hatte und dass deren lange Reden im Bibelbuch Hiob viele Seiten füllen würden. Sie wollten Hiob weismachen, Gott bestrafe ihn für irgendwelche geheimen Sünden. Auch meinten sie, Gott liege nichts an seinen Dienern und er vertraue ihnen nicht. Hiob widersprach ihnen. Voller Überzeugung erklärte er, er werde Gott bis in den Tod treu bleiben. Sie ermunterte mich, mit ihr einmal Hiob 10:1 zu lesen. Ich schlug die Bibel auf. »Meine Seele empfindet bestimmt Ekel vor meinem Leben. Ich will meiner Besorgnis um mich freien Lauf lassen. Ich will in der Bitterkeit meiner Seele reden!« Laut las ich den Bibeltext vor. Ja, genau so fühlte auch ich mich manchmal.

Tanja fuhr fort und erklärte, dass es auch uns so wie Hiob passieren könne, dass wir von Problemen überrollt werden und voller Besorgnis sein könnten. Oder dass uns unser Leben sogar anekeln würde. Aber wenn wir uns ein Beispiel an Hiob nehmen und uns nicht von den Tiefschlägen des Lebens unterwerfen lassen würden, könnten auch wir Jehova unerschütterlich treu bleiben.

Im Vergleich zu Hiob war mein Körper nicht mit schmerzhaften ekligen Beulen übersät, ich hatte keine Kinder oder Partner verloren und auch keinen großartigen Besitz, den der Teufel mir hätte nehmen können. Trotz allem war Hiobs Ausharren beispiellos, immer hielt er an Jehova fest.

Am Ende wurde er für seine Treue reichlich belohnt. Macht uns dieses Beispiel nicht Mut? Mit dieser rhetorischen Frage beendete Tanja unser Studium.

Ich war jedoch eingeschüchtert von diesen makellosen Beispielen perfekten christlichen Wandels. Ständig hatte ich Angst, etwas Falsches zu tun. Ich hatte unentwegt Furcht vor Vergehungen und davor, wegen irgendetwas erwischt zu werden, was bei uns als Sünde galt. Nicht nur der Zorn Gottes war es, der mir das Blut in den Adern gefrieren ließ, sondern Hirtenbesuche und das Rechtskomitee. Ich wusste, dass es existierte, auch wenn ich bislang nie zur Rechenschaft gezogen worden war. Ich wusste, dass jeder Verkündiger, der sich etwas zuschulden kommen lassen hatte, sich diesen Gesprächen mit den Ältesten stellen sollte. Ich wollte nie in so eine Lage geraten. Aber die Angst davor, einen Fehler zu begehen und verraten oder beobachtet zu werden, war immer präsent. Wie schrecklich wäre es doch, vor den Ältesten zu sitzen und jedes kleinste Detail ausbreiten zu müssen. Überzeugend Reue zu bekunden, nachdem man von den Hütern von Gottes Herde auf Herz und Nieren geprüft worden war und zusehen musste, wie sie sich an dem Gesagten ergötzten.

Man hatte mir gesagt, dass auch Kinder und Jugendliche nicht von dem Rechtskomitee befreit waren. Lief etwas bei Zeugenkindern schief, so waren Gespräche mit Ältesten die Folge. Wurde die Ältestenschaft über Straftaten wie Kindesmissbrauch informiert, wurden diese nicht bei der Polizei angezeigt oder das Jugendamt eingeschaltet. Der Royal Commission in Australien beispielsweise, sind über 1800 Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch innerhalb der Gemeinschaft bekannt, die bewusst von Jehovas Zeugen gegenüber staatlichen Institutionen vertuscht wurden. Somit verhindert die Organisation, dass Täter gesetzlich zur Rechenschaft gezogen werden. Von ähnlichen Fällen weiß man auch in anderen Ländern, wie zum Beispiel den Niederlanden.

Manchmal konnte ich vor lauter Gewissensbissen wegen meiner kleinen Vergehungen und Gedanken nachts nicht schlafen. Ich bettelte dann um Vergebung und winselte um Gottes Gnade. Und wurde man nicht erwischt, war es sogar noch schlimmer. Denn ohne die eigenen Sünden zu gestehen, konnte keine Läuterung erfolgen. Man war beschmutzt und nicht würdig, das Königreich Gottes zu erben. So wurde ich selbst zu meinem größten Feind, in dem Wissen, dass ich Gottes Gnade nicht verdiente.

Später hatte ich mehrere solcher Gespräche. Hirtenbesuche. Oder Verhöre. Die erste dieser Unterhaltungen betraf nicht nur mich, sondern auch Hanna, das Mädchen aus meiner Versammlung.