DRECKIGER DIAMANT

Obwohl ich eigentlich hinter meinem Glauben stand, nervte mich das stundenlange Studieren mit den anderen Glaubensbrüdern und -schwestern mit der Zeit. Aber am schlimmsten war der Predigtdienst. Bei Wind und Wetter gingen wir im langen Rock und mit großer Tasche von Tür zu Tür, um den Hausbewohnern die frohe Botschaft vom Königreich zu verkünden. Alles für Jehova. So, wie es Jesus schon seinen Jüngern verkündet hatte, dieselbe Methode, eben in der Öffentlichkeit. Bei den Predigtdiensttreffs wurden die Anwesenden vom leitenden Glaubensbruder in Gruppen eingeteilt, und wir bekamen bestimmte Gebiete zum Missionieren zugeteilt. Es wurden Einleitungen und Bibeltexte vorgeschlagen, die wir verwenden sollten, um die jeweiligen Zeitschriften und Broschüren anzubieten. Es sollte ja gründlich und umfassend gepredigt werden.

Die Verkündigergruppen fuhren dann in die Gebiete, und meist teilten wir uns vor dem Losziehen in Zweiergruppen auf. In einem kleinen Notizblock schrieben wir uns die Adressen und Namen der Leute auf, die in den Wohnungen lebten. Wenn uns jemand eine Information gab, die uns von Nutzen sein konnte, wurde sie notiert. War in einem Haushalt jemand kürzlich verstorben oder schwer krank, konnten wir uns beim nächsten Besuch darauf beziehen und passende Literatur mitbringen. Egal, welches Thema die Menschen beschäftigte, es gab zu allem einen passenden Bibeltext und eine Zeitschrift. Unser Ziel bestand darin, Rückbesuche zu vereinbaren und Heimbibelstudien einzurichten. Erklärte sich jemand zu einem Heimbibelstudium bereit, wurde mit dem Wohnungsinhaber eines der Bücher von Jehovas Zeugen zum besseren Verständnis der Bibel studiert. Meistens wurde mit dem Buch Was lehrt die Bibel wirklich? begonnen. Es wurden dann auch bestimmte Fragen angesprochen, die für den Interessierten von Bedeutung waren: Wer ist Gott? Sieht mich Gott überhaupt? Wie kann meine Ehe besser werden? Was macht im Leben wirklich glücklich? Dazu wurden passende Bibelstellen vorgelesen und der Bezug zum persönlichen Leben des Studierenden geschaffen. Offenheit und Ehrlichkeit waren das A und O. Der Studierende legte sein komplettes Leben, seine Geheimnisse und all das dar, was vor Gott als verbesserungswürdig galt.

Wurde das Heimbibelstudium erfolgreich durchgeführt, standen die Chancen nicht schlecht, dass der- oder diejenige bald die Zusammenkünfte besuchte und sich nach einer Weile als Zeuge Jehovas taufen ließ. Dann hatten wir ein Leben gerettet. Oft kam das allerdings nicht vor. Vom ersten Besuch bis zur Taufe vergingen oftmals Jahre, in denen sich der Interessierte vollständig auf die Anforderungen der Organisation ausrichtete und sein Leben in allen Bereichen Gottes Maßstäben anpasste.

Wir wurden natürlich genau darüber informiert, wie weit wir beim Predigen gehen durften. Stand auf einem Briefkasten »Keine Werbung«, war es nicht erlaubt, etwas einzuwerfen. Sagte ein Wohnungsinhaber deutlich: »Besuchen Sie mich nie wieder«, hatten wir seine Äußerung zu respektieren. Betraten wir ein Grundstück ohne Aufforderung, war das Hausfriedensbruch. Befand sich die Klingel aber nicht am Tor, sondern nur am Haus, gingen wir das Risiko ein.

