10. Tony und Hanna

 

29.10.2059, 09:00 Uhr,

Militärisches Ausbildungslager der UAW in Bolivien:

 

Das Verhältnis von Major James Potofski und Chief Salvatore Townsen war geprägt durch gegenseitige Abneigung. Der Major verabscheute seinen Vorgesetzten, weil dieser sich den Spitznamen Ratte gefallen ließ und auch sonst körperlich in keinster Weise mithalten konnte. Potofski wusste, dass er derjenige war, der die Kohlen, oder waren das Kastanien, aus dem Feuer zu holen hatte. Und es machte ihm auch nichts aus. Er hasste Bürojobs und Einsatzberichte schreiben waren ihm ein Greul.

Townsen mochte den Mann nicht, weil er alles das verkörperte, was er gern hätte: groß, breit, Vollbart, Frauenschwarm. Was Letzteres anbetraf, war Salvatore Townsen ja eher Selbstversorger, oder er musste halt dafür zahlen.

Trotzdem arbeiteten beide bestens zusammen. Profis halt, wie sie in die­ser ‚Branche‘ selbstverständlich waren. Sie waren aufeinander angewie­sen und sie wussten das auch. Persönliche Eitelkeiten hatten einfach keinen Platz.

Sie waren auf einem militärischen Übungsgelände in Bolivien in einer der typischen Baracken zusammengekommen: Wenn man Glück hatte, schützte diese sie zumindest vor Regen.

„Du bekommst den letzten Aufenthaltsort und den Ortungszugang“, sagte Salvatore Townsen, der mit seinem Bluthund an einem Tisch saß. Er übergab dem Major eine Folie.

„Aha, Kuba – auch gut. Ist nicht so weit. Ein Spaziergang“, reagierte Potofski mit seinem tiefen Bass.

„Das denke ich auch. Ich erwarte die Vollzugsmeldung in wenigen Ta­gen, James.“

„Ich habe gute Leute, kein Problem.“

Townsen atmete ein: Gute Leute waren ein Definitionsproblem oder eine Frage der Sichtweise. Üblicherweise agierten die Sturmtruppen mit zwölf Mann. Townsen war überzeugt davon, dass diese außer den Wor­ten ‚Jawohl, Sir‘ und ‚Aye, aye‘ nicht ganz viel sprechen konnten – viel­leicht noch ‚Major‘. Dafür befolgten sie Befehle – ohne nachzudenken. Womit auch, überlegte Townsen. Zum Töten und Kämpfen braucht man Reflexe, Übung und Überlebenstrieb – kein Hirn.

Der Chief übergab seinem Untergebenen noch zwei Fotos: Sie zeigten Admiral Winter und Hanna Luca.

„Attraktiv“, sagte James Potofski. „Die auch?“

„Seit wann machst du halbe Sachen, James?“

„Sorry – wir können keine Zeugen gebrauchen.“

„Eben. Ich bin jetzt weg. Du erreichst mich über die üblichen Kanäle.“ Townsen stand auf und verließ die Baracke.

Potofski sah sich noch einmal das Foto von Hanna Luca an. Vielleicht konnte man ja noch etwas Spaß haben – mit ihr – vor ihrem Tod. Major Potofski tötete nicht um des Tötens willen. Es machte ihm aber auch nichts aus. Das Bedauern über den Tod einer schönen Frau war nur ein Hauch in seinem Gewissen, der schnell verflog. Er stand auf. Wurde Zeit, dass er seine Jungs zusammenrief.

Auf dem Weg zum Übungsplatz schaute er beim Schirrmacher vorbei: „Ich brauche einen Heli für große Einsatzreichweiter für eine Gruppe Marines und mich, sowie Piloten.“

„Wann?“, fragte der Mann verdattert.

„Sofort!“

„Was? Also, so geht das nicht …, ich, äh …“

Major James Potofski hob einen Finger: „Du kannst dich gern mit der Ratte anlegen.“

Der Mann schluckte: „Proviant auch?“

„Kannst was beilegen.“

Gut, sofort war immer etwas dehnungsfähig. Die Piloten mussten orga­ni­siert werden, der Heli auf- und ausgerüstet und Waffen wollte man schließlich auch mitnehmen.

Eine Stunde später stand alles bereit und einer der größeren Transport­hubschrauber hob vom bolivianischen Boden ab.

Potofski hatte seine Jungs kurz informiert, um was es ging.

Sie hatten folgendes verstanden: Zwei Leute ausschalten, kein Problem, irgendwo auf der Inselwelt von Mittelamerika, alles Weitere während des Einsatzes. Potofski hielt ein Ortungsgerät in der Hand und fragte sich, ob man als Admiral einen gewissen Blödheitsgrad vorweisen musste, um eine solch hoch dotierte Stelle zu bekommen. Potofski schaute nach draußen. Man war über dem Pazifik angekommen. Er hatte die Piloten angewiesen, an der Westküste Südamerikas Richtung Norden und dort, grobe Richtung Haiti zu fliegen. Er würde sich melden, wenn der Kurs korrigiert werden sollte. James Potofski stellte seine Armbanduhr auf zwei Stunden, dann ließ er sich im Sitz zurücksinken und schloss die Augen. Ein guter Soldat schläft, wenn Zeit ist. Nach diesem Motto han­delte er.

