HEILIGE LÜGEN

Die Dunkelheit umhüllte mich, als ich eines Abends in das kleine Waldstück in der Nähe unseres Wohnblocks ging. Meine Mutter hatte vor einer halben Stunde das Haus verlassen, und ich war froh, noch einmal rauszukönnen. Ich ließ den hässlichen Plattenbau und die trübe Straßenbeleuchtung hinter mir und betrat den Trampelpfad, der bergab in die Schwärze führte. Ich nahm meine Kopfhörer aus den Ohren, denn ich wollte die vertrockneten Tannennadeln auf dem Boden brechen hören, wenn ich über sie lief. Es knirschte, und der Wald atmete hörbar. Es war frisch, und ein kleiner Windhauch streifte mein Gesicht.

Auf einer winzigen Lichtung hielt ich inne. Stille. Nur Bäume, die leise knackten. Sonst nichts. Ich setzte mich auf den Boden, zog die Knie an meine Brust und blickte hinauf zu der Mondsichel, die über mir schwebte und den Wald mit einem zarten Silberschimmer überzog. In meiner Jackentasche lag mein lilafarbener Achatstein, den ich mir viele Jahre zuvor bei einem Schulausflug gekauft hatte, und ich nahm ihn in die Hand. Da es sonst nichts in meinem Leben gab, das mir die Kraft schenkte, die ich so bitter nötig hatte, suchte ich meine Zuflucht in anderen Dingen. Ritualen, Fantasien oder einem kleinen, unbedeutenden und nutzlosen Stein. Denn Glaube schafft Energie, redete ich mir zumindest ein. Erneut sah ich zum Mond und begann, leise zu beten:

»Lieber Vater Jehova im Himmel, ich danke dir für alles, was du für mich getan hast, und dass du mir mein Leben geschenkt hast. Bitte, gib mir doch Klarheit und Weisheit, um einen Ausweg zu finden. Ich bin furchtbar unglücklich und weiß nicht, warum.« Tränen füllten meine Augen, aber ich flüsterte das Gebet weiter vor mich hin. »Ich habe keine Ahnung, was ich falsch gemacht habe, um all diesen Kummer und Schmerz zu verdienen. Bitte, erlöse mich. Ich hasse mein Leben. Ich fühle mich einsam und verloren, obwohl ich versuche, dir treu zu dienen. Ich bin mir bewusst, dass ich vieles falsch gemacht habe. Aber bitte, vergib mir doch, und bestrafe mich nicht länger.«

Ich schrie stumm in Richtung Himmel, flehte Gott an, mir doch ein Zeichen zu senden. Es passierte nichts, wie so oft. »Warum antwortest du mir nicht? Was soll ich denn noch alles für dich tun? Wie lange soll ich noch leiden?« Plötzlich raschelte es auf dem Boden ein paar Meter neben mir. Ein kleines Tier flitzte davon, als ich meinen Kopf drehte. Selbst diese kleine Maus hat eine Familie, dachte ich. Selbst diese kleine Maus ist nicht allein.

Ich stand auf, klopfte den Schmutz von meiner Hose, steckte meinen Stein ein und warf noch einen letzten Blick zum Mond, bevor ich mich auf den Heimweg machte.

Über den kleinen Trampelpfad lief ich zurück zur Wohnung. Durch die Bäume konnte ich das dumpfe Leuchten der orangefarbenen Straßenlaternen erkennen. Wir wohnten im zweiten Block, im vierten Stock. Ich hoffte, niemand würde mir im Haus begegnen, also ließ ich das Licht aus. Ich konnte die Stufen auch im Dunkeln hinaufgehen. Die Anzahl der Treppenstufen und ihre Höhe kannte ich blind.