Die meisten Menschen begegneten uns mit Ablehnung. Oft bekam ich zu hören: »Müssen Sie denn das arme Mädchen mitschleppen?« Manche wurden auch ausfallend und jagten uns davon. Davor hatte ich immer große Angst. Mit Ablehnung und gemeinen Äußerungen konnte ich nicht umgehen. Da ich meistens mit einer Glaubensschwester unterwegs war, hatte ich Bedenken, dass uns männliche Wohnungsinhaber anschreien oder sogar handgreiflich werden könnten. Ich hatte »Menschenfurcht«, wie das bei uns genannt wurde und wovor uns auch die Bibel warnte. Menschenfurcht galt als eine der wirkungsvollsten Waffen, die Satan einsetzte, um uns daran zu hindern, Jesus nachzufolgen. Wahre Christen, so war uns gesagt worden, würden immer auf Gegnerschaft stoßen, aber Menschenfurcht könne man durch Gottesfurcht überwinden und indem man seine Liebe zu Jehova stärke. Meine Furcht war größtenteils unbegründet, nur zweimal wurde ich wirklich bösartig beschimpft. Die meisten Menschen sagten einfach, sie hätten kein Interesse, und schlugen uns die Tür vor der Nase zu. Bei Sprechanlagen funktionierte das noch viel unkomplizierter. Mir war es lieber, kein Gespräch führen zu müssen, denn ich fühlte mich zu unsicher und schüchtern, um mit Fremden zu reden.

Meine Sorge, eine Frage gestellt zu bekommen, auf die ich keine Antwort hatte, war ebenfalls immer präsent. Ich wollte mich weder vor der mir unbekannten Person noch vor meinem Predigtdienstpartner blamieren. Das hätte so ausgesehen, als wäre ich nicht standhaft im Glauben. Was irgendwie auch zutraf. Ich war bei weitem nicht so bibelfest, wie ich es hätte sein können, und war immer erleichtert, wenn ich meine Einleitung fehlerfrei überstand und der Wohnungsinhaber den Hörer auflegte. Großes Aufatmen. Am allerschlimmsten war die Vorstellung, dass plötzlich jemand die Tür öffnete, den ich kannte. Ein Lehrer oder Mitschüler. Ein entsetzlicher Gedanke. Deswegen ging ich am liebsten in Gebieten predigen, wo die Möglichkeit einer solchen Begegnung verschwindend gering war. Was für eine Qual: Scham und Peinlichkeit kombiniert mit Schutzlosigkeit und einer Kleidung, die sofort erkennen ließ, wer wir waren.

Das Problem mit meinem Glauben war der wiederkehrende Zweifel. Es war ein ständiges Auf und Ab. Phasen voller Motivation und Eifer, besser gesagt Besessenheit, wurden abgelöst durch Unsicherheit und Sünde. Oft hatte ich das Gefühl, dass ich die Einzige war, die alles in Frage stellte: Gab es wirklich einen Gott namens Jehova? Wollte er überhaupt, dass ich predigen ging? War das mit dem Weltuntergang real? Konnte ich nur gerettet werden, wenn ich mich taufen ließ? Konnte Gott tatsächlich in mich hineinschauen, meine Gedanken und Gefühle kennen? Sah er meine sündigen Begierden, all meine Fehler und meinen Zweifel? Würde er mich dafür bestrafen? Oder würde er mir vergeben? Hatte ich die Hoffnung auf eine Auferstehung? Warum ließ er zu, dass ich so unglücklich war? Und: Warum machte ich das alles?

Fragen über Fragen. Sie jagten unentwegt durch meinen Kopf. Widersprüche und Unstimmigkeiten wurden immer mehr und verwandelten sich in einen riesigen Haufen aus Gedankenfetzen, die unmöglich zu entwirren waren. Das Problem an diesen Zweifeln war Folgendes: Ich war selbst schuld. Wer an der Wahrheit zweifelte, trug die Verantwortung dafür. Der eigene Glaube und das Verhältnis zu Gott waren dann zu schwach, und man benötigte Hilfe. Ich benötigte Hilfe. Also redete ich wieder mit meinen Glaubensschwestern Katharina und Tanja, betete noch öfter und inniger zu Gott, studierte noch intensiver die Veröffentlichungen der Wachtturm-Organisation und las mehr in der Bibel. Ich tat all die Dinge, die als Garant dafür galten, Gott näherzukommen und den Glauben zu stärken. Doch es war einfach nicht genug.

»Nachsinnen« und »Läuterung« gehören normalerweise nicht in den Wortschatz einer Pubertierenden. Die Glaubensschwestern, denen ich von meinen Gedanken und Gefühlen erzählte, versuchten, mich zu motivieren. Ich wollte sie nicht enttäuschen, setzten sie doch so viel Hoffnung in mich. Sie behielten mich im Auge, nahmen mich unter ihre Fittiche, und ich spürte, wie sie erwarteten, dass sich meine Zweifel in Eifer verwandelten. Aber das passierte nicht, auch das blieb ohne Wirkung. Der kleine Schub nach solch einem Gespräch verpuffte, wenn ich den nächsten sündigen Gedanken oder das nächste Gespräch mit einem bösen Ungläubigen hatte, der mir gar nicht so böse erschien. Er verpuffte, wenn ich mit meiner Mutter stritt und Sehnsucht nach meinem Vater bekam. Er verpuffte, wenn ich spürte, dass ich dem Druck, eine fleißige, loyale und perfekte Christin zu sein, nicht standhalten konnte.