 

Zwei Stunden später:

 

Potofski brauchte die Uhr nicht – sie diente nur der Sicherheit. Wenige Sekunden vor dem Vibrieren schaltete er den Weckalarm ab und schaute aus dem Fenster. Anschließend sah er auf sein Pad. Dort war der der­zeitige Aufenthaltsort des Helis abgebildet und das Ziel. Er nahm Kontakt zu den Piloten auf: „Dom-Rep, Puerto Plata. Genaue Hinweise, wenn wir da sind.“

Potofski bekam ein Okay und der Heli legte sich in eine leichte Rechts­kurve.

 

Irgendwann später:

 

„Wir sind in 20 Minuten am Ort, Major“, meldete einer der Piloten.

„Danke, ich überspiele euch den genauen Ort. 30 Meter darüber in der Luft stehen. Wir seilen uns ab.“

„Verstanden.“

Potofski saß, getrennt durch eine Wand, direkt hinter den Piloten. Er stand auf und ging nach hinten zu seinen Jungs: „Fertigmachen X minus 19 Minuten. Wir seilen uns ab. Ernie und Fred bleiben bei mir, die an­deren umstellen das Zielgebäude. Ernie, Fred und ich, wenn das Terrain gesichert ist.“

Die Leute standen, bis auf zwei auf und stellten sich zu zweit vor die Luke, die sich in wenigen Minuten öffnen würde. Die Maschinenpistolen hielten sie schussbereit in den Händen. Anschließend klinkten sich die ersten in die Abrollseile ein.

18 Minuten später öffnete sich das Schott und der Heli wurde langsamer. Der Flugwind zerrte an den Einsatzanzügen und den anderen Gegen­ständen innerhalb des Fliegers, zudem wurde es richtig laut.

Potofski setzte sich eine Schutzbrille auf und schaute raus. Dann wies er mit dem Finger darauf: „ Das weiße Gebäude dort!

Seine Jungen bestätigten.

Major James Potofski kam es gar nicht in den Sinn, es anders abzuar­beiten. Die Überfallstrategie war immer noch die wirkungsvollste – und auch die spektakulärste. Und seien wir ehrlich: Warum gehen die meisten Männer zur Army? Genau – deswegen. Also tat er sich und seinen Jungs einen Gefallen: Mal so richtig die Machos raushängen lassen – konnten sie gut.

Der Heli sank schnell tiefer und man musste schon extreme Nerven haben, um diesen absturzmäßigen Höhenverlust verkraften zu können – oder eben total abgestumpft sein, dann ging das auch.

Kaum stand der Heli still in der Luft, als Potofski den ersten beiden auf die Schultern klopfte. Sie sprangen raus und hielten die Seilbremse um­klammert. Danach die nächsten und so weiter. Dann klinkten sich Fred und Ernie sowie ihr Chef ein und sprangen ebenfalls raus. Die paar Meter bis zum Boden waren schnell überbrückt. Potofski sah seine Männer noch um das Haus herumlaufen, als er mit seinen Stiefeln auf den Boden knallte. Blitzschnell knipste er sich vom Seil los, dann rannte er mit Ernie und Fred auf den Eingang zu. Die Tür wurde mehr oder weniger mehr aufgetreten als aufgemacht, obwohl sie nicht verschlossen war – getreu dem Motto: Immer ein bisschen mehr als nötig. Sie knallte dann auch von innen gegen die Hauswand und ein verschlafen aussehender Emp­fangsmitarbeiter fiel polternd vom Stuhl. Er hatte sich hinter dem Emp­fangstresen gerade wieder hochgerappelt, als er in die Mündungen von drei Maschinenpistolen schaute.

Ein besonders finster aussehender Mann schob ihm zwei Fotos zu: „Zimmernummer?“

Der Aushilfs-Portier hatte keinen von beiden je gesehen: „Kenn’ ich nicht!“

Und schon hatte er eine der Feuerwaffen an der Schläfe: „Wenn du uns verarschen willst …“

„Ich neu – keine Ahnung“, zitterte die Aushilfe. „Namen?“

„Unsere Namen gehen dich einen Scheiß an“, sagte einer der Begleiter des Düsteren. Letzterer reagierte prompt: „Halts Maul, ich rede.“

„Aye, Sir.“

Die Augen des Portiers flogen hin und her.

„Tony Winter und Hanna Luca“, sagte Potofski.

Dem Mann ging ein Licht auf. Das mussten die beiden sein, die er noch nie gesehen hatte.

„Zi…, Zimmer 13“, stotterte er. Er wollte gerade den Schlüssel aus­händigen, als die drei schon weiterrannten.

„Erster Stock“, rief er ihnen hinterher.

Sie drehten um und nahmen die Treppe nach oben.

Die Tür mit der Nummer 13 erlitt das gleiche Schicksal wie die Ein­gangstür. Obwohl nicht abgesperrt, wurde auch sie aufgetreten und schep­perte innen an die Wand. Drei schwer bewaffnete Soldaten stürm­ten mit vorgehaltenen Waffen hinein. Einer von ihnen verschwand im Badezimmer.