Ich war froh, als ich die Wohnungstür leise hinter mir schloss und niemand aus der Wohnung gegenüber kam. Manchmal kam es mir vor, als würde Hanna hinter der Tür gegenüber warten und lauschen. Früher hatten wir uns ab und zu Zettel an die Tür geklebt, damit der jeweils andere sofort klingelte, wenn er nach Hause zurückkehrte. Vor ein paar Jahren, kurz nach unserem Einzug, war das noch schön und lustig. Aber nach ihrem Verrat vor den Ältesten hatte ich mich von Hanna entfremdet. Ja, sie war meine Glaubensschwester, und ich hätte ihr ihren Vertrauensbruch verzeihen müssen, auch wenn sie sich nie dafür entschuldigt hatte. Echte Christen sind nicht nachtragend. Wir sollten uns daran halten, wozu Jesus seine Nachfolger in Johannes 13:34,35 auffordert: »Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr einander liebt, so wie ich euch geliebt habe, dass auch ihr einander liebt. Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe unter euch habt.« Brüderliche selbstlose Liebe deckt alles zu. Trotzdem wurde es nicht wie früher, und das wollte ich auch nicht.

Ich hatte es satt, ständig unter Beobachtung zu sein, und ich fühlte mich oft überwacht. Manchmal versteckte meine Mutter auch ein Aufnahmegerät in der Wohnung und zeichnete unsere Gespräche, oder besser gesagt Streite auf. Die Dateien fand ich irgendwann auf ihrem iPod. Ich weiß nicht, was genau sie sich davon erhoffte. Wahrscheinlich wollte sie die Aufnahmen ein paar Brüdern und Schwestern aus der Versammlung vorspielen, um zu beweisen, wie böse ich doch war. Oder sie wollte kontrollieren, was ich tat, nachdem ich ihre Aufgaben erledigt hatte.

Ich wollte jedoch einfach nur meine Ruhe. Wollte alleine meine Liste mit Erledigungen abarbeiten, meine Hausaufgaben machen und mich in meinem Zimmer einsperren. Am liebsten für immer. Das ging allerdings nur mit einer vorhandenen Zimmertür, und auf die musste ich wieder einmal einige Wochen verzichten. Als meine Mutter dann abends häufiger Besuch von Schwestern aus der Versammlung bekam, baute sie sie mir wieder ein, da ich sonst nicht schlafen konnte. Zu gütig.

In dieser Zeit fand ich mehr und mehr Gefallen an scharfen Gegenständen. Sie übten eine ungemeine Faszination auf mich aus. Wunderbar und gefährlich. Schmerzhaft und erlösend. Körperlicher Schmerz entsteht im Kopf. Ich konnte ihn kontrollieren. Deswegen schnitt ich mich ab und zu. Hatte ich die Kontrolle über andere Dinge verloren, konnte ich sie so zurückgewinnen. Ich konnte trainieren, was mir wehtat und was nicht. Fügten mir Menschen Schmerzen zu, war ich ihnen schutzlos ausgeliefert. Fühlte mich hilflos. War viel zu empfindlich. Menschen waren zu grausam für mein kleines Herz. Nahmen keine Rücksicht. Ich war zu schnell zu tief verletzt. Machtlos. Aber wenn ich mich schnitt, hatte ich ein Gefühl von Macht. Macht und Kontrolle über meinen Körper. Als würde es mir Stärke verleihen. Und Stärke war genau das, was ich wollte. Was ich brauchte. Also setzte ich meine liebsten Messer an, wenn ich mich schwach fühlte. Je tiefer der Schnitt, umso stärker fühlte ich mich. Ich dachte: Ich kann alles ertragen. Nichts kann mich umbringen.