Ich war so jung und doch so müde. Alles war anstrengend, und es erschien mir unmöglich, all den hohen Erwartungen gerecht zu werden. Ich war enttäuscht von mir selbst, aber ich wollte nicht auch noch meine Glaubensbrüder und -schwestern enttäuschen. Viele von ihnen berichteten von dem Moment, als es in ihrem Kopf »klick« gemacht hatte und sie wussten: »Das ist die Wahrheit.« Sie hatten eine Art Erleuchtung, und ab diesem Moment kamen nie wieder Zweifel. Bei mir machte gar nichts »klick«. Doch darüber wollte ich nicht reden. Das hätte nur mein Versagen bewiesen, es hätte gezeigt, dass mein Glaube einfach nicht stark genug war. Deswegen behielt ich meine Zweifel fortan lieber für mich. Eine Taktik, die mir zukünftig einige Hirtenbesuche, also Gespräche mit den Ältesten, ersparte und mich vor den anderen Mitgliedern der Versammlung nicht so schwach aussehen ließ, wie ich war. Denn als schwacher Christ hatte man schnell keinen guten Einfluss mehr auf andere Christen, wurde überkritisch beurteilt und beobachtet und geriet ins Visier der treuen Theokraten – die Zeugen Jehovas verstehen sich als eine theokratische Organisation, die von göttlich erwählten Personen geführt und geleitet wird. Ich wollte nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf meine Unvollkommenheit lenken.

Ein wichtiger Schritt, um Gott näherzukommen, ist die Taufe. Die Taufe ist die vollständige Hingabe des eigenen Lebens an Jehova Gott. Der wichtigste Tag im Leben eines jeden Christen. Erst dann ist man vollwertig und kann von seinen Sünden reingewaschen werden. Klingt ganz gut. Nur geht das nicht von heute auf morgen. Die Vorstufe eines getauften Christen ist der ungetaufte Verkündiger. Diesen Status haben meist Kinder oder Jugendliche, die sich auf dem Weg zur Taufe befinden, oder »Interessierte«, die erst als Erwachsene zur Wahrheit gekommen sind und ebenfalls auf eine Taufe hinarbeiten. Als ungetaufter Verkündiger hat man einige Rechte und Pflichten, hat sich aber noch nicht völlig zu Jehova Gott bekannt. Man darf predigen gehen und am Monatsende einen Berichtszettel abgeben, auf dem steht, wie viele Stunden man im Dienst für Gott geleistet und wie viele Bücher und Zeitschriften man abgegeben hat. Auf dass sich die Papiertonnen der Leute füllen mögen. Amen.

Als männlicher ungetaufter Verkündiger hat man die Möglichkeit, im Rahmen der sogenannten Theokratischen Predigtdienstschule einen fünfminütigen Kurzvortrag zu halten. Als weibliche ungetaufte Verkündigerin darf man einen Dialog vorbereiten. Klingt etwas verwirrend, lässt sich aber in etwa mit dem Schulunterricht vergleichen. Jehovas Zeugen werden von Kindesbeinen an darauf trainiert, möglichst effizient mit den unterschiedlichsten Arten von Menschen zu reden, um Interesse für den Glauben zu wecken. Jede Woche werden in den Zusammenkünften ein Kurzvortrag und ein Dialog, der ein mögliches Gespräch mit einer interessierten Person darstellt, vor der ganzen Versammlung gehalten, bei dem ein bestimmter Lehrpunkt umgesetzt werden soll. Der Verkündiger bereitet sich zu Hause umfassend vor, dann folgt die Darbietung – und am Ende die Beurteilung durch den Schulungsaufseher. So lernt die ganze Versammlung etwas, und die Darbietenden können üben, frei zu sprechen. Natürlich gibt es auch ein passendes Buch der Wachtturm-Organisation, das die verschiedensten Lektionen enthält, durch die man lernt, richtig mit den Menschen zu sprechen: »Nutze die Belehrung der Theokratischen Predigtdienstschule.« Mimik, Gestik, Rhetorik und das Einsetzen gut gewählter Bibeltexte gehen Hand in Hand, wenn es darum geht, einen Menschen an der Haustür zu bezirzen. Vor der ersten Darbietung im Königreichssaal ist man natürlich wahnsinnig aufgeregt, aber das gehört nun mal dazu, um sich als Verkündiger Gottes zu qualifizieren.

