02.08.2059, 13:00 Uhr, Karlsruhe, Randgebiet:
Der Schwarzgekleidete mit der Sonnenbrille hatte vorn am Einfamilienhaus in der einfachen Wohngegend der deutschen Großstadt, ziemlich am Stadtrand, geklingelt – zweimal. Niemand machte ihm auf, und er begann, das Haus nach typischen Anwesenheitsmerkmalen abzusuchen. Da stand ein Fahrzeug direkt vor dem Haus auf der Straße und als es völlig ruhig wurde, hörte der Schwarze leises Radiogedudel. Es kam seitlich vom Haus. Der Mann ging um eine Buschgruppe herum und sah sich nach einer längeren Auffahrt einer offenen Garage gegenüber.
Das Radio war lauter zu hören.
Nun, ohne Ergebnis zurückzukommen, war indiskutabel. Der Schwarze hatte einen Auftrag auszuführen. Daher ging er zielstrebig auf die Garage zu, und die Musik wurde noch lauter. Ein solches Fahrzeug hatte er noch nie gesehen. Vorn gab es einen Kühlergrill und auf der Motorhaube stand, die einzelnen Buchstaben weit auseinander F O R D drauf. Das Auto war quietschegelb, mit braunem Dach.
Der Schwarze sah sich um. Seinen Hörsinn konnte er vergessen, denn das Radio an der seitlichen Wand dröhnte mit allem, was nach Lautsprecher aussah.
„ Hallo? “, rief der Schwarze gegen den Lärm.
Es erfolgte keine Reaktion, beziehungsweise reagierte niemand.
Er rief noch einmal lauter, mit dem gleichen Ergebnis.
Er begann um das Auto herumzugehen, und dann sah er, wie zwei Beine, ab Knie, unter dem etwas aufgebockten Fahrzeug herausschauten. Der Schwarze bückte sich und griff zu. Er hatte leichtes Spiel, denn der Mensch, der unter dem Fahrzeug lag, befand sich auf einem Brett mit Rollen.
„ Hey, hey, hey “, brüllte dieser erschrocken.
Der Schwarze hatte einen 43-jährigen blonden Mann mit kurzem Vollbart, 190cm groß und kräftig, grüne Augen, unter dem Oldtimer hinweggezogen.
Der Schwarze drehte sich um und zog den Stecker des immer noch lauten und laufenden Radios aus der Steckdose. Im Nu war Ruhe.
„Lars Witte“, fragte er den immer noch am Boden liegenden Blonden.
„Äh, der bin ich.“
„Admiral Tony Winter schickt mich. Treffpunkt am 05.08.2059 um 11:00 Uhr im Trainingscenter auf Isle of Man. Es ist keine Übung.“
Der Blonde nickte: „Verstanden.“
„Dann ist mein Auftrag erfüllt. Ich wünsche einen angenehmen Tag.“
Der Schwarzgekleidete drehte sich um, und als er die halbe Ausfahrt überwunden hatte, schaffte es sein Ansprechpartner, sich halb aufzurichten: „Dir auch, Alter, dir auch!“
Mit leichtem Gestöhn raffte sich Lars Witte auf und wischte sich mit seinen öligen Händen durchs Gesicht. Er sah anschließend aus wie ein Indianer mit ausgebuddeltem Kriegsbeil. Bedauernd tätschelte er den vorderen Kotflügel seines Ford Granada Coupe 2.0 V6 aus dem Baujahr 1976. In dem Fahrzeug steckten bereits ein paar hundert Arbeitsstunden – das Hobby von Lars Witte.
„Wirst wohl noch etwas auf mich warten müssen, Karli!“
Nun weiß man auch den Namen dieses gelben Automobils.
02.08.2059, 23:15 Uhr, Heilbronn, Innenstadt, Kneipe ‚Durst‘:
Der Kneiper hinter dem Tresen sah sich überraschenderweise mit einem neuen Gast konfrontiert, und das zu so später Stunde. Als er das Outfit des Betreffenden begutachtete, kam er zu dem Ergebnis, dass grüne Blüten häufiger anzutreffen waren, als eine großgewachsene Gestalt im schwarzen Anzug und zu nachtschlafender Zeit auch noch mit Sonnenbrille. Der Fremde sah sich um und entdeckte eine Zockerrunde, die Einzige, die übriggeblieben war, mit drei Herren und einer, wenn man so will, Dame. Das holde, weibliche Geschöpf saß mit abgewetzten Jeans, Turnschuhen, ungewaschenen längeren Haaren in Dackelblond und einem fleckigen Achselshirt mit den Männern am Tisch. Unter dem Achselshirt trug sie, gut erkennbar, nichts. Ihre kleinen Brüste schauten oben sowie rechts und links gut sichtbar heraus, was die Trägerin aber nicht zu stören schien. Dafür verantwortlich konnte der erhebliche Alkoholkonsum sein, dem alle vier am Tisch bereits reichlich zugesprochen hatten.
„Was darfs sein, Fremder?“, fragte der Wirt den Neuankömmling, der sich mittlerweile vor die Theke auf einen Hocker gesetzt hatte.
Der Schwarze wandte seinen Blick von der Spielerrunde ab und fixierte den Wirt. „Ein Wasser – still!“ Dann sah er wieder zum Spieltisch.
Man mag dem Wirt zugutehalten, dass er, allein wegen der etwas vom allgemeinen Wunsch abweichenden Bestellung, irritiert war, denn er holte zögerlich eine kleine Flasche Wasser unter der Theke hervor.
„Und was treibt Sie so in unsere Gegend?“, erkundigte er sich neugierig.
„Mit ‚still‘ hatte ich Sie gemeint!“ Dabei sah die Sonnenbrille wieder den Wirt an. Dieser schluckte. So was war ihm noch nie untergekommen. Gut, er wollte nicht sprechen – musste ja auch nicht sein. Aber wofür kam dieser Typ fast mitternächtlich in eine Kneipe, wenn er weder saufen noch quatschen wollte?
Auffallend betrachtete der Fremde die Zockerrunde, dann schien er das Interesse an dieser Zusammenkunft verloren zu haben. Der Wirt kannte Ina. Die Jungs hatte sie mitgebracht und sie bestanden nicht aus der Klientel, die der Wirt gerne als Gäste gehabt hätte. Er hatte sich schon einen Knüppel unter die Theke gelegt, falls die Situation unkontrollierbar würde. Er meinte, zwei davon auf Steckbriefen gesehen zu haben und da ging es nicht um Kavaliersdelikte. Es wäre nicht das erste Mal, dass Ina Kerle bis auf die Unterhose abzockte, aber dieses Mal waren die Jungs nicht von der harmlosen Sorte. Der Schwarzgekleidete drehte der Spielerrunde wieder den Rücken zu. Das dauerte ungefähr fünfeinhalb Minuten, bis einer der Männer am Tisch schrie: „ Die Schlampe betrügt uns! “
Man hörte Stühle rücken und der Schwarzgekleidete drehte sich wieder herum. Dann stand er vom Barhocker auf und ging langsam auf den Tisch zu. Die Dame saß zurückgelehnt im Stuhl und hatte ganz relaxed die Arme über die seitlichen Lehnen gehängt. Die drei Herren waren aufgestanden und standen nun drohend vor ihr. Einer der Typen drehte dem Schwarzen den Rücken zu und begann damit, auf die Frau einzuschimpfen und drohte ihr Prügel an.
Der Schwarze räusperte sich.
Vielleicht wäre es anschließend nicht so eskaliert, wenn man diese kleine Bitte um Aufmerksamkeit er- oder auch nur ge hört hätte. So reagierte man zum Missfallen des Schwarzen nicht.
Das war nicht gut.
Derjenige, der die Prügel angedroht hatte, hob jetzt einen Arm, um zuzuschlagen. Der Schwarze fasste ihn hinten an die Schulter und drehte ihn zu sich herum.
