SINNLICHES GEHEIMNIS

Als wir in der fünften Klasse waren, verbrachten Hanna und ich viel Zeit miteinander. Wir waren nachmittags entweder bei ihrer Oma oder bei Hanna zu Hause, da ihre Mutter keine Arbeit hatte und den ganzen Tag daheim war. Ihre Eltern waren nicht so streng wie meine Mutter, und ich fand es total cool, dass wir bei ihr fernsehen durften. Ich übernachtete oft bei ihr, und wir schauten viele Trickfilme. Außerdem waren wir anfangs riesige Fans der Diddlmaus, obwohl wir bald zu groß dafür waren.

In dieser Zeit war bei unseren Zusammenkünften regelmäßig eine Schwester aus der Nachbarversammlung mit ihrem Sohn und ihrer Tochter zu Gast. Daniel war ein Jahr älter als ich, und ich war das erste Mal verknallt. Er war vierzehn, hatte blonde Haare, blaue Augen, und wir saßen in den Zusammenkünften immer nebeneinander. Er war süß, also entschied ich mich, ihm einen Brief auf meinem neuen Diddlpapier zu schreiben. Hanna wusste natürlich von Daniel, und als ich eines Abends bei ihr war, half sie mir, den Brief zu schreiben. Wir fügten ein paar Verse ein, die in unserer Vorstellung superromantisch klangen. Hanna war in einen Jungen aus ihrer Klasse verliebt und schrieb ihm ebenfalls einen Brief. Da saßen wir also, hörten Lieder und verfassten unsere gefühlsduseligen Briefe auf buntem Papier.

Nach der nächsten Zusammenkunft gab ich Daniel meinen Brief, und als wir uns vor dem Königreichssaal verabschiedeten, küsste er mich plötzlich überraschend kurz auf den Mund. Es war das letzte Mal, dass ich ihn sah, denn seine Mutter, seine Schwester und er wechselten zurück in ihre ursprüngliche Versammlung.

Am folgenden Abend übernachtete ich wieder bei Hanna und erzählte ihr von dem Kuss. Ich war extrem aufgeregt. Hanna fragte mich, ob ich schon mal einen Jungen richtig geküsst hätte. Mit Zunge. Hatte ich nicht. Bisher hatte ich mir noch gar keine Gedanken über so etwas gemacht. Sie allerdings schon. Sie machte mich neugierig und berichtete mir alles, was sie wusste. Scheinbar konnte man beim Küssen richtig viel falsch machen. Sie überredete mich dazu, dass wir es doch zusammen üben könnten, damit wir uns dann bei den Jungs nicht blamieren würden. Aus den Belehrungen in der Versammlung wusste ich, dass Jehova Unreinheit und Unmoral hasste, aber ich hatte mich nie damit beschäftigt, denn es hatte mich nicht interessiert und war für mich ein Erwachsenenproblem. Trotzdem machte ich mir Sorgen, dass das falsch sein könnte.

»Dürfen wir das denn?«, fragte ich.

»Warum denn nicht?«, erwiderte sie.

»Ich weiß nicht recht, ich glaube nicht, dass Jehova das gut findet.«

»Ach was, das ist doch nur ein Kuss, mehr nicht. Außerdem hat meine Cousine das auch schon gemacht«, beruhigte mich Hanna.

Zwar war ich mir weiterhin nicht sicher, ob das für Gott wirklich okay war, aber Hanna hatte recht damit, dass es nur ein Kuss war. Und irgendwie siegte auch meine Neugierde.

Klar, ich wollte ein braves Mädchen und eine treue Christin sein. Hanna hatte hingegen nicht so viele Hemmungen und schien sich auch nicht so viele Gedanken zu machen. Aber da sie schon immer fleißiger studierte und öfter predigen ging als ich, vertraute ich ihr. Oft schien es mir so, als würde sie sich nicht vor Gottes Bestrafung und den Konsequenzen fürchten – im Gegensatz zu mir. Es schien, als wäre sie sich absolut sicher bei dem, was sie tat. Sie war im Reinen mit sich. Also ließ ich mich von ihr überreden, ein paar dieser neuen Sachen zu probieren, die auch ich interessant fand.