Alle Kinder und Jugendlichen aus unserer Versammlung wurden nach und nach ungetaufte Verkündiger und übernahmen erste Aufgaben. Ich beneidete sie um ihren Eifer und ihren Glauben und wollte mitziehen. Im Alter von dreizehn war es schon fast ein wenig spät, noch kein ungetaufter Verkündiger zu sein, und der Druck, mich den anderen anzupassen und in der Versammlung ebenfalls Lob zu ernten, wurde immer größer. Nach der Sache mit Hanna wollte ich es auch unbedingt bei Jehova wiedergutmachen. Ich wusste nicht, wem aus der Versammlung meine Mutter oder Hannas Familie noch von dem Zwischenfall erzählt hatten, aber es war an der Zeit, für mich zu beweisen, dass ich eine treue Christin war.

Dummerweise war in meinem Kopf noch immer der Gedanke, zu meinem Vater zu ziehen und mich somit meiner Mutter und der Verantwortung des Glaubens zu entziehen. Aber als Ausgeschlossener stellte er keinen guten Umgang dar. Er war abtrünnig, und der Teufel hatte Macht über ihn. Eine Sache, die zu erwähnen meine Glaubensbrüder, meine Mutter und Freunde in der Versammlung nie überdrüssig wurden. »Ihr könnt nicht am Tisch Jehovas und am Tisch der Dämonen teilhaben« (1. Kor. 10:21). Ein Bibeltext, der in etwa so viel bedeutet wie: »Man kann nicht auf zwei Hochzeiten gleichzeitig tanzen.« Da alle in der Versammlung von meinen familiären Umständen wussten, hatte ich leider nicht das Glück, diese Entscheidung für mich allein zu treffen. Meine Mutter war eine Glaubensschwester, ein Kind Gottes, und gehörte zur Familie. Dieser Status machte sie unantastbar.

Irgendwann erzählte ich Melanie, einem Mädchen aus meiner Versammlung, dass ich bald zu meinem Vater ziehen würde. Heimlich hatte ich schon mit ihm Möbel ausgesucht und das Zimmer, welches meins werden sollte, zusammen mit seiner neuen Frau rot und gelb angestrichen. Melanie wiederum erzählte es ihrem Vater, der Dienstamtgehilfe war. Männer können verschiedene Aufgaben innerhalb der Organisation übernehmen. Aufgaben, die Frauen verwehrt bleiben. Innerhalb einer Versammlung gibt es Dienstamtgehilfen und Älteste, wobei der Dienstamtgehilfe dem Ältesten untergeordnet ist und zur Seite steht. Über ihnen stehen die Kreis- und Bezirksaufseher, und was das Predigen angeht, gibt es Sonderpioniere und Missionare, die in anderen Ländern die gute Botschaft verkündigen. Eine strikte Hierarchie, die eine optimale Überwachung der einzelnen Mitglieder gewährleistet. Und an der Spitze aller mehr als acht Millionen Zeugen Jehovas weltweit sitzt die »Leitende Körperschaft«. Sie besteht aus acht älteren Herren, die von der Weltzentrale in Warwick aus, im US-Bundesstaat New York, die komplette Organisation führen. Jeder dieser von Gott höchstpersönlich auserwählten Männer ist in mindestens einem von sechs Komitees vertreten, das bestimmte Bereiche koordiniert. Das Personalkomitee kümmert sich um die Mitarbeiter der Zweigbüros auch Bethel genannt), das Schreibkomitee um die Inhalte der Publikationen, das Lehrkomitee um Schulungsinhalte, das Dienstkomitee um das Predigtwerk und das Verlagskomitee um die Herausgabe der Literatur und den Bau von Versammlungsstätten, Zweig- und Übersetzungsbüros. Schlussendlich gibt es noch das Koordinatorenkomitee, das sich um rechtliche Angelegenheiten kümmert. All das natürlich global. Selbstverständlich bestehen diese Komitees und alle höheren Positionen nur aus Männern, da Frauen in der Organisation kaum Vorrechte haben.