„Was willst du, Arsch?“
Er hatte diese wenig freundliche Ansprache kaum ausgesprochen, als er einen Faustschlag ins Gesicht bekam. Der Hieb war ansatzlos und dermaßen schnell ausgeführt, dass er den Schmerz eher fühlte, als er begriff, was da vor sich ging. Er bekam ordentlich Schwung nach hinten und knallte mit dem Rücken auf den Spieltisch. Er begrub das zusammenbrechende Möbel unter sich und blieb benommen liegen. Karten, Getränke, Geld und Gläser flogen durch die Gegend. Ina saß weiterhin locker in ihrem Stuhl, während die beiden Kerle aufsprangen. Einer kam mit Anlauf auf den Schwarzen zu. Dieser nutzte den Schwung aus, packte ihn an Kragen und Gürtel und warf ihn einmal quer durch den Schankraum. Auf dem Weg räumte der Angreifer sechs Tische und 13 Stühle ab. Der Fremde drehte sich wieder zum Tisch, aber der Dritte im Bunde hatte genug gesehen. In einem weiten Bogen umrundete er den Schwarzen und hastete zur Tür hinaus. Der Tische- und Stühleabräumer kämpfte sich stöhnend wieder auf die Beine, als der Schwarze vor ihm stand. Dieser deutete auf den anderen Verletzten, der immer noch auf dem kaputten Tisch lag: „Mitnehmen und raus!“
Der Angesprochene hatte Panik in den Augen, als er geduckt auf seinen Kumpel zulief und diesen schnellstmöglich aus der Kneipe schleifte.
„Ina Rott?“, fragte der Schwarze und stellte sich vor die immer noch Sitzende.
„Jaa, sisisicscher dodoch. Ächt beeindrudruckend, hicks.“
Die mit Ina Rott Angesprochene war, wenn man es lapidar ausdrücken will, randvoll.
„Ich glaube, wir gehen“, sagte der Schwarze und bot Ina eine Hand, damit sie sich mit seiner Hilfe vom Stuhl erheben konnte.
„Wawawarum sollich mitnem schwaschwartsen Mann mimitgehn?“
„Weil Mister Winter das wünscht.“ Der Schwarze ließ die Bezeichnung Admiral bewusst weg, in der Hoffnung, dass die Frau ihn auch so verstand.
„Ahso!“ Ina ergriff die Hand, ließ sich hochziehen und stand dann schwankend vor ihrem Stuhl.
„Ähm, Entschuldigung“, mischte sich der Wirt ein. „Der Schaden ist doch erheblich.“
Der Schwarze griff in seine Jackettasche und warf eine Handvoll Geldnoten auf den Tresen: „Reicht das?“
Dem Wirt gingen die Augen über. Damit konnte er nicht nur neues Mobiliar bezahlen, sondern auch seine restlichen Schulden: „Ja, ja ... danke.“
„Iwillnoeinen“, lallte Ina.
Der Schwarze sah sie zweifelnd an.
„Nschlörschluck“, beharrte Ina.
Der Herr in Schwarz langte wieder in die Tasche und legte einen Schein auf die Theke.
Der Wirt beeilte sich, dem Wunsch Folge zu leisten.
„Ndopplten, wa!“
Der Schwarze wollte wieder, aber der Wirt winkte ab, dafür füllte er ein größeres Glas, und zwar randvoll. Ina setzte an und schüttete sich das scharfe Zeugs in einem Zug hinein. Anschließend rülpste sie und riss die Augen auf: „Upps!“ Dann begann sie langsam, wie eine Bahnschranke, umzufallen. Der Schwarze fing sie auf und legte sie sich dann, wenig damenhaft, über eine Schulter. Dann ging er mit ihr zum Ausgang.
„Äh, wiedersehn“, rief der Wirt noch hinterher, bekam aber keine Antwort mehr.
Draußen geschah das, womit der Schwarzgekleidete gerechnet hatte. Man lauerte ihnen auf. Mit Eisenstangen und Messern drangen drei Kerle auf ihn ein. Mit Ina auf der Schulter war der Schwarze etwas gehandicapt. Er zog blitzschnell und eine Faustfeuerwaffe mit Dämpfer ploppte genau dreimal. Dann lagen drei Angreifer in ihrem Blut. Der Schwarze sah sich kurz um, aber niemand schien das Geschehen verfolgt zu haben. Er steckte die Waffe weg und machte sich auf den Weg zu Inas Wohnung. Nach einer Viertelstunde hatte er das Ziel erreicht. Ina lag immer noch auf seiner Schulter und schlief. Mit einem Spezialgerät öffnete er den Zugang zu einem Mehrfamilienhaus und schleppte Ina in die dritte Etage. Auch dort gelangte er mithilfe dieses Gerätes in Inas Wohnung. Dort legte er die Schlafende behutsam auf die Couch, traf noch andere Vorbereitungen, telefonierte leise und setzte sich dann ihr gegenüber in einen Sessel und wartete.
Zwei Stunden später waren der Polizei drei Leichen gemeldet worden. Zwei Streifenwagenbesatzungen waren eingetroffen und besahen sich die Erschossenen. Die Kneipe hatte längst geschlossen und der Wirt war nach Hause gegangen. Es erschien ein großer, schwarzer Bulli und es stieg jemand heraus, der mit den Polizisten sprach und sich auswies.
„Einsatzende“, rief der angesprochene Polizist seinen Kollegen zu. „Den Fall übernimmt die UAW.“
Die Streifenwagenbesatzungen stellten alle Handlungen ein und stiegen in ihre Fahrzeuge. Wenig später stand der schwarze Bulli allein am Tatort. Zwei Männer stiegen aus der seitlichen Tür und warfen die Leichen anschließend auf die Ladefläche. Fünf Minuten später war der Tatort geräumt und der Transporter fuhr ab.
Inas Bude, ca. acht Stunden später:
Der Schwarzgekleidete war leicht eingenickt, wurde aber sofort wach, als er Würgegeräusche hörte. Er kam gerade rechtzeitig, um Ina einen Eimer zu halten, in den sie reichlich reinkotzte. Als sie fertig war, nuschelte sie: „Ich muss pinkeln.“ Der Schwarze trat zur Seite und gab den Weg frei. Ina erhob sich von der Couch und wankte ins Bad. Man hörte es pieseln, dann lief die Dusche. Wenig später kam Ina, mit einem Handtuch umwickelt, aus dem Bad. Die Haare lagen ihr klatschnass auf der Schulter.
Sie hielt sich den Kopf: „Wenn ich mich recht an gestern Abend erinnere, dann …“
„Nein“, unterbrach sie der Schwarze.
„Äh, wie nein. Ich war doch in der Kneipe bedroht worden und …“
„Nein“, wiederholte der Schwarze. „Sie können sich an nichts erinnern, klar?“
„Äh, ja, aber …“
„05.08.2059, 11:00 Uhr, Admiral Tony Winter erwartet Sie im Training Center auf Isle of Man. Es ist keine Übung. Können Sie sich das merken?“
„Äh, ja sicher. 5.8. um elf“, wiederholte Ina.
„Dann ist mein Auftrag erfüllt. Ich wünsche einen guten Tag.“
Der Schwarze verließ das Apartment und ließ eine schwer angeschlagene Ina Rott zurück – mit Kopfweh.
03.05.2059, 15:00 Uhr, Frankreich, Limoges:
Ein in einem schwarzen Anzug gekleideter Mann, mit der obligatorischen Sonnenbrille, schritt suchend durch einen Park, Nähe des Flusses Vienne. Dann schien er sein Ziel erreicht zu haben. Etwa 100 Meter vor ihm war eine Traube von Menschen, die geschäftig hin- und herliefen und dabei mobile Stellwände transportierten und aufstellten bzw. verstellten. Ein riesiger Schirm aus hellem Material war zu sehen und mehrere große Spiegel. Als der Mann näherkam, konnte er auch erkennen, um was es dort ging. Ein professioneller Fotograf bemühte sich, ein exklusives Model recht ansehnlich abzulichten. Ein paar seiner Hilfen bemühten sich, Schaulustige etwas zurückzudrängen, andere hielten Kameras bereit, Blitzgeräte oder aber den erwähnten Schirm in die richtige Richtung zu halten und Ähnliches. Im Mittelpunkt stand eine knapp 166cm große Augenweide. Die 33-jährige Französin hatte halblange und sehr helle, blonde Haare, graublaue Augen, ein Lächeln, um Männer umzuwerfen, und kaum was an. Das Kleid war schon sehr durchsichtig und die Unterwäsche darunter auch. Mit halterlosen Strümpfen und Pumps in Weiß, man hatte eine Kabine mitgebracht, wo sich die Schöne jeweils umziehen konnte, heizte sie mit lasziven Posituren ein.