Mist. Dieser Schnitt war zu tief. Das Messer war einfach zu groß. Die Klinge zu scharf. Die Haut drei Zentimeter unter meinem linken Handknöchel klaffte auseinander. Zartes rosafarbenes Fleisch kam zum Vorschein. Die Kerbe in meiner Haut füllte sich langsam mit Blut. Als würde man Wasser in ein Waschbecken oder in die Badewanne einlassen. Tropfen liefen mein dünnes Handgelenk hinab. Ich drehte die Hand und sah ihnen dabei zu. So schön. Sie zerplatzten auf meinem Oberschenkel. Es wurde mehr Blut. Ich leckte die Tropfen von meinem Unterarm ab bis zum Ellbogen. Presste ein Stück Küchenrolle auf den Schnitt. Innerhalb von Sekunden war es mit Blut getränkt. Ich brauchte einen Verband. Ich presste mehr Küchenpapier auf die Wunde. Im Badschrank fand ich Verbandsmaterial. Ich drückte eine Wundauflage auf den Spalt, dann wickelte ich den Verband drum herum. Ich spürte, wie die Wunde leicht pulsierte. Leben. In dieser kleinen Stelle meines Körpers steckte in diesem Moment wahnsinnig viel Leben. Meine Mutter würde den Verband sowieso nicht bemerken. Gut so. Ich wollte meine Macht für mich behalten. Mein kleines süßes Geheimnis. Nur Jehova wusste es. Sonst keiner.

Am darauffolgenden Wochenende war wieder eine Orchesterprobe unseres Versammlungsorchesters. Wir musizierten gemeinsam, es wurde gelacht und danach Kaffee getrunken. Ich hatte gebacken. Eine Himbeer-Biskuitrolle, sehr lecker. Das Rezept hatte ich von einer anderen Schwester aus der Versammlung. Es war üblich, dass die Schwestern selbst gebackenen Kuchen mitbrachten. Nach dem Kaffeetrinken blieben wir noch zur Vorbereitung des Wachtturm-Studiums für den nächsten Tag. Während mir Johanna, bei der die Orchesterprobe immer stattfand, Kaffee nachschenkte, fragte sie mich nach der Wunde an meinem Handgelenk. Wir hatten ein gutes Verhältnis, telefonierten oft, und ich konnte ihr auch die Probleme mit meiner Mutter anvertrauen. Ich hatte die Wunde schon völlig vergessen, ein brauner Grind, der kleiner war als erwartet. Die Frage ließ mich in Panik geraten, denn ich war nicht auf eine solche Nachfrage vorbereitet. Ich sagte, die sei vom Schlittschuhlaufen, ich wäre an das Eisen gekommen. Da ein Junge in meiner Schule sich beim Schlittschuhlaufen eine Schnittverletzung zugezogen hatte, hielt ich diese Ausrede für glaubwürdig.

Da ich Johanna bei meiner Notlüge nicht in die Augen sehen konnte, wusste ich, dass sie mir nicht glaubte. Ich war noch nie eine talentierte Lügnerin gewesen.

Prompt fragte sie, ob ich mich selbst geschnitten hätte und ob es das erste Mal gewesen sei.

»Ja«, antwortete ich. Und wieder hatte ich gelogen.

Nun wusste Johanna, dass ich mich geschnitten hatte, aber es wurde nie wieder thematisiert. Ebenso wie die Probleme mit meiner Mutter nicht ernst genommen wurden. In dem Moment war ich froh darüber, nicht über diese unangenehmen Sachen zu sprechen, aber später wurde mir klar, sie hätte mir helfen müssen.

Es war überhaupt eine schwierige Zeit. Mit meinen Schulnoten ging es rapide bergab. Ich konnte mich nicht konzentrieren, war immer in Gedanken und hatte keinerlei Energie. Ich war müde. Vom Leben. Mit meinem Mathedurchschnitt von 5,5 war ich versetzungsgefährdet. Ich bekam Mathenachhilfe mit anderen Schülern der achten Klasse, aber ich verstand nichts. Ich war zu dumm. Zu schwach. Loser.

Der Moment, in dem man eine Entscheidung trifft, kann alles ändern. Für Probleme sucht man Lösungen, und Unentschlossenheit wandelt sich in Akzeptanz. Nicht alle Entscheidungen sind gut, clever oder haben einen Vorteil. Aber auch die hässlichen müssen getroffen werden. Ich hatte die Wahl zwischen Qual und Erlösung. Meine Entscheidung war getroffen. Ich wählte den Tod. Ich wollte sterben. Meine Situation war ausweglos. Es gab keine Alternativen mehr. Ich war fertig. Ich konnte nicht mehr und wollte unbedingt eine Pause. Mir war alles zu viel. Weglaufen war dämlich, ich wusste, es würde nichts bringen. Zu meinem Vater konnte ich nicht, und da ich es unmöglich noch länger bei meiner Mutter aushielt, erschien mir Selbstmord die passende Lösung zu sein.