Als einzelner Zeuge bemerkt man natürlich nicht viel von diesen Hierarchien, aber ich fragte mich, wie es möglich sei, dass solch eine riesige international agierende Organisation, die sich nur über freiwillige Spenden finanziert, bis ins kleinste Detail so perfekt strukturiert ist. Vergleicht man das mit einer Firma, die über acht Millionen kostenlose Mitarbeiter verfügt, die fast weltweit und in beinahe jeder Sprache agiert, die ihre Zeitschriften und Bücher in den höchsten Auflagen kostenlos und ohne Werbung veröffentlicht und dazu noch in fast jedem Land über eine hohe Zahl an Grundstücken und Immobilien verfügt, würde man von einem Imperium sprechen. Es scheint unvorstellbar, zumindest geht es mir so.

Nachdem ich Melanie von meinem Plan, auszuziehen, erzählt und sie es brühwarm ihrem Vater weitergetratscht hatte, führte er ein Gespräch mit mir. Es waren nach der Versammlung nur noch wenige Verkündiger im Königreichssaal, und er setzte sich mit mir in die letzte Reihe der grau gepolsterten Bänke, während meine Mutter irgendwo mit einer Freundin quatschte.

Er sah mich direkt an und sagte mir, dass Melanie ihm erzählt habe, ich würde zu meinem Vater ziehen wollen. Er fragte mich, ob ich denn nicht ungetaufte Verkündigerin werden möchte.

»Ja, will ich eigentlich schon«, druckste ich herum.

Und erwartungsvoll wollte er von mir wissen, ob ich denn nicht wolle, dass Jehova stolz auf mich sei.

»Auch das will ich«, murmelte ich leise.

Ob ich denn nicht wisse, dass mein Vater ein Abtrünniger sei, der in Harmagedon sterben werde?

»Doch, das weiß ich«, versicherte ich und blickte zu Boden. Das Gespräch war mir unangenehm. Ich grub meine Finger in meinen langen blauen Rock, Haarsträhnen fielen mir ins Gesicht.

Weiter fragte er mich, ob mir nicht bewusst sei, dass ich keine Hoffnung auf ein Leben im Paradies hätte, würde ich die Versammlung verlassen.

Ich kannte die Antwort: »Natürlich weiß ich das.«

Damit war für Melanies Vater alles klar. Wenn ich weiter in die Versammlung käme und meine Kraft in den Dienst für Jehova einsetzte, würde Gott mich reich belohnen, segnen und mir die Kraft geben, die über das Normale hinausgehen würde. Er las mir noch einen Bibeltext vor und ermutigte mich, meinen Glauben zu stärken und ungetaufte Verkündigerin zu werden. Ich solle meine Mutter ehren, empfahl er mir außerdem. Sie würde nur mein Bestes wollen und mich im Sinne Gottes erziehen. Jehova wäre wahnsinnig traurig und enttäuscht von mir, wenn ich mich gegen ihn wenden würde.

»Aber ich kann doch weiter die Versammlung besuchen, auch wenn ich bei meinem Vater wohne«, versuchte ich zu erklären und mich zu rechtfertigen.

Darauf entgegnete er, dass dann dennoch mein Umfeld vergiftet und ich den ganzen Tag dem schlechten weltlichen Einfluss Satans ausgesetzt wäre. Die Gefahr sei einfach zu groß. Wenn ich mich aber entscheiden würde, Jehova wirklich zu dienen, und ihm meine Liebe beweisen wolle, könnte ich ungetaufte Verkündigerin werden. In diesem Fall dürfte ich aber nicht zu meinem Vater ziehen, denn das entspräche nicht dem Willen Gottes. Ich könne nicht am Tisch Jehovas und dem der Dämonen sitzen.

Damit war das Gespräch beendet. Ich verstand seine Worte. Spürte die Bedeutung in meiner Brust. Das Stechen. Schon wieder. Schon wieder dieses schreckliche Gefühl tief in mir. Last. Druck. Zwang. Was sollte ich tun?

Ich ging auf die Toilette, schloss mich in die hinterste Kabine ein und weinte. Es war keine weitere Glaubensschwester in dem Raum, die mich hätte hören können. Heiße Tränen tropften auf meinen Rock und hinterließen dunkle Flecken. Ich nahm ein paar Blätter Klopapier und putzte meine Nase. Ich war verzweifelt, hatte das Gefühl, solch einer Entscheidung nicht gewachsen zu sein. Ich konnte nur ahnen, wie weitreichend sich diese eine Entscheidung auf mein späteres Leben auswirken würde. Aber hatte ich eine Wahl?