Gott hatte nichts gegen Küsse. Küsse waren erlaubt. Küsse kosteten mich nicht das ewige Leben. Also küssten wir uns, Hanna und ich. In ihrem Zimmer. Ohren gespitzt, falls jemand kommen sollte. Wahnsinn. Aus zaghaften Küssen wurden intensive Küsse mit Zunge. Wir übten fleißig. Uns war wirklich wichtig, gut und richtig küssen zu können. Völlig grundlos eigentlich. Wir küssten sowieso keinen Jungen, also wozu üben? Daniel war weg, und Hanna und der Junge aus ihrer Klasse, mit dem sie ihren ersten Kuss hatte, küssten sich nicht mehr. Aber daran dachten wir nicht und probierten weiter.

Mit der Zeit wollte meine Freundin mehr. Fragte mich, ob ich das Gefühl kenne, wenn ich an diese kleine Stelle in meinem Höschen fasse. Sie berühre und reibe. Kannte ich nicht. Vielleicht hatte sie ihre Cousine gefragt. Schon allein darüber zu reden war mir irgendwie unangenehm. So etwas wie Internet kannten wir nur aus der Schule. Smartphones gab es noch nicht. Meine Mutter hatte an unserem alten Computer zwar ein Modem installiert, aber da durfte ich nur ganz selten für Schulaufgaben ran. Nie hätte ich mich getraut, nach irgendetwas Verbotenem zu googeln. Meine Klassenkameraden hatten meistens schon Laptops zu Hause oder WLAN, aber meine Mutter war – wie überhaupt – etwas altmodisch eingestellt. Hannas Eltern hatten zwar einen Computer, aber lediglich ihr Vater nutzte ihn, und das nur sehr selten. Auch sonst kannte ich kaum jemanden in unserer Versammlung, der zu Hause einen Computer hatte. Wahrscheinlich lag es daran, dass wir in den Zusammenkünften lernten, dass Satan das Internet nutze, um uns in Versuchung zu führen, und dass es eine riesige Gefahr darstelle.

Nach Hannas Frage lag ich abends in meinem Bett und konnte nicht einschlafen. Diese verbotene Stelle, von der Hanna erzählt hatte – sollte ich sie anfassen oder besser nicht? Ich fühlte mich beschämt, allein wegen des widerwärtigen Gedankens. Man hatte uns ja erzählt, was die Bibel über Selbstbefriedigung sagt. Ich darf mich nicht anfassen, sagte ich mir. Gott will das nicht. Das ist unrein. Und ich möchte rein sein. Selbstbeherrschung. Eine der wichtigsten Eigenschaften als Diener Gottes. Jehova verabscheut Menschen ohne Selbstbeherrschung.

Schließlich stieg ich aus dem Bett und las zur Beruhigung ein paar Kapitel in den Psalmen. »Verbirg dein Angesicht vor meinen Sünden und tilge selbst all meine Vergehungen aus. Schaffe in mir auch ein reines Herz, o Gott, und leg einen neuen, einen festen Geist in mich. Wirf mich nicht weg von deinem Angesicht; und deinen heiligen Geist o nimm nicht weg von mir« (Psalm 51:9–11). Die Psalmen und Sprüche waren schon immer meine Lieblingsbibelbücher. Viele Verse konnte ich auswendig. Ich mochte die poetische Schreibweise und die Metaphern. Intensive Verse, sie waren nicht so grausam wie die Offenbarung oder so langweilig wie die Abstammungsregister. Aber ich konnte das Bibellesen nicht genießen und mich konzentrieren. Mein Kopf kreiste immer noch um das verführerische Kribbeln. Ich versuchte, es zu ignorieren, aber es ließ mir keine Ruhe.