Kennst du das Gefühl, gewisse Dinge in deiner Zukunft einfach nicht zu sehen? Sachen, die geplant sind, aber einfach nicht passieren? Es gibt keinen speziellen Grund dafür, es ist nur eine Vorahnung. Ein Bauchgefühl. Man spürt, zu Erwartendes wird nicht eintreten. Normalerweise sind es meist nur Kleinigkeiten, die nicht klappen, und bei denen einem das Schicksal einen Strich durch die Rechnung macht. Was ich in meinem Fall nicht sah, war etwas Großes: mein Leben. Meine Zukunft. Da war nichts. Sosehr ich es auch versuchte, ich konnte mir in meinem Kopf kein Bild malen, wie mein Leben in Zukunft aussehen würde. Ich hatte keine, dessen war ich mir sicher.

Selbstmord ist eine Sünde, Gott hat Leben geschenkt, und nur er darf es nehmen, so hatte ich es gelernt. Ich wollte dieses kostbare Geschenk Jehovas einfach wegwerfen. Sünde. Deswegen glaubte ich auch nicht mehr, dass ich irgendwann im Paradies auferstehen würde. Aber vielleicht sah Jehova ja in mein Herz und verstand mich. Dann hätte ich noch eine Hoffnung. Doch dummerweise hatte meine Mutter als treue Zeugin Jehovas ebenfalls die Auferstehungshoffnung – und dann würde ich sie im Paradies wieder treffen, dann würde das Elend von vorne losgehen. Ich ging nicht davon aus, dass sie dort ein völlig anderer Mensch sein würde. Also führte kein Weg am Tod vorbei. Und das war auch nicht schlimm, fand ich. Es war okay. Vorfreude auf die Erlösung machte sich in mir breit. Endlich Ruhe.

Der Tag, an dem ich starb, war der 13. April. Ein grauer, trüber Tag, der die perfekte Kulisse für meinen Tod abgab. Aber das war eher Zufall, oder vielleicht eine Fügung. Dieser Tag war nicht x-beliebig von mir ausgewählt worden. Nach meiner Entscheidung wollte ich es so schnell wie möglich hinter mich bringen. Mein Zimmer war in tiefes Schwarz getaucht. Ich schloss die Tür ab und zündete ein paar Kerzen an, um meinen Tod romantisch zu zelebrieren. Der kleine kastenförmige Raum wurde in ein zartes orangefarbenes Licht gehüllt, kaum heller als die Dunkelheit. Die Dunkelheit gab mir ein Gefühl von Geborgenheit. Ich musste nicht viel sehen, nur das Nötigste. Magisch. In meiner Hand der Achatstein und mit ihm der Glaube an höhere Kräfte, die alles regeln würden. Mein Tod sollte perfekt ins Bild passen. Ich kramte meine Kopfhörer heraus und stöpselte sie in meinen CD-Player. Setzte mich an die kalte Heizung unter dem einzigen Fenster im Raum, die verschlossene Tür gegenüber vor mir fest im Blick. Ich musste aufmerksam sein, sobald der Spalt unter der Tür hell wurde, wusste ich, dass ich sofort abbrechen musste. Nicht einmal sterben konnte ich entspannt, sondern musste auch in dieser Situation wachsam sein. Ich hätte warten können, bis meine Mutter irgendwann abends nicht zu Hause war, aber das hätte noch ewig dauern können. Und ich wollte endlich frei sein. Sofort. Tagsüber zu sterben hatte außerdem keinerlei Flair. Ich hatte schon eine Weile darüber nachgedacht, wie ich es wohl am besten tun könnte. War im Kopf alle Möglichkeiten durchgegangen. Ich wollte schön sterben. Ästhetisch. Kein Blutbad, keine Zerstörung, sondern still, leise und wunderschön.