„Ja, ja, gibs mir“, rief der Meister (Fotograf) begeistert und drückte immer wieder auf den Auslöser. Das Model schmachtete die Kamera an.
„Halt das Ding gerade“, fauchte der Meister einen seiner Hilfen an, der ein weißes Tuch zwecks Reflexion hielt. Dem armen Jüngling lief fast der Sabber aus dem Mund. Das Model war aber auch ein echter Hingucker.
„Bitte nicht weiter, Sir!“
Der Schwarze sah einen sehr jungen und schmächtigen Mann vor sich stehen.
„Ich habe eine Nachricht für das Modell, und es ist wichtig“, sagte der Schwarze.
Der Junge vor ihm atmete durch. Sein Gefühl sagte ihm, dass der Schwarze die Wahrheit sagte, und gleichzeitig versprühte dieser eine solche Autorität, dass seine Stimme zitterte: „Der Meister ist gleich fertig. Ich werde Claire dann Bescheid geben.“
Der Schwarze nickte fast unmerklich und blieb dann stehen. Aufatmend zog sich die Hilfe zurück.
Tatsächlich dauerte das Shooting noch zwanzig Minuten, dann wurde der Schirm eingezogen, die Spiegel verschwanden und das Model entspannte sich. Der junge Mann, der eben noch mit dem Schwarzen gesprochen hatte, brachte Claire einen leichten Morgenmantel, in den sie sich sofort hüllte. Dann zeigte der Junge auf den Schwarzen. Claire sah zu diesem und nickte. Dann setzte sich sie langsam in Bewegung. Auch der Schwarze ging auf sein Ziel zu. Nun kam der Schwarzgekleidete schneller voran, weil mit Stöckelschuhen über Rasen zu laufen nicht ganz einfach ist. So stand der Schwarze bald im Einflussbereich des Fotografen und sprach das Model an. „Claire Dumont?“
Die Französin lächelte charmant und bestätigte mit Akzent: „Das bin isch.“
Bevor der Schwarze weiterreden konnte, stand wie hingezaubert, der Meister mit schussbereiter Kamera vor ihnen: „Das ist es, das ist es! Los, Claire, zieh den Mantel aus. Mon dieu, welch ein Kontrast! Wer hat denn das Model in diesem Aufzug geschickt?“
Der Meister war begeistert und schaute durch die Kamera, um eine besondere Perspektive einzufangen. Dann sah er schwarz. Der dunkle Mann hatte seine Hand auf das Objektiv gelegt.
„Nein“, sagte er nur.
„Aber das ist doch das Größte, von mir …“
„ Nein “, wiederholte der Schwarze lauter. „ Keine Fotos! “
„Aber ich bin der berühmte Fotograf …“
„Ein Foto, und ich nehme deine Ausrüstung mit“, sagte der Schwarze zwar wesentlich leiser, aber trotzdem mit Nachdruck.
Der Meister verlor Farbe im Gesicht und trat den Rückzug an.
Der Schwarze wandte sich an das Modell: „Admiral Winter schickt mich. Treffen am 05.08.2059 um 11:00 Uhr im Training Center Isle of Man. Und es handelt sich nicht um eine Übung.“
„Isch ’abbe verstanden“, sagte Claire Dumont.
„Damit ist mein Auftrag erfüllt“. Der Schwarze deutete eine kleine Verbeugung an, dann drehte er sich um und verließ das Set.
03.08.2059, 11:00 Uhr, Nettelbrück (Benelux):
(Hinweis: Die Länder Luxemburg, Belgien und Niederlande hatten sich im Jahre 2040 zum Staat Benelux zusammengeschlossen, um der gemeinsamen Probleme betreffend das Hochwasser besser begegnen zu können. Selbstverständlich gehörten sie der United Alliance West an.)
Max Anderbrügge fühlte sich alles andere als wohl in seiner Haut. Der breitschultrige und mit 179cm ziemlich bullig erscheinende 47-Jährige mit dem raspelkurzen und deutlich wenigen Haaren stand hier mitten im Wald, und das nicht allein – sonst wäre es eventuell noch gegangen. Ein Laienprediger oder Trauerbegleiter etwa 20 Meter vor ihm sprach ein paar einfühlsame Worte über den Verstorbenen. Es war der einzige Sohn eines Paares, welches gram- und schmerzgebeugt vorn in der ersten Reihe stand. Auf einem Tischchen stand eine Urne. Es handelte sich hier um ein Waldbegräbnis und die Einäscherung hatte bereits vor ein paar Tagen stattgefunden. Neben einer stattlichen Eiche war ein Loch gegraben worden und war dazu bestimmt, die Urne aufnehmen. Rund 150 Trauergäste nahmen teil. Darunter auch jemand, der hier und heute aufgrund der Besonderheit nicht auffiel. Ein Mann im schwarzen Anzug mit Sonnenbrille. Er ging als normaler Trauergast durch.
Max Anderbrügge kämpfte mit sich, ob er nach der Rede sein persönliches Beileid ausdrücken sollte. Je weiter der Trauerredner da vorn mit seinen Ausführungen voranschritt, desto dringender wurde Max Entscheidung. Schließlich rang er sich dazu durch. Alles andere wäre feige, zu diesem Schluss war er gekommen.
Dann war es so weit. Der Trauerredner wünschte dem Verstorbenen eine gute Reise auf dem letzten Weg, dann trat er ab. Eine junge Dame ließ mittels einer Kordel und unzähligen Tränen die Urne ins Loch hinab. Ein Anblick, bei dem sich etwas tat bei Max Anderbrügge. Mit gesenktem Kopf und demütig kondolierte Max Anderbrügge als einer der Letzten bei den Eltern des 25-jährigen Verstorbenen. So jung. Das ganze Leben lag noch vor ihm.
Weder Vater noch Mutter sagten etwas zu ihm. Die junge Frau, die auf eigenen Wunsch die Urne in den kühlen Waldboden hinabgelassen hatte, war die Verlobte des Toten gewesen. Sie sah Max Anderbrügge einfach nur an. Er hob für einen Moment die Augen und er wusste, dass er diesen Blick nie vergessen würde.
Und so stand Max Anderbrügge noch dort im Wald, als alle anderen schon gegangen waren – bis auf einen Herrn mit Sonnenbrille. Er stand plötzlich neben Anderbrügge, der noch immer auf die Erde schaute, mit der alle Beteiligten, auch er, die Urne zugeschaufelt hatten.
„Wissen Sie, was das Schlimmste an meinem Beruf ist?“
„Nein“, sagte der Fremde.
„Sie haben studiert, Sie haben Erfolg, Sie betreuen jemanden. Es vertraut sich jemand Ihnen an. Und es wird Ihnen jemand anvertraut und dann, dann läuft er Ihnen aus dem Ruder. Gleitet Ihnen durch die Hände wie feiner Sand. Und dann ist er tot. Und mit dem Tod, dem Freitod, bin ich gescheitert. Und diese Tatsache des Totseins ist so absolut, und niemand kann diesen Menschen wiederbringen. Eine wirklich endgültige Sache und ich fühle mich schuldig – und bin es in den Augen anderer wahrscheinlich auch.“
Der Fremde sagte nichts, harrte aber neben Max Anderbrügge aus.
„In welchem Verhältnis standen Sie zu dem Toten?“, fragte Anderbrügge schließlich.
Der Fremde räusperte sich: „In gar keinem.“
Max wurde aufmerksam: „Und warum sind Sie hier?“
„Ich überbringe Ihnen die Nachricht von Admiral Tony Winter, dass er Sie am 05.08.2059 um 11:00 Uhr im Space Training Center auf Isle of Man erwartet. Das ist keine Übung.“
Max Anderbrügge schien nicht überrascht. Er sah seinen Gesprächspartner an. „Ich werde da sein.“
„Dann ist mein Auftrag hiermit erfüllt.“
Der Schwarzgekleidete drehte sich um und ging den Weg, der ihn aus dem Wald führte.