Gesichert “, hörte man ihn brüllen.

Ganz viel größer war das Etablissement auch gar nicht. Dass im Bett niemand lag, sah man, da die Decken zurückgeschlagen waren. Der zweite Soldat riss den Kleiderschrank auf und steckte seine Waffe dort hinein.

Potofski sah auf sein Pad und ging zu Bett. Dort kniete er sich auf den Boden und zog einen Bettkasten hervor. Darin entdeckte er das KOM-Gerät des Admirals und einen Zettel mit der Aufschrift: ‚Hier bin ich nicht‘.

Potofski fluchte bitterlich und riss sein Mikro an den Mund: „ Abbruch und Aufsitzen, SOFORT!

Sie rannten wieder nach unten und raus aus der Absteige. Die Kamera­den hingen schon an den Seilen und ließen sich wieder in den Heli ziehen. Potofski ließ sich als Letzter hochziehen. Er hörte noch, wie ihm ein aufgebrachter Hotelbesitzer nachrief: „ Wer zahlt mir den Schaden, ihr Scheiß-Gringos?

Potofski schwenkte die MP in die Richtung des Rufers und dieser brachte sich mit einem Hechtsprung in Deckung. Kurz darauf flog der Heli ab.

 

„Wohin?“, fragte der Pilot über Funk, als Potofski seinen Platz wieder eingenommen hatte.

„Kuba, aber langsam. Ich werde die Richtung eventuell korrigieren.“

Nun, die erste Runde geht an dich, Winter, dachte Potofski und ärgerte sich über sich selbst, dass er tatsächlich angenommen hatte, der Admiral wäre so dumm und würde das KOM-Gerät weiterhin mit sich rum­schleppen. Manchmal bedauerte er, dass er sich mit keinem aus der Trup­pe austauschen konnte, aber hier war der nächste Schritt klar. Admirals Freund auf Kuba war bekannt. Und man wusste auch, wie viele Schiffe er hatte und die entsprechenden Code-Sender dazu. Es war ein Gedulds­spiel, herauszufinden, welche Yacht am Tage der Ankunft des Admirals den Hafen dort verlassen hatte – oder einen Tag später.

Potofski pfiff durch die Zähne: Der ist ja standesgemäß unterwegs – mit einer 60-Meter-Yacht. Der Rest war einfach. Das Schiff bewegte sich weit nördlich von Kuba und hatte bereits die Bahamas hinter sich ge­lassen und bewegte sich weiter östlich auf das Bermuda-Dreieck zu. Das war doch mal eine Location, wo man das ganze Schiff verschwinden lassen konnte. Grinsend gab er den Piloten die Koordinaten. Das Grin­sen blieb ihm aber im Halse stecken, als er hören musste, dass es zu weit ist, die Arbeitszeit der Piloten überschreiten, und was noch viel wichtiger war, die Energie nicht bis dorthin und zurück reichen würde. Das letzte Argument konnte Potofski nachvollziehen und bekam deswegen keinen Tobsuchtsanfall.

„Optionen?“, knurrte er.

„Wir haben einen Stützpunkt auf Kuba. Wir können den Heli auftanken, und wir und ihr bekommen Unterkünfte und was zu futtern“, gab ein Pilot durch.

„Okay. Dann geht es morgen weiter. Der schwimmt uns nicht weg“, Potofski lachte meckernd über seinen eigenen, etwas faden, Witz.

Und er lachte allein.

 

30.10.2059, 07:15 Uhr, Stützpunkt Kuba:

 

Kaum war die Sonne aufgegangen, als Major James Potofski zum Auf­bruch drängte. Die Piloten ließen sich nicht ganz so gern drängen und frühstückten erst einmal zu Ende.

„Ihr werdet euch dafür rechtfertigen müssen“, drohte Potofski.

„Gar nichts werden wir“, bekam er als Antwort. „Wir sind nicht in einem Kampfeinsatz und da gibt es Arbeitszeiten und Pausenregelung. Und wenn du noch mehr meckerst: Unser Heli braucht eigentlich eine Ins­pektion.“

Das reichte. Potofski hatte eh eine kurze Zündschnur. Für seine Begriffe dauerte der Einsatz schon eine Nacht zu lang. Aber dieser Arsch hatte recht, dachte er und nahm sich zurück. War zwar schwer, bekam er aber gerade noch hin. Nachdem die Piloten auch ihr zweites Ei gelöffelt und sorgsam ausgekratzt hatten, ging es dann endlich los.

Der Heli stieg mit dem Soldatentrupp auf.

„Wo ist der Kahn jetzt?“, fragte ein Pilot.

Potofski gab die Daten durch, nachdem er auf sein Pad geschaut hatte.

„Der war doch gestern noch viel weiter östlich“, kam es zurück.

„Kann sein. Dahin geht es jedenfalls.“ Potofski überlegte. Tatsächlich musste die Yacht gestern nach der ersten Sichtung eine Kehrtwende ge­macht haben. Jetzt sah es so aus, als wolle sie in den Golf von Mexiko einfahren.

„Wenn ihr euch ein wenig sputet, dann seid ihr uns schneller los“, lockte Potofski.

