GOTTES ALBTRAUM

Stell dir vor, es ist Sonntagmorgen, halb zehn, und du sitzt gerade mit deiner Familie am Küchentisch. Heißer Kaffee, frische Brötchen und in deiner Hand die Zeitung. Es klingelt an der Haustür, und du hast keine Ahnung, wer an diesem schönen Tag deine Ruhe stört. Du gehst in deiner Jogginghose und dem ausgeleierten Shirt zur Tür und schluckst den Rest deines Brötchens im Gehen hinunter. Du öffnest die Haustür und starrst verwundert die fremden Menschen an, die in deinem Vorgarten stehen. Zwei Frauen mit blassen Gesichtern in langen grauen Röcken, Handschuhe an den Händen, Mützen auf dem Kopf, und ein kleines Mädchen. Es sind keine zehn Grad draußen, und auf deinen nackten Armen macht sich Gänsehaut breit. Du zitterst einen Moment von dem eisigen Wind, der dir von draußen entgegenweht. Hinter dir die wohlige Wärme des Hauses – und vor dir diese drei wildfremden Menschen. Wer ist das, und was wollen die von mir?, denkst du.

Du ziehst die Schultern hoch und verschränkst die Arme vor der Brust, in der Hoffnung, dich gleich wieder deiner Kaffeetasse widmen zu können. Eine der Frauen kramt in ihrer dunkelbraunen Ledertasche, die andere ergreift das Wort.

»Guten Tag. Glauben Sie, dass das Leid auf der Welt irgendwann ein Ende hat?«, fragt sie dich, und bevor du verdutzt nach einer Antwort suchst, redet sie schon weiter: »Wir würden Ihnen gern zeigen, was dazu in der Bibel steht.« Dann wendet sie sich an das Mädchen und fordert es auf: »Lies doch einmal den Text, den wir herausgesucht haben.«

Die Kleine, die sich in ihrem dunkelroten Wollmantel und der großen Bommelmütze hinter den Frauen kleinmacht, tritt zögernd einen Schritt nach vorn, auf dich zu, und beginnt, langsam und holprig aus der aufgeschlagenen Bibel zu lesen, die ihr die andere der beiden älteren Frauen gegeben hat.

»Und er wird jede Träne von ihren Augen abwischen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch wird Trauer, noch Geschrei, noch Schmerz mehr sein. Die früheren Dinge sind vergangen. Das steht in Offenbarung 21:4«, murmelt die Kleine leise und schüchtern vor sich hin, während sich eine widerspenstige dunkelblonde Strähne aus der Mütze hervordrängelt. Nachdem sie verstummt ist, blickt sie erst die Frauen und dann dich mit ihren großen braunen Augen für einen Moment an und geht einen Schritt zurück.

»Gut. Ist das nicht eine wunderbare Hoffnung, die unser liebevoller Schöpfer uns hier zusichert?«, fragt die Frau, die dem Mädchen die Bibel überreicht hat, dich mit sanfter, aber eindringlicher Stimme.

Du bist so überrascht von der Situation, dass du immer noch nicht weißt, was du sagen sollst. Du nickst bloß. Dir wird von Sekunde zu Sekunde kälter, und du möchtest wieder rein.

»Also, was kann ich für Sie tun?«, fragst du die Frau, die dich eben angesprochen hat. Das Mädchen in seinem roten Mantel hält die Bibel nah an seinem Körper, wie ein Schutzschild.

»Die Frage ist eher, was wir für Sie tun können? Wir möchten Ihnen Gottes Hoffnung näherbringen und Ihnen ein kostenloses Heimbibelstudium anbieten.« Die Frau mit der Handtasche spricht nun voller Begeisterung, sie scheint davon überzeugt zu sein, dass du ein solches Angebot bitter nötig hast.

»Danke, aber kein Interesse. Schönen Sonntag noch«, erwiderst du bestimmt und gehst einen Schritt zurück, in den Flur hinein, um die Tür zu schließen.

»Aber es ist wirklich wichtig, dass Sie sich mit Gottes Wort beschäftigen, denn das Ende naht«, sagt die Frau energischer und tritt auf dich zu. Sie hat einen größeren Schritt gemacht als du und steht nun fast im Türrahmen. Unangenehm.

»Nein danke! Und schließen Sie bitte das Gartentor hinter sich«, sagst du laut und lässt die Tür hinter dir ins Schloss fallen, bevor sie noch etwas sagen kann.

Zurück in der Küche fragt dich deine Familie, wer denn das da an der Tür war. Du erzählst ihnen von den zwei Frauen mit dem Bibelgeschwafel und dem Mädchen. Ein Mädchen, nicht älter als sieben oder acht, das nervös versucht hat, fehlerfrei einen Bibeltext vorzulesen. Es kann einem leidtun. Du stehst auf und schaust aus dem Fenster, ob die Truppe auch wirklich weg ist. Du siehst, wie die drei jetzt vor dem Haus gegenüber stehen und mit deinem Nachbarn reden. Du trinkst einen Schluck Kaffee, und schon morgen werden diese drei Minuten deines Lebens nichts weiter als ein seltsamer Vorfall sein, der schnell in Vergessenheit gerät. Eine kleine Kuriosität ohne jegliche Bedeutung.