Ich klappte die Bibel zu, holte mein Fragen-junger-Leute-Buch aus dem Regal und legte mich wieder ins Bett. Suchte das Kapitel, in dem es um Liebe und Sex ging. Um Homosexualität. Um Selbstbefriedigung. »Lerne, dich zu beherrschen, statt Selbstbefriedigung als Ventil für sexuelles Verlangen zu benutzen. Die Bibel empfiehlt, sich gar nicht erst in Situationen zu bringen, die erotische Gefühle wecken.« Weiter unten wurde angeführt, dass Selbstbefriedigung oft Schuldgefühle auslöse, die einen aber motivieren könnten, mit dieser schlechten Gewohnheit zu brechen. »Versuch also, das Problem richtig einzuordnen. Selbstbefriedigung fällt unter den biblischen Begriff Unreinheit. Du kannst dadurch ›von allen möglichen Leidenschaften und Begierden beherrscht‹ werden und eine verkehrte Denkweise entwickeln.« Über Homosexualität las ich Folgendes: »Selbst wenn sich einige zum gleichen Geschlecht hingezogen fühlen – von Christen verlangt die Bibel, homosexuelle Handlungen zu lassen.« Die Bibel verbietet strikt einige sexuelle Verhaltensweisen, und Homosexualität ist eine davon. Es waren viele Aussagen von Jugendlichen in ähnlichen Situationen angeführt, die mir helfen sollten, zu verstehen, dass ich mich mithilfe der Bibel bewusst dafür entscheiden könne, verkehrten Wünschen nicht nachzugehen. Ich las zwei weitere Kapitel, und währenddessen merkte ich wieder, wie es kribbelte. Es war seltsam erregend, all diese verbotenen Dinge zu lesen. Mein Körper reagierte auf die Vorstellung in meinem Kopf.

In meinem Zimmer war es dunkel, und ich atmete schwer. Meine Hände lagen auf meinem Bauch unter der Decke. Gefaltet wie beim Gebet. Ich betete zu Gott, er möge mir doch bitte vergeben. Das, was ich getan hatte, würde ich nie wieder tun. »Von jetzt an bin ich eine treue Christin.«

Am nächsten Tag in der Zusammenkunft traute ich mich kaum, meinen Brüdern und Schwestern in die Augen zu sehen. Es fühlte sich an, als würde in roten Buchstaben »Sünderin« auf meiner Stirn stehen. Ich hatte Angst, dass man mir die Veränderung ansah. Ich war entweiht. Nicht mehr blütenrein und unbefleckt. Dreckig. Ja, ich war dreckig. Ich dachte: Um wieder rein zu werden, müsste ich zu den Ältesten oder meiner Mutter gehen und meine Tat gestehen. Erzählen, wie es dazu gekommen ist, mit Hanna, und wie ich mich angefasst habe und ob es mir gefallen hat. Das traute ich mich aber noch weniger. Weiter dachte ich: Ich bin ein Feigling. Wenn ich meine Sünde nicht gestehe, kann ich nicht geläutert werden. Dann wird Jehova mir nicht verzeihen, weil ich nicht ehrlich war. Da waren sie, die Schuldgefühle nach der Selbstbefriedigung, vor denen mich mein Buch gewarnt hatte.

In den folgenden Tagen fasste ich mich sehr oft an. Danach folgte immer ein Gebet, in dem ich gelobte, dass es das letzte Mal sei und dass Gott mir bitte vergeben solle. Aber dieses neu entdeckte Gefühl war einfach zu reizvoll. Ich war neugierig, wie es sich entwickelte. Jedes Mal fühlte es sich intensiver an. Besser. Unbeschreiblich. Ich wollte mehr davon. Die Stimme der Vernunft in meinem Kopf versuchte, mich aufzuhalten. Aber schon allein die Vorfreude, als ich darüber nachdachte, es wieder zu tun, hatte mich so erregt, dass ich mich nicht bremsen konnte. Böses Mädchen.

Als ich meine Freundin Hanna das nächste Mal sah, erzählte sie mir, dass sie sich angefasst habe und wie toll es doch gewesen sei. Sie fragte mich, ob ich es ebenfalls getan hätte. Eigentlich wollte ich ihr nicht davon erzählen, weil ich mich schämte, aber zu lügen wäre auch eine Sünde gewesen. Ja, wir hatten es beide getan. Doch sie hatte im Gegensatz zu mir kein schlechtes Gewissen. Gern hätte ich mit ihr getauscht. Es schien so viel schöner zu sein, wenn ich »es« ohne diese Schuldgefühle genießen könnte. Dann fragte sie: »Wollen wir es nicht mal zusammen ausprobieren?« Diese Frage hatte ich nicht kommen sehen. Sie überforderte mich, und ich konnte auch nicht darüber nachdenken, weil Hanna sich plötzlich zu mir beugte und mich küsste. Und während wir uns küssten, fing sie an, meine Hose zu öffnen.