„Das nenn’ ich Motivation“, kam es zurück. Potofski bekam mit, dass sich der Heli weit kopfüber beugte und dann beschleunigte. Dem Major war das Recht. Die damit offen gezeigte Abneigung gegen ihn und seine Truppe war ihm egal, nein, scheißegal.

Etwas später erreichte Potofski ein Anruf seines Vorgesetzten: „Ich hatte eigentlich schon mit einer Vollzugsmeldung gerechnet.“

Major James Potofski schluckte den versteckten Vorwurf hinunter: „Wir sind dicht dran, Sir.“

„Das will ich hoffen.“ Dann legte die Ratte einfach auf.

Voller Wut konnte der Major seine Faust gerade noch so lenken, dass sie eben nicht den Monitor vor ihm traf. Neben dem Schmerz gab es einen dumpfen Laut.

„Alles in Ordnung, Major“, kam es spöttisch von den Piloten über Funk.

„Ja“, knurrte Potofski. „Wann haben wir den Kahn?“

„Wir können fliegen, aber nicht hexen, Major. Ein bisschen Geduld, bitte.“

Der Satz kam so süffisant, dass der Major erneut versucht war, aber seine Hand tat noch zu weh.

Nach trotzdem viel zu langer Zeit meldete sich der Pilot: „Wir haben da was auf dem Schirm, Major. Vielleicht interessiert es? Wir schalten es in die Kabine.“

James Potofski sah genau hin – auf den Monitor. Unter ihnen war aus­schließlich Wasser ... und dann, doch nicht zu übersehen, die Yacht in voller Fahrt. Potofski fummelte an dem Bildschirm rum und fand den Regler für die Brennweite nicht. Das Schiff war zwar im Mittelpunkt der Optik, aber er bekam es nicht größer.

„Wie geht die Scheiße hier?“, fluchte er. Ging denn gestern und heute alles schief?

„Wenn der Herr Major den Monitor zu betrachten in Gänze imstande ist, befindet sich dort ein einzelner Knopf. Den kann man drehen und das Bild kommt näher oder nicht. Das schaffen auch Sturmkräfte.“

Potofskis Gesicht gefror zu einer Maske. Er würde dem Typen das Hirn raushauen, sobald sie gelandet waren. Aber das Ding hatte tatsächlich nur einen Knopf. Er drehte daran und tatsächlich: Die Yacht sprang ihn geradezu an.

„Eine Runde in 30 Metern Höhe drumherum!“

„Selbstverständlich, sofort und aye, aye, Sir.“

„Übertreibt es nicht“, knirschte Potofski.

Während der Heli auf die Yacht zuflog, ging der Major zu seinen Jungs: „Froschmannanzüge anziehen, MP-Bewaffnung. Wir seilen uns gleich auf eine Yacht ab.“ Er selbst hatte den Neoprenanzug in Windeseile angelegt und kam rechtzeitig zurück, um die Yacht aus der Nähe von allen Seiten betrachten zu können. Er sah niemanden, was auch nicht weiter verwunderlich war. Ein Autopilot, den eine solche Yacht mit Sicherheit an Bord hatte, schaffte die offene See allein. Wahrscheinlich lag der Herr Admiral gerade auf seiner Freundin. Potofski grinste scha­den­froh. Dem würde er die Nummer mächtig versauen.

„Direkt über der Yacht 30 Meter und halten. Wir seilen uns ab.“

Potofski eilte nach hinten. Die ersten bewaffneten ‚Froschmänner‘ stan­den angeleint bereit. Es ging genau nach dem Muster wie bei dem Hotel. Die ersten beiden seilten sich ab, und dann die zweiten und so weiter. Allerdings war die raue See ein wenig anders als die Übung auf dem Land. Die Yacht befand sich in voller Fahrt, es gab einige nicht so kleine Wellen und reichlich Wind, nicht nur durch die Rotorblätter des Helis. Es war schon eine Kunst, den Heli stabil über dem Schiff zu halten. Von oben betrachtet schien das Schiff sogar winzig zu sein. Alles eine Frage der Perspektive.

James Potofski seilte sich zusammen mit dem siebten Mann ab. Beim vorletzten Pärchen passierte es dann. Der Heli kam zu weit vom Kurs ab, die beiden Männer schwangen durch, und als der Pilot den Kurs korrigiert hatte, kamen diese mit viel zu viel Schwung übers Deck. Nun wäre nichts passiert, wenn die Herrschaften die Seile nicht losgelassen hätten. Hatten sie aber.

Potofski schrie erst: „NEIN“, dann „AUS DEM WEG!“ Er brachte sich schleunigst in Deckung, als zwei verhinderte Bowlingkugeln ihre Kame­raden auf dem Deck einfach mal abräumten.

„Mit der Nummer könnt ihr auftreten“, hörte Potofski den Piloten über Funk lachen.

Entsetzt schaute Potofski zu, wie diese beiden Männer weiter nahezu ungebremst über das Deck in Richtung Heck, was jetzt nicht so weit weg war, schlitterten. Dort gab es dann eine Reling. Eine zierliche Reling, die bestenfalls dazu gedacht war, einer maximal 60kg-Schönheit, mit oder ohne Bikini, einen leichten Halt beim lasziven Räkeln auf Deck zu bieten. Der erste Soldat wurde noch fast ausreichend abgebremst.