Wenn du diese Situation schon mal erlebt hast, dann kennst du mich vielleicht. Denn dieses kleine Mädchen, das war ich. Ich wurde in eine Welt hineingeboren, die nicht für mich gemacht ist. Eine Welt, für die ich nicht gemacht bin. Und genau so habe ich mich immer gefühlt. Anders. Ich war anders als die Menschen um mich herum. Klassenkameraden, Lehrer, einfach jeder. Keiner war wie ich. Ich war etwas ganz Besonderes. Auserwählt. Darauf war ich stolz. Nur wenige Menschen teilten dieses Schicksal. Ich gehörte zu einer kleinen Gruppe von Menschen, die auf den ersten Blick harmlos, freundlich und sehr konservativ erscheinen. Nette Menschen, die in ihrer eigenen Welt leben und deswegen oft Ablehnung erfahren. Menschen, die Gutes wollen und sich an den hohen Wertmaßstäben und Moralvorstellungen Gottes orientieren. Menschen, die viele Opfer bringen, um am Ende dafür belohnt zu werden.

Ich war Teil von etwas ganz Großem. Dachte ich. Sagte man mir. Ständig. Wenn man von Geburt an konsequent und eindringlich Ansichten, Werte und Regeln vermittelt bekommt, an die man sich zu halten hat, stellt man nichts in Frage, denn man kennt es nicht anders. Und was man nicht kennt, kann man auch nicht vermissen. In meinem Leben als Zeugin Jehovas habe ich nie einen Weihnachtsbaum geschmückt, Ostereier gesucht oder ein Geburtstagslied gesungen. Zu Halloween habe ich mich nie verkleidet und an Silvester keine Raketen gezündet. Diese heidnischen Feste und Bräuche waren nicht Teil meines Lebens. Meine Zeit war gefüllt mit den wirklich wichtigen Dingen. Dinge, die einem das ewige Leben schenken. Predigen, in der Bibel lesen und sie studieren, beten, Zusammenkünfte besuchen und sich darauf vorbereiten, persönliches Studium. In meiner Freizeit habe ich mich oft mit den Brüdern und Schwestern aus der Versammlung getroffen und Gottgefälliges getan. Was aber ist gottgefällig? Ich kann dir sagen, was es nicht ist: gewaltverherrlichende, materialistische und unmoralische Filme sehen, Musik hören oder Bücher lesen. Wer sich mit Sachen beschäftigt oder sich mit ihnen umgibt, die Gottes Maßstäben widersprechen, spielt dem Teufel in die Hände und vergiftet seinen Geist. Das schließt auch ein, sich von Menschen fernzuhalten, die solche falschen und gefährlichen Dinge tun. Hat jemand nicht dieselben Werte und Moralvorstellungen wie ich, bringt er mich meinem Ziel nicht näher. Und was war mein Ziel? Eine gottgefällige, treue Christin zu sein. Jemand, der mich mit seinem Denken und Handeln in eine andere Richtung lenkt, ist kein guter Einfluss. Egal, ob er es nur gut meint oder ob ich die Person eigentlich mag.

Es gab für mich nur zwei Arten von Menschen: die, die treue Diener Gottes sind und mich meinem ewigen Leben näherbringen, und die, die es nicht sind. Ungläubige Weltmenschen, die mich in Versuchung führen und eine Gefahr für meine geistige Gesundheit darstellen. Das heißt: kein The Fast and the Furious im Kino mit Klassenkameraden anschauen und keine Songs hören, in denen vorehelicher Sex und Gewalt vorkommen oder in denen geflucht wird. Keine Discobesuche und auf keinen Fall mit einem Schulkameraden auf dem Netto-Parkplatz knutschen. Ja, das engt die Möglichkeiten der Freizeitgestaltung ziemlich ein. Es war leichter für mich, gar keine weltlichen Freunde zu haben und allen aus dem Weg zu gehen, denn dann wird man auch nicht eingeladen und muss sich keine Ausreden überlegen, warum man nicht mitmachen kann.

Schwerer wurde es, als mein Vater plötzlich auch zu denen zählte, die als schlechter Einfluss für mich galten. Als immer mehr der »Guten« plötzlich böse wurden und ich anfing, mich mit den vermeintlich »Bösen« sehr gut zu verstehen. Zwischendrin ich. Eine Christin, die perfekt sein wollte, es aber nicht konnte. Meine Welt war nicht mehr nur schwarz und weiß, sondern es entstanden Grauzonen. Grauzonen, in denen ich mich wohlfühlte und aufblühte, um danach von Schuldgefühlen und Paranoia geplagt zu werden. Der nicht enden wollende Kreislauf aus Schuld und Sühne. Ein gepflegtes Doppelleben, was mich irgendwann zum Aufwachen bewegte. Wenn man von einem Albtraum erwacht, benötigt man ein paar Momente, um zu realisieren, dass alles nicht echt war. Illusion. Ein paar Minuten Ruhe, um die verwirrten Gedanken zu ordnen und sich wieder selbst zu fühlen. Als ich aus meinem Albtraum erwachte und mich endgültig befreite, war ich achtzehn Jahre alt. Aber ich war nicht sofort wach und bei klarem Verstand. In meinen Augen war Sand, sodass ich die Realität nur verschwommen wahrnahm. Ich brauchte auch ein paar Momente, um richtig wach zu werden. Diese Momente dauerten Jahre. Jetzt bin ich fünfundzwanzig Jahre alt und wach. Klar und fokussiert. Auch wenn sich die Vergangenheit oft wie ein Traum anfühlt, so weiß ich doch, dass alles echt war, obwohl ich mir manchmal wünsche, es wäre nicht so.