Anderthalb Stunden später traf Max Anderbrügge in seiner Praxis ein. Seine Mitarbeiterin, ebenfalls Psychologin, erwartete ihn bereits: „War es schlimm, Max?“
„Ja, das war es“, sagte er und rauschte weiter in sein Büro und machte die Tür zu. Er entnahm einer Schublade seines Schreibtisches ein Dokument und setzte ein Datum ein. Dann unterschrieb er es. Er griff zum Telefonhörer und rief seine Kollegin im Nachbarbüro an: „Lilly, komm bitte mal. Danke!“
Ein paar Sekunden später öffnete sich die Tür und Lilly stand im Rahmen.
„Komm, setz dich“, sagte Max. Lilly setzte sich vor den großen Schreibtisch ihres Chefs. Er reichte ihr das soeben unterzeichnete Dokument.
„Was ist das?“
„Eine Schenkungsurkunde. Ab sofort gehört dir diese Praxis.“
„Aber …“
„Du bist eine tolle Psychologin und wahrscheinlich besser als ich. Jemand soll diese Praxis weiterführen. Ich werde es nicht sein. Das ist jetzt dein Part. Meinen Glückwunsch, liebe Lilly. Ich weiß, du träumst da schon lange von, hier ist deine Chance. Du warst mir jahrelang eine gute Mitarbeiterin. Hier ist dein Extra-Lohn. Ich bin raus.“
Lilly saß dort mit offenem Mund und wusste nicht, wie ihr geschah.
Max Anderbrügge packte seine Aktentasche, stand auf, ging um den Schreibtisch und küsste Lilly auf die Stirn: „Tschüss, Lilly.“
Dann verließ Max Anderbrügge seine Praxis, die nicht mehr seine war.
03.08.2059, 14:30 Uhr, Amerika, Kansas, Nähe Topeko:
Es war heiß – und nicht nur das. Geradezu schwül und im Gegensatz zu sonst ruhte bei den Temperaturen selbst der Wind. Jedes normal denkende oder fühlende Lebewesen hielt sich in der Nähe eines Sees, Flusslaufes oder einer Getränkebude auf.
„ Au, ooh “, skandierten die Zuschauer beim Training des Nationalen Cart Speed-Teams. Etwa 30 Piloten fuhren mit atemberaubender Geschwindigkeit und mit etwa 9,5cm Luft unterm eigenen Hintern den Parcours entlang. Driften war angesagt in den Kurven, aber nicht überschlagen. Und genau das hatte soeben einer der Piloten geschafft und das gleich mehrfach. Zwar verfügten die PS-starken Miniboliden über eine entsprechende Sicherung, damit es den Piloten in diesen Fällen nicht gleich den behelmten Kopf weghaut, aber trotzdem war nahezu immer mit Verletzungen zu rechnen. Daher standen die etwa 80 Trainingsbesucher auf und applaudierten pflichtschuldigst, als der Pilot unter seinem Fahrzeug hervorkroch. Etwas irritiert war man dann doch, als dieser seinen Helm abnahm und diesen dann mit Wucht auf den heißen Asphalt schmetterte. Der Fehler lag eindeutig beim Fahrer und nicht beim Helm. Er selbst hatte sein Fahrzeug seitlich gegen eine Reihe von Curbes gesteuert, und so blieb der Physik eigentlich nichts anderes übrig, als das Fahrzeug mehrfach um die eigene Längsachse zu drehen. Lautes Gefluche war trotz des Dröhnens der Motoren zu hören. Der Pilot winkte heftig, heftiger als man das bei den Temperaturen eigentlich machen sollte. Dann ging auch noch sein Cart in Flammen auf. Hastig stellte der Mann seine Verwünschungen ein und machte Platz für zwei mit Feuerlöschern heraneilende Streckenposten, die das Fahrzeug samt Feuer großflächig einnebelten. Auf einer Nebenstrecke kam ein Pickup herangeeilt, und der Fahrer bemühte sich, in dessen Nähe zu kommen. Das Fahrzeug hielt und er kletterte auf das Heck.
Die Zuschauer jubelten anschließend dem vorbeifahrenden Fahrer zu, hatte er doch für eine interessante Abwechslung gesorgt. Der Fahrer selbst würdigte die Zuschauer keines Blickes. Man sah einen etwa 180cm großen Mann mit gewellten, jetzt schweißnassen, braunen Haaren sowie kurzem Vollbart und einer 15 auf dem brandfesten T-Shirt. Wenn man anschließend eifrig im Programmheftchen blätterte, erfuhr man, dass der Mann 32 Jahre alt war. Amerikaner – keine Überraschung, und auf den Namen Steven Huxley hörte. Das sympathische Gesicht daneben, lächelnd, mit grünen Augen, passte nicht so ganz zu seinem Verhalten auf der Cartbahn.
Es gab noch eine weitere Attraktion und die saß, beziehungsweise stand im Publikum selbst. Man wird es erraten, schwarz gekleidet und Sonnenbrille. Kopfschütteln erntete der Mann, obwohl Amerika, was das Outfit anbetraf, absolut tolerant war. Hier ging man richtigerweise davon aus, dass ein solcher schwarzer Anzug klimatisiert sein musste, sonst würde der Träger nach mindestens 30 Minuten ins Koma fallen. Aber ein solcher Anzug war teuer und derlei Träger fand man eher nicht auf Cart-Bahnen. Dieser war aus seiner Beobachterrolle ein wenig herausgefallen, als es zu dem Unfall mit besagtem Steven Huxley gekommen war. Er bewegte sich in Richtung der Boxengasse. Da man es von hier näher zur Gasse hatte, eigentlich viel näher, konnte er womöglich die Cart-Basis von Huxley zur gleichen Zeit wie der Fahrer selbst erreichen.
Der Schwarze erreichte die Boxengasse kurz vor dem Pickup mit Steven Huxley. Heute war Besuchertag und die Gasse offen auch für normale Zuschauer – von einigen Bereichen mal abgesehen.
Huxley sprang vom Pickup und sah in das sonnenbrillenverzierte Gesicht des Schwarzen.
„Was ist?“, fragte Huxley nicht gerade freundlich und drehte sich um und brüllte in seine Box: „ Ich brauch ’ne neue Karre! “
Der Schwarze räusperte sich und dann war Huxley wieder bei ihm: „Ich frage mich, ob die Berufsbezeichnung ‚Astronaut‘ wirklich passt zur Gefährlichkeit dieses Tuns hier, Mr. Huxley? Ich denke, Admiral Winter könnte das missfallen, wenn einer seiner Astronauten wegen sowas hier unfallbedingt ausfällt. Es war ja eben nicht ganz weit entfernt davon.“
War Huxley sowieso schon kein Typ, der sich besonders beherrschen konnte, so drehte er jetzt völlig am Rad. Mit zwei Schritten kam er auf den Schwarzen zu und tippte ihm auf die klimatisierte Brust: „Das ist mir scheißegal! Sag das deinem Chef. Ich habe gerade noch auf son’ Sakkoäffchen wie dich gewartet, das bei mir Amme spielen will!“
Huxley drehte sich wieder herum: „ Wo bleibt die Karre? “
Im Hintergrund wurde man nervös und einige Helfer rannten durcheinander.
Der Schwarze blieb dazu im Gegensatz cool – wie sein Anzug: „Ich werde derlei Aktivitäten weitermelden müssen, Mr. Huxley.“
„Petze, Petze, Petze“, machte Huxley. „Ihr könnt mich gern am Arsch lecken, wenn das hilft.“
„ ’ne Karre hierhin! Das Training ist gleich zu Ende, ihr Lahmarschies! “
Der Schwarze ließ sich immer noch nicht aus der Ruhe bringen: „Am 05.08.2059 um 11:00 Uhr hat Admiral Winter ein Treffen der A-Crew im Space Training Center auf Isle of Man angeordnet. Es ist keine Übung.“
„ Ja, und? “
„Haben Sie das verstanden, Mr. Huxley?“
„Ich bin ja nicht blöd. 5.8. um 11 auf der Regeninsel! KARRE! “
„Dann ist mein Auftrag erfüllt“, sagte der Schwarze, drehte sich um und verließ die Cart-Bahn.