Potofski rannte nach dort. Der unglückliche Erste plumpste von Deck und geriet in den Wirbel der Schiffsschraube. Er war schneller Fisch­futter, als er schreien konnte. Der zweite Mann hatte zuerst etwas mehr Glück. Dank fehlender Reling geriet er weit außerhalb der Schiffs­schraube ins Wasser.

„Den holen wir später“, entschied Major James Potofski und funkte auch das durch. Er bekam von den Piloten keine Antwort. Er hatte sich davon überzeugt, dass für den anderen Mann keine Hilfe mehr erforderlich war.

„Los, durchsucht das Schiff!“

Die Männer schwärmten aus.

Potofski suchte die Schlafräume auf, von denen es einige gab. Auf einem fand er einen Zettel: ‚Hier auch nicht!‘  Er knüllte das Ding zusammen und fluchte heftig.

Rückzug, sofort!

Der Trupp machte sich wieder per Seil auf in den Hubschrauber und es funktionierte leidlich schnell. Als Potofski in der Kabine war, befahl er den Piloten, nach dem zweiten Mann zu suchen. Seine Leute konnten zumindest schwimmen.

„Du bist ein erbärmlicher Anfänger, Major. In dieser Region des At­lantischen Ozeans verteilt man keine fünf Liter Blut und dann passiert nichts. In der Gegend hier gibt es alle möglichen Haie – auch die kleinen niedlichen, die weißen. Dein Mann ist längst tot.“

Potofski fluchte und zog sein Pad hervor: Alle seine Männer waren per Chip zu orten. Zehn saßen hinten im Heli.

„Wie hoch sind wir?“

„100 Meter.“

Das Pad zeigte ihm die robusten Chips, sie funktionierten noch, 250 Meter unter ihm an. Der Pilot hatte recht. Potofski schloss die Augen und fluchte leise: keinen Erfolg und zwei Tote.

„Wohin soll es gehen?“, fragte der Pilot.

„Optionen?“

„Wir setzen euch auf Kuba ab. Dort gibt es eine Station. Wir werden keine Zirkustruppe rumfliegen. Unser Heli muss zur Inspektion, sagten wir schon. Und wenn du dich beschweren willst, dann tu das. Mit der Nummer von heute hast du dich selbst ins Knie gefickt.“

Der Pilot schaltete ab und bekam das drohende Gefluche des Majors nicht mehr mit. Potofski schwor, die Piloten in alle Einzelteile zu zer­legen.

 

Endlich auf Kuba angekommen, gingen die Piloten kein Risiko ein: „Wir haben dein Gefluche aufgezeichnet – und die Drohungen. Wir stehen zehn Meter über Grund. Du kannst eure Klamotten rauswerfen, an­schließend abseilen.“

„Und wenn wir den Heli nicht verlassen?“

„Unser gutes Stück hier ist mit internen Abwehrsystemen ausgerüstet. Könnt ihr die Luft so lange anhalten, bis ihr die Atemgeräte ausgepackt und aufgesetzt habt? Sobald einer von euch einen der Säcke öffnet, leite ich das Gas in den Fluggastraum. Und ich kann es auch noch entzünden. Spezielle Überdruckventile verhindern, dass der gesamte Heli explodiert. Möchtest du das ausprobieren?“

„Ich finde euch und mach euch fertig!“

„Kennst du unsere Namen oder hast du uns gesehen?“

Potofski gab keine Antwort.

„Pech für dich, Anfänger. Und nun macht, dass ihr rauskommt.“

Potofski kochte wie noch nie in seinem Leben, aber er sah keine Mög­lichkeit der Rache – noch nicht. Also gab er klein bei.

„Fertigmachen zum Abseilen! Unsere Klamotten werden zuvor abge­wor­fen!“

„Du bist vernünftiger als wir dachten. Wenn du noch mal fliegen willst, nicht von Bolivien aus.“

Potofski ging mit hochrotem Kopf nach hinten. Die Tür öffnete sich und er sah zu, wie die Männer die Ausrüstung nach unten warfen. Dann seilten sie sich ab. Als die elf Mann alle auf dem Boden versammelt wa­ren, verabschiedete sich der Heli auf seine Weise. Der Pilot gab volle Energie auf die Rotorblätter. Der Hubschrauber schoss nach oben und durch den Druck wirbelten die Männer wie welkes Laub über den Boden.

Aber die blödeste Überraschung wartete noch. Als man sich aufgerappelt und den Staub abgeklopft hatte, stellte man fest, dass man fünf Kilo­meter vor der Garnison abgesetzt worden war. Sie mussten also die schwere Ausrüstung fünf Kilometer weit schleppen. Das war für die trainierten Männer nicht besonders anstrengend, aber allein die Tatsache, zu Fuß und mit der Ausrüstung auf dem Rücken sich bei der Pforte anmelden und Auskunft geben zu müssen, warum und so …  mehr als peinlich.

Ursache dafür war Admiral Tony Winter und ihn würde er das spüren lassen, schwor sich Potofski.