Ich steckte mir die Kopfhörer ins Ohr und startete den Track. Musik erfüllte mich. Ich spürte sie. Sie befreite meine Emotionen und ließ mich in eine andere Welt fliehen. »Russian Roulette« von Rihanna. Ich fühlte den Tod. Dieses Lied ließ ihn mich spüren. Akzeptieren. Wie gern hätte ich eine Pistole gehabt. Den Abzug drücken, und alles wäre vorbei. Es könnte so einfach sein. Aber das war es nicht, war es noch nie in meinem Leben.

Nach endlosen Überlegungen hatte ich endlich die ideale Lösung gefunden und hielt einen Müllbeutel in der Hand. Die Alternativen: ein Bad mit Föhn, aufgeschlitzte Pulsadern oder eine Überdosis Tabletten. Letzteres hatte ich bereits mit den verschreibungspflichtigen Migränetabletten meiner Mutter versucht – und was war passiert? Zwei Tage lang hatte ich mich daneben gefühlt, aber das war auch alles.

An dem Abend, an dem ich mir mit den Tabletten das Leben nehmen wollte, hatte ich Johanna eine SMS geschrieben, dass ich unglücklich sei und sterben wolle. Ich lag heulend im Bett und merkte, wie mir die Pillen zu Kopf stiegen. Und was tat Johanna? Rief meine Mutter an, die daraufhin in mein Zimmer gerannt kam und mich anschrie. Eine kurze Diskussion folgte, bei der ich mich rausredete. Keine Ahnung, wie ich das geschafft hatte, aber für meine Mutter hatte sich das Thema damit erledigt. In der nächsten Zusammenkunft sagte mir Johanna, dass sie genug eigene Probleme habe und sich nicht auch noch um meine kümmern könne. Wenn es mir schlecht gehe, solle ich doch mit meiner Mutter oder den Ältesten reden. Ich hatte Glück, dass die beiden das Ganze nicht weiter ernst nahmen, aber keinesfalls durfte ich wieder den Fehler begehen, jemanden einzuweihen.

Die anderen Möglichkeiten waren ebenfalls zu risikoreich – noch schlimmer als ein Selbstmord war ein missglückter Selbstmord. Wegen eines nicht ausreichenden Stromschlags oder einer Ader, die ich nicht richtig getroffen hatte, ins Krankenhaus zu kommen – das würde meinem beschissenen Leben die Krone aufsetzen und es in einen noch krasseren Horrortrip verwandeln, als es eh schon war. Am Ende würde ich vielleicht in einer Psychiatrie landen oder unter einem bleibenden körperlichen Schaden leiden. An die endlosen Gespräche mit Ältesten und Glaubensbrüdern, die mir sagen würden, wie enttäuscht Jehova nun sei, weil ich mich hatte umbringen wollen, daran wollte ich erst gar nicht denken. Auch nicht daran, was ich alles tun müsste, um Vergebung zu erlangen. Es musste wortwörtlich todsicher sein, und falls es doch nicht funktionierte, durfte es niemand bemerken. Ein Sprung von einer Brücke wäre letztlich super gewesen, nur konnte ich nicht Auto fahren, und die Brücken, die mit dem Fahrrad zu erreichen waren, erschienen mir nicht hoch genug. Auf eine Querschnittslähmung konnte ich gut verzichten.