„ Und ’nen neuen Helm brauch’ ich auch! Bewegt euch! “
03.05.2059, 10:30 Uhr, Bolivien, Potosi, Zentralkrankenhaus:
Professor Emre Horn, Leiter des Zentralkrankenhauses von Potosi verstand die Welt nicht mehr, wenn er seine Tochter sah. Und das war jetzt der Fall. Die 45-Jährige stand in seinem Besprechungszimmer. Ein wahres Vollweib, wie ihre Mutter damals. Emre hatte diesen Typ Frau für sich entdeckt und nicht eher Ruhe gegeben, bis Laras Mutter ihm das Jawort gegeben hatte. Lara war das Abbild ihrer leider bereits verstorbenen Mutter. Braune Augen, halblange und ebenfalls braune Haare, temperamentvoll und überall ein klein bisschen mehr über den Body-Mass-Index hinaus. Dazu meistens ein breites Lächeln, okay – der Mund war etwas größer, mit sinnlichen Lippen. Emre war ein Fan solcher Frauen und von seiner Tochter sowieso. Dabei brauchte sich der Verstand hinter den körperlichen Vorzügen nicht zu verstecken. Lara war Dr. med. und praktizierte in dem Krankenhaus, welches er leitete. Und sie hatte keinen Mann – nicht mal einen Freund. Nein, hatte sie ihm gesagt, sie war nicht abgeneigt. Es war nur noch nicht der Richtige gekommen. Emre sah sich schon unbewusst nach weißen Pferden um. Bewerber gab es hier im Krankenhaus schon reichlich. Auch von jüngeren Männern. Und bei seinem einzigen Kind – verdammt noch mal, er wollte auch mal Opa werden. Konnte doch nicht so schwer sein, einen vernünftigen Mann zu finden.
„Wir müssen Joseph operieren, Vater“, sagte die Tochter und holte ihn aus seinen Traumvorstellungen.
Der 70-jährige Emre seufzte und verscheuchte die Bilder einer schwangeren Lara aus einem Hirn: „Wir operieren am offenen Schädel, mein Kind.“
Laras Augen sprühten sofort Blitze: „Vater, du sollst mich nicht ‚mein Kind‘ nennen, wenn wir beruflich miteinander reden!“
„Du sagst doch auf Vater zu mir!“
„Das ist was anderes!“
„Ach!“ Emre lächelte. Er liebte seine Tochter, wenn sie ihm widersprach. Sie war genauso gefühlsbetont und bisweilen unlogisch wie ihre Mutter.
„Professor Horn. Wir müssen operieren“, Lara warf ihren Kopf hoch.
„Wenn wir es vermasseln, Doktor Horn?“, stieg Emre auf die Benennungen ein.
„Was ist die Alternative, Professor Horn? Ein 30-jähriger Mann wird in ein paar Monaten in Siechtum verfallen und wegen des wachsenden Tumors seine Kinder nicht mehr erkennen. Ganz zu schweigen davon, dass niemand diese Kinder ernähren wird, Professor Horn!“
„Du bist wie deine Mutter, mein Kind. Ich bin stolz auf dich und bin dankbar für die Zeit, die ich mit einer so tollen Frau hatte.“
Lara war von einem Augenblick zum anderen emotional so gefangen, dass sie dem Vater die Bezeichnung ‚mein Kind‘ unwidersprochen durchgehen ließ.
Emre hob seine Hände: „Diese Hände sind nicht mehr gut genug für eine solche OP, Lara. Mein Rücken wird eine stundenlange OP auch nicht klaglos überstehen. Wer soll operieren, Lara?“
„Ich werde das tun, Dad, ich.“
Emre schaute seine Tochter an: Stolz stand sie dort – voller Selbstvertrauen und mit durchgedrückter Brust. Es ist immer das erste Mal, dachte er. Und kein Zeitpunkt ist der ideale. Aber dieser Patient konnte beim kleinsten Fehler sterben. Konnte seine Tochter da auch mit umgehen, wenn ihr die OP misslang? Ich will meine Tochter schützen, dachte Emre. Konnte er das immer und überall? Nein, das konnte er nicht.
Seine Sprechanlage meldete sich und Emre ging hinter seinen Schreibtisch und öffnete die Kommunikation: „Ja?“
„Professor, hier ist ein Herr, der Ihre Tochter sprechen möchte. Ich bitte um Entschuldigung, aber er machte es sehr dringend. Da ich von Ihrer Besprechung weiß, dachte ich, dass …“
Lara winkte und nickte dazu.
„Wir lassen bitten“, sagte Emre und unterbrach den Kontakt.
Minuten später ging eine Tür auf und ein Mann im schwarzen Anzug mit einer Sonnenbrille stand fast übergangslos im Raum.
„Sie wollten zu mir?“, fragte Lara.
„Sind Sie Dr. Lara Horn?“
„Die bin ich.“
Der Schwarze sah kurz auf Emre.
„Sprechen Sie, egal was es ist. Dort steht mein Vater. Ich habe keine Geheimnisse vor ihm.“
Der Schwarze nickte kurz: „Wie Sie meinen. Admiral Tony Winter bittet Sie am 05.08.2059 um 11:00 Uhr ins Space Training Center nach Isle of Man. Es ist keine Übung, M’am.“
„Ich habe verstanden“, sagte Lara und wurde blass.
„Dann ist mein Auftrag erledigt“, sagte der Schwarzgekleidete und verließ das Büro.
Vater und Tochter sahen sich an.
„Dad …“, begann Lara, aber der alte Horn wusste, dass der größte Wunsch seiner Tochter die Raumfahrt war. Sie hatte eine komplette Astronautenausbildung hinter sich und die UAW hatte nicht mit Spenden für sein Krankenhaus gegeizt, damit der Ausfall von Dr. med. Lara Horn ausgeglichen werden konnte. Diesbezüglich würden auch dieses Mal wieder reichlich Gelder fließen. Aber, verdammt noch mal, wie sollte sie denn einen Mann im All kennenlernen? Als Raumfahrerin war sie wahrscheinlich die Älteste dabei, und wer war in diesem Ensemble von Halbverrückten und Lebensmüden schon ein geeigneter Kandidat, um ihn zum Opa zu machen?
„Der 5.8. ist übermorgen, mein Kind. Du solltest die OP vorbereiten und ein Team zusammenstellen“, sagte Emre. „Du willst doch noch operieren, Lara, oder?“
Lara nickte: „Das will ich.“
Eine Stunde später:
„Du hast dich von deiner Familie verabschiedet, Joseph?“
Ein sehr blasser, aber auch gefasster junger Mann sah zweifelnd an ihr hoch. Er lag bereits auf der OP-Liege und war vorbereitet. Er nickte.
„Du wolltest von meinem Vater operiert werden, stimmts?“
Joseph nickte.
Lara lächelte schmerzlich: „Sieh es mal so, Joseph. Die Augen meines Vaters sind nicht mehr die besten. Seine Hände sind nicht mehr die ruhigsten und sein Rücken erlaubt es ihm nicht mehr, länger als eine Stunde zu stehen. Ich habe alle Eigenschaften eines guten Operateurs von meinem Vater geerbt. Ich besitze sie noch. Möchtest du immer noch von ihm operiert werden?“
Joseph schüttelte den Kopf.
„Die OP ist nicht ohne Risiko. Das weißt du, mein Vater, ich und deine Familie, Joseph. Ich kann dir nur versprechen, dass ich mein Möglichstes tun werde. Du hast keine andere Chance, Joseph.“
Der Mann zitterte sichtlich und Lara legte ihm eine Hand auf die Brust: „Ich schaffe das.“
Lara holte Luft, dann: „Anästhesie. Wir beginnen.“
Fünf Stunden später:
Die Operation war geglückt. Lara hatte mit kühlem Kopf und ruhiger Hand die Instrumente geführt. Komplikationen hatte es keine gegeben. Der Tumor lag in einer der Schalen für eine weitere Untersuchung bereit. Ob der Patient aber auch Stunden später aufwachen würde, bekam Lara nicht mit. Ihr Flug würde morgen früh gehen und das künstliche Koma würde noch mindestens vier Tage den Gesundungsprozess unterstützen.