 

10.11.2059, 9:30 Uhr, SWEET MARIE:

 

„Ich sehe Land, Tony“, rief Hanna aufgeregt. „Es sieht so aus, wie du es haben wolltest, weit aus dem Wasser und jede Menge Vegetation.“

Hanna Luca sah durch ein Fernglas und hatte schnell und begeistert gesprochen. Das Schiff war schön und vor allen Dingen schön schnell. Es war eines von den Tragflächenbooten, die sich bei entsprechender Geschwindigkeit aus dem Wasser hoben und dann auf eine Art Kufen eine höhere Geschwindigkeit erreichen konnten.

Sie hatten in den letzten Tagen eine Menge an haltbaren Lebensmitteln gekauft und sonstige Sachen, um einige Zeit fernab der Zivilisation über­leben zu können. Aber sie waren jetzt Tage auf dem Wasser unterwegs und Hanna sehnte sich danach, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Sie waren nach Südosten geschippert und im Bereich der Kleinen Antillen. Hier waren die Inseln relativ groß und schauten noch ausreichend aus dem Wasser, um als Unterschlupf dienen zu kön­nen.

Tony Winter sah seine Freundin im roten Bikini an der Reling stehen und das Fernglas halten. Sie hielt sich sehr tapfer. Bisher hatte er kein Wort der Klage über die misslichen Umstände gehört. Ihr Körper war jetzt leicht gebräunt und sah einfach toll aus.

„Du musst weiter rechts halten, Tony!“

„Okay“, er lächelte und drehte am Ruder, bis Hanna zufrieden war.

Im Endeffekt war es nicht diese Insel, sondern die nächste. Tony hatte keine Zeit, nachzusehen, welche das war. Und es war auch egal. Sie muss­ten ein Versteck für das Boot finden und einen Unterschlupf für sich selbst.

Das Boot parkten sie in einer schmalen und tiefen Bucht, die von Schling­pflanzen und anderen herabhängenden Bäumen und Büschen kaum zu erkennen war. Sie erkundeten die Insel und fanden drei Kilo­meter weiter und etwas erhöht an einem Berghang tatsächlich eine kleine Höhle. Unter größter Vorsicht stellten sie fest, dass diese unbewohnt war. Sie mussten ein paar Mal gehen, bis sie alles an Ort und Stelle hatten. Aber dieser Tag reichte nicht. In den nächsten Tagen verwandelten Tony und Hanna die Höhle in ein schickes Nest. Hanna fühlte sich wohl, aber Tony sich nicht sicher. Diese Leute unter der Ratte, wenn sie einen Geg­ner hatten, dann ging er von diesem aus, hatten ganz andere Möglich­keiten. Aber er schwieg dazu, beschloss aber, sehr aufmerksam zu sein.

 

09.12.2059, vormittags, CYGNE, Landedeck:

 

„Was ist, wenn ihr nicht zurückkommt, Emma?“, fragte Max Ander­brügge.

Sie waren alle zusammengekommen, um das Team ‚Admiral an Bord‘ zu verabschieden und ihnen Glück zu wünschen. Selbst Moki stand irgend­wo herum.

„Dann bist du immer noch derjenige, der das Kommando hat. Dann nämlich erst recht. Ich weiß, dass du das Schiff niemals einer Partei auf der Erde übergeben wirst. Reise zu den Walan oder sonstwas – nur nicht zur Erde, Max.“

„Ich hoffe, das Kommando recht schnell wieder an dich abgeben zu kön­nen, Emma. Aber das Schiff wird nicht in menschliche Hände fallen – ich verspreche es dir.“

„Isch wünsche eusch Glück“, seufzte Claire und fiel Emma in die Arme.

„Bekomme ich auch Glück?“, fragte Steven und breitete erwartungsvoll die Arme aus. Die Französin tat ihm den Gefallen gern und kuschelte sich einen Moment an ihn. Steven wurde es heiß und kalt: „Ich hoffe, ich bin bald zurück.“

„Das ’offe isch auch“, sagte sie.

Elana ging auf Felipe zu. Zwei dunkle Augenpaare trafen sich.

„Du kommst zurück und bringst mindestens diese beiden wieder mit, okay?“

„Ich werde alles tun, was mir möglich ist“, antwortete Felipe und nickte kurz.

„Dann werden sie zurückkommen. Geh kein zu großes Risiko ein, Fe­lipe.“

„Das werde ich nicht.“

Elana trat einen Schritt auf ihn zu und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange.

Emma war etwas verwundert. Lief da was zwischen den beiden? Wenn ja, dann hatten sie es geschickt verborgen. Und wenn nicht, dann war Emma der Astrogatorin wegen dieser menschlichen Geste dankbar.

Felipe war im Grunde ein sehr einsamer Mensch. Elana hatte dann als Einzige auf ihn reagiert und ihn speziell verabschiedet. Das konnte auch an einem solchen Kämpfer wie Felipe nicht spurlos vorbeigehen.

„Max hat das Kommando“, sagte Emma. „Trupp ‚Admiral an Bord‘ aufsitzen!“

„Die drei marschierten unter den Flieger und kletterten die metallene Faltleiter hoch. Als diese eingezogen wurde, scheuchte Max seine Leute vom Landedeck – er wollte das zumindest.