»Nein«, wehrte ich ab. »Das ist Unreinheit. Sünde vor Gott.«

»Quatsch«, widersprach Hanna. »Meine Cousine hat es mit einer Freundin auch gemacht. Und wir müssen es ja niemandem erzählen. Und immerhin küssen wir uns ja sowieso und fassen uns auch so an anderen Stellen an. Warum also nicht da?«

Gute Frage. Trotzdem sagte ich nein. »Ich fühle mich dann wie Eva. Eva, die von der verbotenen Frucht kostet. Wie schwer muss diese Versuchung für sie gewesen sein? Ich darf nicht wie Eva sein. Ich muss mich in Selbstbeherrschung üben. Außerdem verbietet die Bibel Homosexualität.«

»Das ist doch keine Homosexualität«, lachte Hanna. »Wir sind nicht lesbisch, wir probieren doch bloß ein bisschen, weil das besser ist, als würden wir so was mit Jungs machen.«

Ich überlegte kurz, und was sie sagte, war absolut richtig und einleuchtend, aber dann musste ich an das denken, was ich in meinem Fragen-junger-Leute-Buch gelesen hatte. »Nein, Hanna, das ist Unreinheit«, sagte ich bestimmt, auch wenn ich mir nicht sicher war.

»In Ordnung, lassen wir es einfach«, meinte Hanna.

Dann passierte es irgendwie doch. Ich war wieder bei Hanna, ihre Eltern waren nicht da. Wir gingen erst ins Schwimmbad, danach zu ihr nach Hause. Wir redeten, aber irgendwann wollte sie mich wieder küssen. Ich machte mit. Fand es schön. Sie ließ ihre Hände unter mein Shirt gleiten und fasste meine kleinen Brüste an. Hanna hatte noch keine richtigen Brüste, aber bei mir wuchsen sie gerade. Plötzlich schob sie ihre Hand zwischen meine Beine. Unter meinen Rock. So schnell, dass es mich total überrumpelte. Sie fasste mich an. Zwischen meinen Beinen. Das Gefühl war noch erregender, als wenn ich es selbst tat.

Abends betete ich abermals um Verzeihung. Ich strich noch mal mit dem Finger über die Stelle, wo mich Hanna zuvor angefasst hatte. Die schmutzige Stelle. Kribbeln. Schon wieder. Je öfter man der Versuchung erliegt, umso schwieriger wird es, ihr zu widerstehen.

In den folgenden Wochen fassten wir uns noch oft an und tauschten uns darüber aus, wo es sich am besten anfühlte. Dann wurden wir erwischt. Ihre Mutter kam ins Zimmer. Fragte uns, was wir da machen würden. Ich wollte mich am liebsten in Luft auflösen. Hannas Mutter schickte mich sofort nach Hause und redete mit meiner Mutter über das Vorgefallene. Es war meine erste richtige Sünde, bei der ich erwischt wurde. Ich wusste nicht, wie die Strafe bei solch einem schweren Vergehen aussehen würde. Ich war starr vor Angst. Kurze Zeit später kamen zwei der Ältesten aus unserer Versammlung und befragten mich und Hanna zu diesem »Vorfall«.

In großer Runde saßen wir zusammen in unserer Wohnung. Neben mir auf der Couch saß meine Mutter, mit einigem Abstand Hanna und ihre Eltern, uns gegenüber die zwei Ältesten. Sie fingen an mit einem Gebet, danach wurden wir aufgefordert, alles zu schildern. Was wir getan hatten, und warum. Und was viel wichtiger war: Von wem war es ausgegangen? Wer hatte das sündige, unreine Herz und war eine Schande vor Gott?

Hanna sagte: »Sophie ist schuld. Sie hat mich dazu gezwungen. Ich wollte nicht und habe gesagt, dass es falsch ist, aber sie hat gedroht, zu den Ältesten zu gehen und zu sagen, dass ich so was mache!«

Diese Worte trafen mich wie ein Blitz. Ihre Eltern glaubten ihr. Meine Mutter glaubte ihr. Die Ältesten glaubten ihr. Ich spürte, wie es in mir kochte. Meine Kehle schnürte sich zu. Wie konnte sie bloß solche Lügen erzählen?! Wir dürfen nicht lügen, dachte ich. Ich konnte kaum reden, denn ich hatte nicht mit diesem Verrat gerechnet. Ich dachte, sie würde ehrlich erzählen, wie es gewesen war. Wie konnte sie mich bloß so an den Pranger stellen? Dabei war sie doch diejenige, die mich überredet hatte. Ich war hilflos und versuchte, mich zu verteidigen.