„Ich wusste, dass du es schaffst“, sagte Emre. Er hatte per Video die OP verfolgt und war entsprechend stolz auf Lara. Vater und Tochter lagen sich in den Armen.
„Mach es gut, mein Kind. Sei vorsichtig. Es ist kalt und dunkel im Weltraum – und einsam.“
02.08.2059, 22:30 Uhr, Spanien, Toledo, Teil einer Lagerhalle:
„Wir sind bereit, la Comisaria“, sagte ein Unterführer der Polizeieinsatzkräfte zu Elana Gomez. Die Spanierin, 168cm groß, dunkle Augen, braune und kurze Haare mit Seitenscheitel, nickte ihm zu. Sie sagte nichts, und in ihrem ausdrucksstarken und breiten Gesicht bewegte sich kein Muskel. An diesem Fall hatten sie und ihre Kollegen seit Monaten gearbeitet. Diese provisorische Einsatzzentrale war in aller Heimlichkeit eingerichtet worden. Der Besitzer hockte noch für etwa elf Jahre im Zentralgefängnis von Toledo und so war von dieser Seite kein Einspruch zu erwarten. Aber es ging nicht um diese Location, sondern um eine weitere Halle, die etwa drei Kilometer von dieser entfernt war. Elana und ihre engsten Mitarbeiter hatten sich für eine Aktion außerhalb der eigentlichen Räume der Policia Nacional entschieden. Der Grund war ein Maulwurf, der solche Aktionen immer wieder an die Gegenseite verriet. Mittlerweile glaubte Elana zu wissen, wer dieser Maulwurf war. Es handelte sich nach ihrer Vermutung um Hoche Galvarez, vom Rang sogar noch höher als sie selbst. Sie sollte also schon eindeutige Beweise haben, wenn sie ihn ans Messer liefern wollte. Sie hatten nur ihre engsten Mitarbeiter dabei, und die Eingreiftruppe aus schwer bewaffneten Polizisten kamen aus allen Teilen Spaniens, nur eben nicht aus Toledo.
Elana Gomez saß vor einer Reihe von Bildschirmen, die sie nach und nach einschaltete. Sie hatten den Tipp von einem der beteiligten Gauner bekommen. Dafür hatten sie sein Strafregister gelöscht und ihm eine neue Identität gegeben. Ein Chirurg und ein Zahnarzt hatten anschließend dafür gesorgt, dass ihn seine eigene Mutter nicht wiedererkennen würde. Mit einer neuen Identität bekam der Mann in einer anderen Region Spaniens eine 2.0-Chance. In einer bemerkenswerten Aktion hatten Spezialisten der Polizei Mini-Kameras und Mikrofone in allen Bereichen des Treffpunktes installiert. Elana war also live dabei, wenn sich die Vertreter der Mafiosa trafen und Rauschgift und Waffen übergaben. Insgesamt ermittelte man im Bereich Menschenhandel, Prostitution, Glücksspiel, Rauschgifte aller Art und Waffenhandel bis hin zu Kriegswaffen. Keine Kavaliersdelikte also und heute Nacht war die Nacht der Nächte – für die Policia Nacional. Wenn Comisaria Elana Gomez den Einsatz nicht in den Sand setzte.
Sie war die Leiterin dieser Aktion.
Und die Policia Nacional war gefürchtet – zumindest unter Kriminellen. Bei Hinweisgebern konnte sie geradezu gönnerhaft agieren, unbeugsame Straftäter im Bereich der Gewaltkriminalität bekamen die volle Härte zu spüren. Und niemand machte da groß Federlesens. Und die Richter Spaniens waren da ganz klar auf der Seite der Polizei. Und wenn die Polizei irgendwo in diesem Sektor zuschlug, dann wuchs da jahrelang kein Gras mehr. Die eingeschalteten Monitore übertrugen die Bilder der restlichtverstärkten Kameras und Drohnen. Sie spiegelten sich in den dunklen Augen der Einsatzleiterin. Sie schaltete nach und nach alle Kameras durch. Noch war Ruhe und das Treffen sollte nach Auskunft des Informanten 15 Minuten vor Mitternacht beginnen. Drohnen mit Hochleistungskameras schwebten in großer Höhe und beobachteten das Umfeld. Elana hatte einen verlässlichen Kollegen mit der Observation des Umfeldes betraut. Er würde sich melden, wenn sich etwas tat.
„Einen Kaffee, Comisaria“, sagte einer ihrer Mitarbeiter und stellte einen dampfenden Becher vor ihr auf den Tisch. Sie dankte mit einem Kopfnicken. In das schöne und dennoch unbewegte Gesicht von Elana Gomez konnte man alles hineininterpretieren. Diese Frau war undurchsichtig und nicht einfach einzuordnen – jedenfalls nicht bei einer Momentaufnahme.
Elana lehnte sich im Sitz zurück. Den Kaffeebecher setzte sie vorsichtig auf die Lehne und hielt ihn mit einer Hand fest. Das hier war, wenn man es so ausdrücken wollte, ihr ziviler Job. Lediglich der Chef der Policia Nacional in Toledo wusste, dass Elana Mitarbeiterin der UAW war und jederzeit abberufen werden konnte. Womit sich seine Mitarbeiterin bei der UAW beschäftigte, blieb ihm verborgen, und er tat gut daran, nicht allzu neugierig zu sein.
23:30 Uhr:
Elanas Mitarbeiter, der das Umfeld beobachtete, meldete sich 15 Minuten vor dem Treffen.
„Es tut sich was, Comisaria. Es fahren Autos in der Gegend herum. Sie scheinen unsere Halle als Ziel zu haben.“ Er hatte leise gesprochen, obwohl bis dahin das wohl kaum jemand hören würde. „Nächste Meldungen per Funk!“
Elana nickte ihm zu und er entschwand wieder in Richtung seiner Monitore. Elana schaltete ihr kleines Funkgerät am Gürtel ein. Das Mikro war in ihrem Kragen verborgen.
Der Vor-Ort-Einsatzleiter hatte das mitbekommen: „Ich bin los, Comisaria – Rufname Gato.“
Elana hob eine Hand. Sie hatte verstanden und war einverstanden.
Während der kurzen Trainingsphase hatten sich alle Führungskräfte darauf einstellen können, dass Elana am liebsten überhaupt nicht redete. ‚Gato‘ beeilte sich, möglichst unauffällig zu seinen Einsatzkräften zu gelangen.
Elana beobachtete über die Kameras, dass Personen zu Fuß kamen, ein paar wenige mit Autos und einer zog sogar einen Karren hinter sich her – getarnt als Obdachloser. Hatte sie da irgendwo den Maulwurf gesehen? Wer die spanische Polizei zu diesem Zeitpunkt kannte, der wusste, dass Ziel Nummer Zwei, Ausschaltung des internen Verräters bei manchen höher stand, als Ziel Nummer Eins. Elana hatte kein Glück bei dieser Suche. Die Verdächtigen waren sehr bemüht, durch Kapuzen und Hüte, Mützen und Kappen, nicht allzu viel von ihrem Gesicht zu zeigen.
Der erste Ganove betrat die Halle. Der Informant hatte nicht gelogen. Mit einem Fingerdruck schaltete Elana die finanziellen Mittel frei, die dem Hinweisgeber den Start in ein neues, unbelastetes Leben, ermöglichen sollten.
Mit dem zweiten Fingerdruck schaltete sie alle Aufzeichnungsgeräte ein.
Nichts von dem, was bis zum Zugriff passierte, würde ungespeichert bleiben. Beim Einschreiten der Policia Nacional selbst würden die Kameras und Mikros abgeschaltet – aus gutem Grund.
„Sie betreten die Halle“, meldete die ‚Übersicht‘.