„Das ist unnötig“, belehrte ihn Moki. „Das Raumschott wird gesichert geöffnet. Ein Kraftfeld hält die Atmosphäre und Wärme an Bord. Der Jäger durchstößt das Feld, zerstört es aber nicht. Wir können von hier den Abflug verfolgen. Ich öffne das Raumschott, sobald der Jäger ge­checkt und abflugfertig ist.“

Max überlegte kurz. Der Robot würde ihnen nicht schaden. Wollte er das, wären alle längst tot.

Kurz darauf hatten die zurückbleibende Crew ein einmaliges Erlebnis: Das Raumschott öffnete sich und zeigte die Unendlichkeit von ihrer be­eindruckenden Schönheit. Der hinausfliegende Jäger wurde kurz darauf so grell von der Sonne angestrahlt, dass alle wegsehen mussten. Aber der Anblick zuvor war einmalig gewesen.

Und dann war er verschwunden.

„So, lasst uns zur Brücke und den Funkkontakt aufnehmen“, ordnete Max an und sie bewegten sich in diese Richtung.

 

„Habt ihr was gespürt?“, fragte Emma. Sie hatte mitverfolgt, dass die CYGNE blitzartig hinter ihnen verschwunden war.

„Hehehe“, machte Steven, der wegen der Simulationsausbildung einen Wissensvorsprung hatte. „Es gibt hier an Bord Neutralisatoren, sonst klebten wir jetzt irgendwo. Die Beschleunigung des Jägers ist höher, als wir uns das vorstellen können. Daher sind wir auch in sechs Stunden im Erdorbit. Bitte lehnt euch zurück und genießt den Flug. Ich tu’ das auch.“

Vorn gab es drei Sitzplätze und in der Mitte saß der Pilot. Dahinter gab es eine zweite Sitzreihe. Die Anziehungskraft innerhalb des Fliegers betrug moderate 0,5 Gravos, also halbe Erdschwere.

Steven hatte sehr schnell festgestellt, schon im Simulator zum Ende der Ausbildung, dass der Jäger, mit NAV-Hilfen versehen sehr einfach zu steuern war. Er hatte aus den umliegenden Planeten die Erde ausgewählt und auf dem Head Up Display (HUD) erschien ein grüner Kreis, und er hatte lediglich ein ebenfalls grünes Kreuz mithilfe des Flight Sticks in Übereinstimmung zu bringen. Selbstverständlich war dort nicht die Erde. Sie würde aber in sechs Stunden genau dort sein. Nun hatte Steven noch die Möglichkeit, den Autopiloten zu wählen und dann konnte er sich ebenfalls zurücklehnen und den Flug genießen.

Und er tat es.

Alle drei, in Maßen auch Felipe Gomez, bestaunten das, was sie so un­mittelbar sehen konnten. Nein, das Universum war innerhalb einer Gala­xie alles andere als dunkel. Wesentlich mehr Sterne als sonst waren zu sehen, und als Steven alle Beleuchtungskörper innerhalb des Cockpits ausschaltete, seufzte Emma vernehmlich. Man fühlte sich, als ob man im freien Raum schweben würde. Jeder hing in den nächsten Stunden seinen eigenen Gedanken nach, und erst als die Erde als funkelnder blauer Planet in Sichtweite kam, regte sich Felipe: „Wie kommen wir an den Ad­miral heran?“

Emma zog ein altes Handy aus der Tasche: „Wir hätten keine Chance, ihn zu erreichen. Zumeist ist er unterwegs und dann so geschützt, dass wir nicht an ihn herankommen. Weiterhin weiß ich nicht, was in der Zwischenzeit aufgrund des chinesischen Zwischenfalls auf der Erde geschah. Ich sende ihm eine SMS, sobald wir in Reichweite sind.“

„Was ist das denn?“, fragte Steven mit großen Augen.

„Das hat man vor Jahrzehnten mal für Kurzkommunikation benutzt. Der Admiral reagiert darauf oder nicht. Wir müssen Geduld haben.“

„Wann?“, fragte Felipe.

„Sobald wir im Orbit sind.“

Steven sah auf seine Instrumente: „Wird in etwa 60 Minuten der Fall sein. Ich schalte die Tarnvorrichtung des Jägers ein.“

Felipe lupfte die Augenbrauen. Von dieser Möglichkeit hätte er gern eher erfahren. Aber gut, dass man es konnte. In seinem Kopf spielten sich schon so einige Dinge ab, bis er alles mit Gewalt an die Seite drängte. Es kam mit Sicherheit anders, als er das je vermuten würde.

Und das war auch so.

„Der amerikanische Kontinent ist auf der Tagseite“, stellte Steven fest.

„Das meinte ich mit Geduld. Admiral Winter hat sein Handy nicht unter dem Kopfkissen liegen.“

 

70 Minuten später:

 

Der Jäger befand sich in der Stratosphäre und nun war der Zeitpunkt der Kontaktaufnahme gekommen. Emma gab ein Kürzel in das Handy ein und drückte auf Senden.