Ich sagte mit gebrochener Stimme: »Ich weiß, dass Hannas Cousine das ebenfalls mit einer Freundin gemacht hat, also liegt es auf der Hand, dass Hanna eher geneigt ist, so etwas zu tun.« Aber ich war nicht konzentriert, war durcheinander und benommen vor Scham und Wut. Ich spürte die Verachtung aller im Raum gegen mich. Dieser Verrat und diese Ungerechtigkeit machten mich so wütend. Nichts konnte ich sagen, was mich hätte retten können. Kläglich scheiterte ich. Alle waren gegen mich. Niemand glaubte mir.

Ich war schuldig, und ich war eine Sünderin. Gott war enttäuscht von mir, denn ich hatte nicht nur mich und Hanna, sondern auch meinen Glauben beschmutzt. Aber wie konnte mich meine beste Freundin nur so verraten? Ich war empört, und ich fühlte Schwäche. Schwäche, weil mir Ungerechtigkeit widerfahren war. Ich wollte so gern stark sein, wollte so schamlos lügen können wie Hanna. Aber ich heulte. Wie immer. Ich hatte keine Kontrolle über meine Tränen. Das wurde wahrscheinlich als Schuldeingeständnis angesehen. Alle dachten, ich würde lügen. Aber ich log nie. Das glaubten sie mir nicht. Mir wurde nahegelegt, an meinem Verhältnis zu Jehova zu arbeiten, mehr zu studieren und über dieses Thema doch mit einer erfahrenen Glaubensschwester zu reden.

Als wäre es nicht unangenehm genug gewesen, vor Hanna und ihren Eltern, meiner Mutter und den Ältesten genau erzählen zu müssen, was wir getan hatten. Wo wir uns angefasst hatten. Wie wir uns dabei gefühlt hatten. Ob es uns gefallen hatte. Wie oft wir es getan hatten. Fragen, die die Zeit zum Stillstand brachten. Sekunden fühlten sich an wie Stunden. Ich wäre am liebsten weggerannt oder aus dem Fenster gesprungen.

Die Ältesten lasen uns passende Artikel aus dem Wachtturm vor und das entsprechende Kapitel im Jugendbuch, welches ich zu gut kannte. Sie beteten mit uns allen zu Gott, er möge mir doch vergeben und mir ein reines Herz schenken und mich von meinen Sünden reinwaschen. Mir vergeben, dass ich Hanna in solch eine Situation gebracht und ihr Verhältnis zu Jehova beschmutzt hatte. Er solle mir helfen, Selbstbeherrschung zu bekunden und nicht zu lügen, um andere schlecht dastehen zu lassen. Amen. Ich wäre fast geplatzt vor Wut. Aber ich ließ es über mich ergehen.

In der darauffolgenden Zeit straften mich Hanna und ihre Eltern mit einem missbilligenden Blick, wenn wir uns in der Versammlung trafen. Wir redeten nicht mehr, und sie grüßten mich kaum noch. Dann erzählte auch noch meine Mutter die Neuigkeit von dem Ältestengespräch in der Versammlung herum, und Scham und Pein nahmen kein Ende. Die Bestrafung für eine ertappte Sünderin? Eine Disziplinarmaßnahme? Vielleicht. Vielleicht wollte sie aber nur wieder Mitleid und allen beweisen, was für ein rebellisches, vom Teufel besessenes Kind ich doch sei.

Meine Mutter schien der Gedanke, dass der Teufel Macht über mich hatte, nicht loszulassen. Sie war schon immer davon überzeugt gewesen, aber nun hatte sie eine offizielle Sünde meinerseits als Beweis. Unsere Streitereien wurden noch schrecklicher. Sie schrie nicht mehr, sondern brüllte. Sie wollte mir den Teufel austreiben. Sie war überzeugt davon, dass ich in den Fängen Satans gelandet war, dass Dämonen hinter mir her waren und sie mir diese mit Schlägen austreiben musste. Und weil sie in der Gemeinschaft von meinem »Vergehen« erzählte, sorgte sie dafür, dass ich wie eine Aussätzige behandelt wurde. Zu allem Überfluss sah sie sich selbst in der göttlichen Pflicht, mir meine sündigen Neigungen austreiben zu müssen. Sie informierte selbstverständlich auch Katharina und Tanja über den Vorfall, und er wurde zum Thema bei unseren nächsten Studientreffen.