Also entschied ich mich für einen Tod durch eine Kohlenmonoxidvergiftung. Da das Auto meiner Mutter sichtbar auf der Straße parkte und ich nicht am Auspuff nuckeln wollte, blieb nur die Option, mich selbst zu ersticken. Ich nahm den Müllbeutel in meiner Hand und öffnete ihn. Zog ihn über meinen Kopf und stellte das Lied auf Anfang. Take a breath. Ich atmete. Die Tür und den Spalt darunter im Blick. Alles dunkel. Ich betete. Bat Jehova Gott um Vergebung. Betete um Erlösung. Ich wollte einfach verschwinden. Heiße Tränen liefen über meine Wangen. Es war so weit. Ich zog den Müllbeutel an meinem Hals zusammen. Atmete ein paar letzte Züge. Schwer. Take it deep. Sog den Müllbeutel in meinen Mund. In meinem Kopf pulsierte der Song. Ich spürte meine Bereitschaft, zu sterben. Akzeptierte den Tod. Calm yourself. Ich hatte gelesen, dass viele Menschen nicht sterben, weil sie zu sehr am Leben hängen und der Überlebensinstinkt kurz vor dem Selbstmord einsetzt. Das konnte mir nicht passieren. Noch nie wollte ich etwas so sehr wie in diesem Moment den Tod.

Noch ein schwerer Atemzug aus Plastik. Der chemische Geruch stieg mir tief in die Nase, und es war perfekt so. Der Genuss des Todes. Der Genuss der Erlösung. Es war alles geklärt. Es gab genau drei Abschiedsbriefe. Einen an meine Mutter, einen an meinen Vater und einen an seine Frau. Nach meinem Tod konnten sie sich endlos gegenseitig die Schuld zuschieben, ich hatte jedenfalls meine Ruhe. Sie alle waren in meinen Augen schuldig, und das sollten sie wissen. Ich war raus.

Plötzlich wanderte mein leerer Blick zu dem Spalt unter meiner Zimmertür. Er wurde hell. Panisch riss ich die Tüte von meinem Kopf und zog die Kopfhörer aus meinen Ohren. Ich lauschte. Meine Mutter war auf dem Weg zu meinem Zimmer. Es wummerte an meine Tür. War es möglich, dass sie den Schein der Kerzen entdeckt hatte? Scheinbar.

Mit schriller Stimme fragte sie, warum ich mich schon wieder eingeschlossen hätte. Ich solle endlich schlafen, es sei fast neun.

»Ja, gleich«, rief ich etwas schwach, in der Hoffnung, dass es normal und gefasst rüberkam. Das ganze Geheule hatte meine Nase verstopft, wahrscheinlich klang ich, als hätte ich seit zwei Wochen eine Erkältung.

»Nein, nicht gleich, sondern sofort!«

Immerhin, ich war schon froh, dass sie mich nicht zwang, die Tür zu öffnen. Kann man denn nicht einmal in Ruhe sterben?, dachte ich.

»Sophiehieeee! Ich habe was gesagt!«

»Ich mach ja schon, sofort«, erwiderte ich, damit sie endlich verschwand.

»Ich komme in fünf Minuten wieder, und wehe, du liegst dann nicht im Bett!« Mit diesen Worten kehrte sie ins Wohnzimmer zurück.

Angst und Abscheu machten sich erneut in mir breit, Empfindungen, die ich durch meinen baldigen Tod nie wieder spüren wollte. Der Lichtspalt unter meiner Tür erlosch, und ich war erleichtert. Die Frau machte mich wahnsinnig. Ich war so froh, sie nie mehr sehen und hören zu müssen.

Ein weiteres Mal steckte ich die Kopfhörer in meine Ohren, drückte auf »Zurück«, um erneut »Russian Roulette« laufen zu lassen, und griff zur Tüte. Energisch und zielstrebig. Ich wollte es hinter mich bringen. Diesmal aber wirklich. Ich umklammerte den Achat und zog den Müllbeutel fester um meinen Hals zusammen als nötig. Schmerz. Egal. Die Tüte wurde mit jedem Atemzug tiefer in meinen Mund gesaugt. Ich schmeckte und roch Plastik. Beeil dich, rief ich mir still zu. Aber gleich würde es geschafft sein. Endlich. In meinem Kopf rauschte es. Ich hörte das Blut durch meinen Körper jagen. Bekam keine Luft mehr. Mein Kopf wurde schwer, und vor meinen Augen verschwamm alles. Ich spürte, wie sich das Blut in mir staute, und es fühlte sich an, als wollte mein Kopf platzen. So viel Druck. War das der Tod? Kein Atem. Stattdessen Pulsrauschen. Ein riesiges Pochen in meinem Schädel. Ich schloss meine Augen und verabschiedete mich von der Welt.