„Ich hab’ sie“, funkte Elana zurück. „Gato?“
Man hörte heftiges Atmen: „Ich brauche noch zwei Minuten.“
„Langsamer“, verlangte Elana. „Wir brauchen eine ruhige Hand und wir haben Zeit.“
„Verstanden.“
Innerhalb der Halle gab es einen riesigen Raum. Aus drei verschiedenen Richtungen waren sogar Zufahrten mit Pkw möglich. Der erste Ganove hatte es vermieden, Licht einzuschalten. Dafür hatte er drei Rolltore hochgefahren, wo jetzt die Fahrzeuge, ohne Licht, einfuhren. Eines der Fahrzeuge knallte gegen ein Regal und man hörte ohrenbetäubenden Krach, als das Ding mit voller Last zusammensackte und umstürzte. Elana regelte hastig die Lautsprecher herunter. Als der Krach vorbei war, stufte sie die Empfindlichkeit der Mikros wieder hoch. Der Fahrer des Unglücksautos wurde ausgeschimpft und als ‚Blindfisch, bezeichnet. Einer der Gangster fuhr die Rolltore wieder herunter, dann wurde es interessant – man machte Licht.
Elana pfiff leise durch die Zähne. Sie hatte Hoche Galvarez wiedererkannt, und wie er dort stand, spielte er keinesfalls eine untergeordnete Rolle. Es standen etwa zehn Personen im Kreis, dann wurde ein Pkw mit dem Heck voran auf diese Gruppe zugefahren und hielt kurz davor. Einer der Umstehenden öffnete den Kofferraum und zog wenig sensibel einen gefesselten Mann daraus hervor.
Offenbar wurde dieser als Verräter bezeichnet. Ausgerechnet Hocke Alvarez zog eine Waffe und streckte den Gefesselten mit drei Schüssen nieder.
Es knallte bei Elana ganz gut und sie zuckte mit keinem Lid. Ein Mord durch den Maulwurf machte sich im Bericht gar nicht schlecht. Dann hörte sie zu. Es wurden Absprachen getroffen zum Thema Prostitution, Gebietsaufteilungen, Verkäufe der Nutten wurden getätigt, dann kam ein zweites Fahrzeug und man präsentierte stolz einen ganzen Kofferraum voll Rauschmittel.
„Gato?“
„Wir sind bereit, Comisaria!“
„Zugriff!“ Im gleichen Atemzug schaltete Elana die Aufzeichnung aus.
Sie sah auf einem der Monitore, dass ein Rolltor in einem Bereich rot glühte. Sie regelte die Helligkeit herunter. Durch das entstandene Loch flog eine Granate mitten zwischen die Gangster. Elana hörte einen Warnruf, aber der kam natürlich zu spät. Es handelte sich um eine Blendgranate und selbst das Schließen der Augen schützte nicht davor, in den nächsten Minuten nichts mehr sehen zu können. Fast im gleichen Augenblick wurden die drei Rolltore mehr oder weniger weggesprengt. Die Gangster begannen zu schreien, dann rannten schwer bewaffnete Polizisten in die Halle und schlugen die Ganoven nieder, andere fesselten sie.
„Hier Gato. Einsatzort gesichert!“
„Wir kommen“, sagte Elana und sprang auf. Einer ihrer Mitarbeiter rannte aus der Halle heraus und sprang in ein Auto. Sie nahm hinten Platz. Es war erforderlich, dass sie so schnell wie möglich am Einsatzort war. Im Moment galt es, die Situation auszunutzen.
Unter starkem Schutz rannte Elana wenig später in die Treffpunkthalle. Sie sah auf der rechten Seite wie einer der Mitglieder der Policia Nacional zwei jüngere Bandenmitglieder in der Mangel hatte. Sie standen gefesselt und festgebunden an einer Wand. Der Polizist schrie einen der beiden an: „Wo ist euer Hauptquartier?“
„Ich sag’s nicht, ich sag’s nicht“, bibberte der Angesprochene voll Angst.
Der Polizist lächelte: „Du willst leben, ja? Genau wie dein Freund hier, ja?“
Der Junggangster zitterte: „Ja!“ Es fehlte nicht viel und hätte angefangen zu heulen.
Der Polizist zog eine Waffe und schoss dem anderen Gangster aus kurzer Entfernung direkt in den Kopf. Nicht mal schreien konnte dieser. Er hing nach dem heftigen Einschlag leblos an seinen Fesseln.
„Direkt zu beneiden. So ohne Schmerzen. Dir schieße ich erst einmal die Eier ab!“
„Nein, nein, nein“, schrie der Gefangene in höchster Not, als ihm der Polizist die Pistole in den Schritt drückte.
„Ich höre“, sagte der Polizist.
Der Gepeinigte sagte irgendeine Adresse. Elana bekam das mit und zückte ein Pad. Der Polizist war auf sie aufmerksam geworden und sah zu ihr. Sie tippte die Adresse ein.
„Passt“, sagte sie nur, als sie den Besitzer und das Anwesen angezeigt bekam. „Gut gemacht.“
Sie funkte anschließend mit einer Hubschrauberbesatzung und gab die Koordinaten durch. Dann ging sie weiter.
Im Norden von Toledo stieg ein superleiser Helikopter auf. Der Pilot tippte die Koordinaten in seine NAV-Hilfe ein, dann zog er den Flightstick zu sich. Der Heli gewann brummend an Höhe. Die Restlichtverstärkung projizierte die Umgebung in grünen Umrissen auf die Kanzel.
„35 Kilometer“, sagte der Pilot zu seinem Gunner, der vor ihm saß.
„Koordinaten überspiele ich dir.“
„Raketen scharf“, meldete der Gunner.
„Ups, ich habe schon die zweiten Koordinaten. Ich brauche den Heli nur schwenken“, sagte der Pilot.
„Wir haben genügend Munition“, knurrte der Gunner.
Im Abstand von fünf Kilometern, die 30 Kilometer waren übrigens schnell überwunden, stand der Spezialheli still in der Luft.
„Rakete Eins, Zwei, Drei und Vier Feuer!“, sagte der Gunner, dann sah der Pilot vier Antriebsstrahlen leuchten, die seitlich aus den Waffenkästen kamen. Sie schossen auf eine Villa epischen Ausmaßes zu – die des Paten von Toledo. Die Vernichtungswaffen explodierten im Haus und rissen alles in den Untergang. Des Paten Frauen, Kinder, Verwandte, Bedienstete, alle starben in diesem Inferno. Zurück blieben nur brennende Asche und ein Riesenloch. Und kaum waren die Raketen abgefeuert, als sich der Heli schon drehte und der Gunner in eine andere Richtung feuerte. Vier Kilometer entfernt wurde eine ähnliche Villa in die Luft gesprengt. Kollateralschäden nahm die Policia Nacional dabei billigend in Kauf.
Am eigentlichen Treffpunkt war Elana Gomez mit dem Ergebnis ihrer wochenlangen Recherche und Observation sehr zufrieden. Der Maulwurf, Ziel Nummer Zwei, war ebenfalls gefasst. Allerdings gab es noch einen dummen Zwischenfall. Einer der Gefangenen musste ein Enkel oder Urenkel von Harry Houdini, dem Entfesselungskünstler, sein, denn er hatte die Handfesseln abstreifen können und riss einem der Polizisten die Faustfeuerwaffe aus dem Gürtel und nahm ihn als Schutzschild und Geisel.
Elana sah das Ganze von der Seite. Wer die Frau beobachtete, konnte sehen, wie sie sich herumdrehte, dabei den Revolver vom Gürtel riss, ins Ziel ging und abdrückte – alles in einer Bewegung. Ein 357 Magnum-Projektil verließ den Lauf und bohrte sich nach knapp 12 Metern in die Schläfe des Ganoven. Sie durchpflügte das Gehirn und verließ, wobei sie eine gehörige Masse Hirn und Schädelknochen mitnahm, auf der anderen Seite den Kopf des jetzt bereits Toten. Haltlos klatschte die Leiche auf den Boden. Elana steckte die Waffe weg und zeigte mit dem Finger auf die Geisel. Mehr tat sie nicht, aber der Sinn war klar: Aufpassen, und zwar besser aufpassen. Die Geisel nickte mit offenem Mund. Und alle anderen waren wie erstarrt. Sie hatten noch überlegt, was man tun könne, als Elana schon schoss.