Mit Tanja konnte ich mich trotz meiner Scham und Schuldgefühle gut unterhalten. Ich schilderte ihr meine Sicht der Dinge, sagte ihr, dass ich in der Klasse eine Außenseiterin sei. Und so war es auch: Ich war scheu inmitten einer Herde wilder Frühpubertierender. Ich war der Freak. Die weltlichen Jungs waren für mich uninteressant und reizlos. Ihre Hobbys und Gesprächsthemen waren absolut sinnlos und unverständlich. Wie konnte man sich bloß über eine PlayStation unterhalten, wenn das Ende der Welt nahte? Wie primitive Affen übertönten sie sich ständig gegenseitig mit widerwärtigen Körpergeräuschen. Ekelhaft. So ungesittet und völlig ohne Benehmen. Diese Idioten werden das Königreich Gottes sicher nicht erben, dachte ich. Und wenn sie in mir wieder ein perfektes Opfer für dumme Witze und Beleidigungen gefunden hatten, war dieser Gedanke mein einziger Trost. Sie werden in Harmagedon sterben. Ich nicht. Na, wer ist jetzt der Loser?

Meine Abneigung gegenüber meinen Schulkameraden und weltlichen Jungs im Allgemeinen hätte kaum größer sein können. Die Jungs in der Versammlung wiederum waren alle etwas älter als wir Mädchen, hatten aber keine Lust, viel mit uns zu machen. Somit waren wir Mädchen unter uns. Unsere Körper blühten langsam auf, unsere Bedürfnisse und Interessen veränderten sich. Zum Glück gab es für uns Belehrungen.

So hörten wir etwa über die Selbstbefriedigung: »In der Pubertät macht sich das sexuelle Verlangen oft besonders stark bemerkbar, was dazu führen kann, dass du dir angewöhnst, dich selbst zu befriedigen. Viele denken sich nichts dabei und sagen: ›Das schadet doch keinem.‹ Tatsächlich spricht aber allerhand dagegen. Der Apostel Paulus schrieb: ›Trennt euch ganz entschieden von allen selbstsüchtigen Wünschen … von Leidenschaften‹ (Kolosser 3:5). Wer sich selbst befriedigt, trennt sich bestimmt nicht ganz entschieden von Leidenschaften, sondern heizt sie noch an. Hinzu kommt: Selbstbefriedigung fördert ichbezogenes Denken, weil man dabei auf die eigenen körperlichen Empfindungen fixiert ist. Und diese ichbezogene Denkweise, die man durch Selbstbefriedigung entwickelt, kann einem erfüllten Sexualleben in der Ehe im Weg stehen.«

Damit war dann auch der Sex vor der Ehe geklärt: ein eindeutiges Nein. Statt sexuelles Verlangen wurde Beherrschung gepredigt. Am besten, so die Bibel, sollte man sich gar nicht erst in Situationen begeben, die erotische Gefühle erwecken könnten. Die meisten dieser Regeln waren auch in diesem Fall unmissverständlich. Grauzonen gab es kaum. Homosexualität war verboten. Oral- und Analverkehr waren ebenfalls verboten. Petting, Rummachen oder Rumfummeln? Verboten. Letztlich war alles verboten, was sexuell erregt.

Es war also alles unrein, was einen anmachte, insofern man nicht verheiratet war. Und lebte man als Teenager in einer Welt, in der sich alle anderen gern auslebten und an jeder Ecke Versuchungen lauerten, denen man sich auf gar keinen Fall hingeben durfte, hatte man ein Problem. Man war überreizt, stand unter riesigem Druck und hatte furchtbare Angst, einen Fehler zu begehen. Dein Körper drehte bei jeder winzigen Berührung durch, da er übersensibilisiert für alles war, was im Entfernten mit Erregung zu tun hatte. Da konnte es natürlich schnell passieren, dass ein treuer Christ trotz übertriebener Vorsicht und starkem Glauben in Versuchung geführt wurde und nicht widerstehen konnte. Der Geist ist willig, doch das Fleisch ist schwach. Die Bedeutung der Worte aus Matthäus 26:41 kannte ich nur zu gut.