Doch nichts geschah. Ich flehte Jehova an, mich zu erlösen. Wieder nichts. »Bitte, lieber Gott, lass mich sterben! Mein Lebenswille ist gebrochen. Ich will nicht leben. Ich will nicht die Tüte von meinem Kopf ziehen.« Ich diskutierte mit Gott. Er weigerte sich, mich zu befreien. Sagte mir, es gäbe einen Ausweg, und irgendwann werde es besser. Aber ich wollte ihm nicht glauben. Stur wartete ich weiter, biss die Zähne zusammen.

Ein Zeitgefühl besaß ich nicht, aber es mussten Minuten vergangen sein, in denen mein Gehirn ohne Sauerstoff war. Ich hörte keine Lieder mehr, einzig und allein ein Rauschen. Bestimmt war ich nicht mehr hier, längst weg. Doch eben auch nicht tot. Ich dachte: Gott lässt mich nicht sterben. Er will, dass ich lebe. Auch wenn ich das nicht will. Er hat Größeres mit mir vor. Ich wollte ihn anschreien, ihm sagen, dass es mein Leben sei und ich entschiede, ob ich noch leben wolle oder nicht! Aber er ließ mich nicht los. Wie sehr ich es auch versuchte. Es war sinnlos. Ich zog die Tüte von meinem Kopf und schnappte nach Luft. Ich kippte zur Seite. Mir war schwindlig und übel. Ich öffnete meine Augen, sah aber nur verschwommenes Flackern in der Dunkelheit. Mein Kopf fühlte sich an, als würde er eine Tonne wiegen. Aber Wut und Enttäuschung wogen mehr. Ich fing zu weinen an. Wollte schreien, aber aus meiner Kehle kam nur ein Röcheln. War sauer auf Jehova, dass er mir den Tod verwehrte. Mir tat alles weh. Eindeutiges Zeichen, dass ich noch lebte. Verdammte Scheiße.

Nachdem ich eine Weile auf dem Boden gelegen, geheult und die Musik aus meinen Kopfhörern wie weit entfernt gehört hatte, stand ich irgendwann schwankend auf. Ich öffnete das Fenster, pustete die Kerzen aus und legte mich mit wahnsinnigen Kopfschmerzen ins Bett. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Ich fühlte mich innerlich wie tot, war es aber nicht. Und ich wusste: Egal, auf welche Weise und wie oft ich es versuchen würde, es würde nicht funktionieren. Gott ließ mich nicht sterben. Und so versuchte ich auch nie wieder, mich umzubringen.

Seit diesem Moment hatte ich eine große Glaubenskrise. Ich war wütend auf meinen Vater, auf den allmächtigen Gott. Konnte ihm nicht mehr vertrauen und wollte ihm nicht mehr dienen. Ich fühlte mich im Stich gelassen und verraten. Erst von meiner Familie, dann von meinen Freunden und jetzt auch noch von meinem Gott. Er hatte die Macht, mich zu erlösen, aber er hatte es nicht getan, obwohl er doch angeblich in mein Herz sehen konnte und meinen Schmerz spürte. Die Erkenntnis, dass mein letzter Ausweg offenbar nicht funktionierte, stürzte mich in ein tiefes Loch. Nun hatte ich kein Ziel mehr, keine Lösung für mein Leben.

Nachdem ich mich eine Weile in Selbstmitleid ertränkte – leider nicht wortwörtlich –, begann ich zu akzeptieren, dass es keinen Ausweg gab. Ich musste da durch, wissend, dass mir niemand helfen würde. Außerdem hasste ich meine Schwäche. Ich war nicht einmal imstande zu sterben. Nicht einmal das bekam ich hin. Wie konnte man nur so dämlich sein? Der Tod sollte meine Erlösung sein, mein Ausweg, und ich kriegte nicht mal einen beschissenen Selbstmord auf die Reihe. Wie sollte ich es dann schaffen, überhaupt zu leben, wenn ich nicht einmal sterben konnte?