Das Gesicht der Comisaria zeigte keine Gefühlsregung. Mit weiträumigen Schritten durchmaß sie die Halle und gelangte dorthin, wo man den Maulwurf mit einer Handschelle an eine Öse der Wand fixiert hatte. Der Mann hatte Angst. Er wusste, was ihm bevorstand. Er hatte sich eingeschissen und eingenässt.
Elana hielt Abstand – auf diese Gerüche war sie nicht scharf: „Hoche Galvarez, ich bin erstaunt. Du hast doch eben so mutig einen Gefesselten erschossen. Und jetzt scheißt du dir in die Hose?“
Hoche Galvarez schnürte es die Kehle zu. Er war unfähig, etwas zu sagen.
„Abschaum wie du sind schuld, dass aus den Reihen unserer Policia Nacional immer wieder Kollegen und Kolleginnen getötet werden.“ Elana lächelte dabei. „Wie die Schwester unseres Gato. Hmm, schon übel für dich. GATO? “
„Ich bin hier, Comisaria.“ Der Mann tauchte neben ihr auf und der Blick, der Hoche Galvarez traf, war nicht freundlich.
Elana seufzte: „Er gehört dir, Gato.“
„Danke, Comisaria.“ Gato zog eine Waffe, aber keine Schusswaffe, sondern ein Messer.
Elana wandte sich ab. Hoche Galvarez starb, sagen wir, wie Julius Caesar, nur dass nicht so viele Leute beteiligt waren, dafür ein paar Dutzend Messerstiche mehr. Als das Schreien des Sterbenden abbrach und Ruhe einkehrte, verkündete Elana das Einsatzende: „Wir brechen hier ab – wie besprochen. Ausführen!“
Die Zeiten waren hart – auch in Spanien. Niemand hatte Lust und Zeit, sich um unverbesserliche Gewaltverbrecher zu kümmern und dann möglichst auch noch die nächsten Jahre durchzufüttern. Die Angehörigen der Policia Nacional trennten die Ersttäter von den anderen. Innerhalb von wenigen Minuten hatten sie die erkennungsdienstlichen Behandlungen durchgeführt und die beiden Gruppen voneinander getrennt, aber so, dass man sich noch gut sehen konnte. Die Wiederholungstäter standen an einer der Außenwände der Halle.
„Comisaria, wir sind soweit.“
Elana kam und sah auf die teils jungen Männer, die zum ersten Mal in Erscheinung getreten waren.
„Hört zu, ihr könnt jetzt etwas für euer weiteres Leben lernen. Ein Wort außerhalb dieses Raumes davon und ihr überlebt die Haftzeit nicht. Das ist eure einzige zweite Chance. Bin ich verstanden worden?“
Elana sah in bleiche Gesichter: „Ich hoffe für euch, dass wir uns nie wiedersehen.“
Sie warf Gato einen Blick zu: „Anfangen!“
Gato gab seinen Leuten ein Handzeichen. Die Angehörigen der Policia Nacional legten auf die Wiederholungstäter an.
„Feuer frei!“
Schüsse peitschten laut durch die Halle und schlugen in die Körper der Verbrecher ein. Innerhalb von drei Sekunden stand kein einziger der sicherlich fast drei Dutzend Männer.
„Bringt die anderen in das Gefängnis“, ordnete Elana an. „Dann fackelt den Scheiß hier ab.“
Sie nahm zwei Mann Begleitschutz mit und verließ die Halle. Bei Abfahren in ihrem Pkw sah sie schon Feuerschein in den Fenstern. Die Policia Nacional würde dafür sorgen, dass diese Halle bis auf die Grundmauern abbrennen würde.
03.08.2059, 13:30 Uhr, Spanien, Toledo, HQ der Policia Nacional:
„Du hast ganz schön zugeschlagen, letzte Nacht, Elana“, sagte der Leiter der örtlichen Policia Nacional, Nelio Cruz. Der Mann mit den ölig zurückgekämmten schwarzen Haaren blätterte in einem Bericht, den Elana noch weit nach Mitternacht diktiert hatte. Er saß hinter seinem pompösen Schreibtisch – Elana Gomez davor.
Elana Gomez deutete ein Nicken an.
„In zwei anderen Stadtteilen sind Villen explodiert, die im Besitz der örtlichen Mafia vermutet wurden“, fuhr Nelio fort.
„Was die Leute heutzutage alles unsachgemäß lagern“, empörte sich Elana.
„Einer unserer Helis war noch vor Ort und hat geschaut, ob noch jemand zu retten ist“, klagte Nelio Cruz weiter. „Aber da muss jemand eine Menge Sprengstoff gelagert haben. Wir haben Genmaterial sichern können, mehr auch nicht.“
Elana sagte nichts dazu.
„Hoche Galvarez war also ein Maulwurf“, stellte Nelio Cruz fest und wechselte damit das Thema. „Die Aufzeichnungen sind eindeutig. Was geschah mit ihm?“
„Wir hatten direkt darauf ein heftiges Feuergefecht, Nelio. Er starb dabei. Im Zuge der weiteren Geschehnisse geriet die Halle in Brand.“
„Ja, ja“, sagte Nelio Cruz, „dabei wurde so ziemlich alles zerstört. Gut, gut ... die Gefangenen sind allesamt Ersttäter?“
„Ja“, bestätigte Comisaria Elena Gomez, „sie waren unfähig, sich zu wehren.“
„Und auf unserer Seite keine Toten? Nicht einmal Verletzte?“
„Meine Leute sind gut ausgebildet und wissen auf sich aufzupassen, Nelio.“
„Ich will diesen angenehmen Umstand auch nicht bedauern“, versicherte der Mann, „wir haben schon viel zu viele unserer Kollegen und Kolleginnen zu Grabe getragen.“
Nelio machte eine kurze Pause, dann: „Wir haben anhand des Bildmaterials herausgefunden, dass wichtige Männer der sonst konkurrierenden Banden mit beim Treffen waren. So die ältesten Söhne der Paten.“
„Eine gute Nacht für die örtliche Polizeibehörde, Nelio, oder?“
„Gewiss, gewiss“, bestätigte der Vorgesetzte. „Die wichtigste und erfolgreichste überhaupt. Unsere politische Führung, die Bevölkerung und nicht zuletzt wir, sind außerordentlich zufrieden. Wir haben dir für deinen selbstlosen Einsatz zu danken, Elana.“
„Mein Job“, tat die Comisaria das Lob ab.
Nelio Cruz stand auf, ging um den Schreibtisch herum und setzte sich schräg zu Elana auf den Schreibtisch.
„Elana, ich hatte nie eine bessere Hilfe als dich. Ich danke dir dafür, dass du unter mir gearbeitet hast. Und ich habe jetzt das blöde Gefühl, dass wir uns voneinander verabschieden müssen.“
Das sonst ausdruckslose Gesicht der Comisaria nahm eine fragende Miene an.
„Es ist ein Besucher für dich da, der allein mit dir sprechen möchte. Ich danke dir und wünsche dir für die Zukunft alles Gute, Elana.“
Bevor die Frau reagieren konnte, stand Nelio auf und verließ das Büro. Kaum war die Tür zu, als aus einer der seitlichen Eingänge ein Mann mit schwarzem Anzug und einer Sonnenbrille kam.
Elana wollte gerade in Verteidigungsstellung gehen, als ihr deutlich wurde, dass Nelio Cruz sie niemals allein gelassen hätte, wenn von diesem Mann eine Bedrohung für sie ausgehen würde.
„Elana Gomez?“, fragte der Schwarzgekleidete.
„Das bin ich.“
„Ich überbringe eine Nachricht von Admiral Tony Winter. Treffpunkt Space Trainings-Center auf Isle of Man am 05.08.2059 um 11:00 Uhr. Und es ist keine Übung, Elana Gomez.“
„Ich habe verstanden“, sagte Elana und verstand jetzt die Reaktion ihres Chefs.
„Damit ist mein Auftrag erledigt“, sagte der Bote und ging durch den Zugang hinaus.