Um solche Fälle zu vermeiden, hatte die Organisation Vorschläge und Empfehlungen, damit es leichter fiel, die Regeln nicht zu verletzen. So war es zum Beispiel üblich, dass zwei Personen unterschiedlichen Geschlechts sich nicht allein im selben Raum aufhalten. Völlig egal, ob einer der beiden verheiratet oder zwanzig Jahre älter war. Ich empfand es immer als Unterstellung, als hätte man sich nicht unter Kontrolle und wäre seinen Trieben schutzlos ausgeliefert. Nur weil ich mit einem Mann im selben Raum bin, werden wir doch nicht gleich Sex haben. Aber diese Vorschrift war dennoch wirkungsvoll: Sie machte Angst. Sie schürte die Furcht davor, die Selbstbeherrschung zu verlieren, dass Satan die Oberhand gewinnen und einen mit Unreinheiten und Trieben kontrollieren könnte. Vielleicht probieren sich deswegen viele Zeugen gleichgeschlechtlich aus und sammeln so ihre Erfahrungen. Denn Männer untereinander und Frauen untereinander dürfen ohne Probleme und Verdacht auf Sünde Zeit auf engstem Raum miteinander verbringen.

Gerade in der Phase des Erwachsenwerdens orientieren sich Teenager neu, entwickeln sich und entfalten eine eigene Persönlichkeit. Damit diese ins Muster passt und ein treuer Christ geformt wird, hat die Wachtturm-Organisation auch hier verschiedene Hilfsmittel geschaffen. Das persönliche Bibelstudium mit geistigen Vorbildern, zu denen man aufsehen konnte und die einen dazu brachten, nach den richtigen Dingen im Leben zu streben, gehörte dazu. Heute nenne ich das Manipulation. Aber damals war es ein fester Bestandteil meines Lebens, und es wäre mir seltsam vorgekommen, wenn ich nicht mit einer erfahrenen Schwester aus der Versammlung die Bibel studiert hätte.

Durch Katharina und Tanja versuchte ich mich an biblischen Beispielen von Dienern Gottes zu orientieren, die viel Schlimmes erlebten und deren einzige Stütze Gott war. Wir behandelten das Leitbild von König Hiskia. Hiskia stand an einem Scheideweg. Mit nur fünfundzwanzig Jahren wurde er schon König von Juda. Was für ein König würde er sein? Sein Vater, König Ahas, war bis zu seinem Tod ein reueloser Abtrünniger gewesen. Er förderte die falsche Religion und verbrannte mindestens einen von Hiskias Brüdern auf einem heidnischen Altar. Doch Hiskia ließ die Heuchelei seines Vaters nicht auf sich abfärben. Unbeirrt betete er Jehova an. Er fühlte sich auch nicht dazu verurteilt, die gleichen Fehler wie Ahas zu machen. Hiskia hielt einfach fest zu Jehova. Fragen wie »Hast du eine Mutter oder einen Vater, der über deinen Glauben spottet, jähzornig ist oder eine Suchtkrankheit hat?« sollten mich zum Nachdenken anregen. Die Antwort: »Falls ja, musst du nicht die gleichen Fehler machen.« Hiskia ließ nicht zu, dass seine traurige familiäre Situation sein Leben ruinierte. Aus ihm wurde ein so guter König, dass »nach ihm unter allen Königen von Juda keiner war wie er« (2. Könige 18:5). Mir wurde ans Herz gelegt: »Wie Hiskia kannst auch du trotz schlechter Startbedingungen etwas aus deinem Leben machen. Wie? Halte einfach fest zu Jehova.«

Aber die Leere und Trauer in mir nahmen immer mehr zu. Ich war nicht bei mir. Etwas fehlte. Ich fühlte mich weiterhin nicht geliebt oder akzeptiert. Irgendetwas war falsch und unvollständig. Ich vermisste meinen Vater, sah das neue Leben, welches er sich mit seiner neuen Frau und Tochter aufbaute – und wollte dazugehören. Ich brauchte einen Platz im Leben. Wenn ich bei meinem Vater wohnen würde, so dachte ich, würde es mir viel besser gehen. Ich hätte mehr Freizeit, wäre ohne Druck seitens der Versammlung, hätte mehr Schulfreunde, und die Probleme mit meiner Mutter wären endlich Geschichte. Ich hätte mehr Zeit, um normale Sachen zu machen und meine Jugend zu genießen. Dinge, die man eben so tut als Dreizehnjährige.