Aber wenn ich nicht sterben konnte, musste ich die Situation akzeptieren, selbst wenn ich keine Perspektive für mich sah. Akzeptanz. Heute weiß ich, dass der Schlüssel zum Glück Akzeptanz ist. Aber Akzeptanz erfordert innere Stärke, und die hatte ich damals nicht. Ich musste sie lernen. Musste lernen, für mich einzustehen, nicht nach Auswegen zu suchen, sondern für das Leben zu kämpfen, das ich führen wollte. Ich hatte keine Ahnung, wie das aussehen sollte, aber ich hatte keine andere Wahl. Also musste ich mich mit einer Zukunft auseinandersetzen, von der ich glaubte, sie nicht zu haben. Der naive Gedanke, dass Gott einen aus unangenehmen, furchtbaren und gar grausamen Situationen rettet, hatte sich erledigt. Er half nicht. Er war nicht da. Ich hatte mich darauf ausgeruht, zu glauben, dass im Notfall Jehova mit dem Finger schnipse, und sofort würden sich meine Probleme in Luft auflösen. Falsch gedacht. Doch wenn er nicht für mich da war, warum sollte ich für ihn da sein?

Mein auf Perfektionismus getrimmtes Christenleben änderte sich. Mein geschultes Gewissen war plötzlich nicht mehr so sensibel. Als ungetaufte Verkündigerin musste ich ja einen monatlichen Berichtszettel abgeben, bisher hatte ich bei den Angaben noch nie gelogen. Aber nachdem Gott mich im Stich gelassen hatte, war meine Motivation, für ihn predigen zu gehen und ihn vor Fremden als liebevollen und fürsorglichen Vater zu verherrlichen, gleich null. Also ließ ich einige meiner Predigtdienstverabredungen sausen und schrieb falsche Zahlen in meinen Bericht. Mein Herz schlug bis zum Hals, als ich den Zettel unserem Gruppenleiter übergab. Konnte er wissen, dass ich log? Ich fühlte mich ertappt. Als würde Jehova hinter mir stehen und unmissverständlich den Kopf schütteln. Aber natürlich wusste er es nicht. Woher auch. Keiner wurde misstrauisch. Schon seit Jahren ging ich nicht mehr mit meiner Mutter in den Dienst, sondern mit anderen Schwestern aus der Versammlung. Und die sprachen sich untereinander sicher nicht ab, ob wir wirklich im Dienst waren oder nicht.

Dennoch: Ich war paranoid und hatte Schuldgefühle. Aber warum? Jehova schuldet mir etwas, dachte ich, weil er mir meinen Tod verwehrt hat, also ist es nur gerecht. Da ich noch nie zuvor in meinem Leben absichtlich und berechnend gelogen hatte, war mir dies fremd. Klar, oft hatte ich Angst gehabt, etwas Falsches zu tun, aber bewusst falsche und unehrliche Entscheidungen zu treffen war für mich absolut neu. Es gefiel mir. Die Furcht war nicht weg, aber gleichzeitig breitete sich in mir ein Gefühl von Macht und Selbstbestimmung aus. Ein bislang unbekanntes Gefühl. Selbstbestimmung? Was war das? Bisher war ich immer gehorsam und brav gewesen, hatte das getan, was von mir erwartet wurde, und mich nach Fehlern halb zu Tode geschämt. Ich wollte die perfekte Christin sein. Aber jetzt? Ich wusste, es war falsch. Wusste, es war riskant. Aber ich wollte mehr. Mehr Regeln brechen. Es war verkehrt, aber es fühlte sich an, als sei es notwendig. Ich begann, ein Doppelleben zu führen. Ich liebe dieses Wort. Doppelleben. Masken. Zwei Personen in einer.