„Entgegen der Drehrichtung der Erde fliegen“, verlangte Emma. Sie löste das Signal alle drei Minuten aus. Ihre Hoffnung war groß, dass sich der Admiral melden würde.

 

Kurz vorher, 11:00 Uhr

(Inselzeit – weicht von der Zeit im Jäger ab!), Insel:

 

Sie hausten schon bald einen ganzen Monat auf dieser Insel und wenn es die Angst um die Zukunft nicht gäbe, dachte Tony Winter, ließe es sich an der Seite dieser tollen Frau gut aushalten. 24 Stunden am Tag aufein­ander hocken, und beide stellten fest, dass das gut klappte.

Wie jeden Tag um diese Zeit saß Tony ziemlich weit oben auf dem größ­ten Hügel der Insel und schaute mehr oder weniger sorgenvoll auf das Meer hinaus. Es gab ihm einen Stich, als er weit draußen ein Boot ent­deckte, welches sich schnell näherte. Er nahm das Fernglas zu Hilfe und konnte wenig später ein typisches Landungsboot entdecken, welches vom Militär benutzt wurde.

Tony wurde es schwer ums Herz. Sie waren entdeckt worden. Und sie näherten sich der Insel von der Seite, wo sie ihr Boot versteckt hatten. Eine Flucht war ausgeschlossen. Und er machte sich nichts vor: Gegen eine gut ausgebildete Einheit der Sturmtruppen würde er nicht bestehen können. Auf der anderen Seite würde er sich nicht einfach abschlachten lassen. Tony gab seinen Posten auf und hastete Richtung Unterschlupf, wo Hanna auf ihn wartete.

Eine Viertelstunde später hatte er die Höhle erreicht. Hanna sah an sei­nem Gesichtsausdruck, dass Gefahr im Anflug war.

„Sie kommen“, sagte Tony nur.

Hanna stand auf und besorgte sich eine der Pistolen, die Tony bei ihren Vorbereitungen irgendwo gekauft hatte. Tony selbst nahm ein Gewehr und einen Revolver zur Hand. Sie nahmen wortlos etwas Proviant mit und dekorierten schnell die Höhle so, dass man nicht gleich erkennen konnte, wie lange sie schon nicht mehr bewohnt war. Hanna raffte noch eine Decke zusammen, dann marschierten sie los. Sie hatten dieses Worst-Case-Szenario durchgesprochen. Sie hatten mehrere Verstecke auf der Insel angelegt und dort lang haltbare Nahrungsmittel deponiert. Tony entschied sich aufgrund der Richtung, aus der die Häscher kamen, welches man auswählte. Auf Pfaden, die nicht erkennbar waren, husch­ten sie durch die stellenweise dichte Botanik. Tony war stolz auf seine Partnerin. Kein Wort der Klage – nichts. Sie hatte sich bewaffnet und er ihr gezeigt, wie man mit einer solchen Waffe umgeht. Er war sich sicher, dass Hanna im Ernstfall auch schießen würde. Nach zwei Stunden hatten sie, von Dornen zerkratzt, die Unterkunft erreicht. Tony sicherte nach allen Seiten, dann erst ging er in eine weitere Höhle. Er fluchte, als er die geplünderten Nahrungsvorräte sah. Irgendein tierischer Räuber musste sich daran vergangen haben. Es nutzte nichts, sie mussten erst einmal hierbleiben. Das nächste Versteck würden sie vor Einbruch der Dämme­rung nicht mehr erreichen können. Zwar war die Insel nicht so sehr groß, aber Topografie und Botanik machten ein schnelles Vorankommen stel­len­weise unmöglich.

 

Kurz zuvor, Landungsboot:

 

Major James Potofski kochte. Sein Vorgesetzter hatte ihm ordentlich Feuer unterm Arsch gemacht. Kein Ergebnis und zwei Tote. Letzteres interessierte Ratte nicht, aber kein Ergebnis – das ging gar nicht. Nur widerwillig hatte er zugestimmt, dem Major zu helfen. Es begann eine Sisyphusarbeit sondergleichen. Satellitenbilder mussten ausgewertet wer­den, und zwar in ganz großem Rahmen. Die 60-Meter-Yacht rückte ins Zentrum des Interesses. Man entdeckte, wo sie anlegte und dann nach geraumer Zeit wieder in See stach. Dann war interessant, welche Boote die Insel verließen. Verdächtig war eins, welches sich erst in westliche Richtung wandte und dann mit mehreren Anlegestellen wieder in öst­liche Richtung bewegte. Als dieses ein Island anlief, welches unbewohnt war und dort auch nicht wieder abrückte, war sich Potofski sicher: Hier waren die Gesuchten. Das hört sich zwar einfach an, war aber im Zuge vieler Schiffsbewegungen eine Heidenarbeit für ein Dutzend Auswerter.  

Nun stand Potofski am Bug eines Landungsbootes und hatte die Insel per Fernglas im Visier. Neben seinen übrigen zehn Mann hatte er noch jemanden mitgebracht, der über zwei Bluthunde verfügte. Sie sollten die Gesuchten schnell finden können. Potofski hatte keine Lust, mehrere Tage auf der Insel zuzubringen. Sie fuhren ziemlich schnell genau auf den Uferstreifen zu, wo das Boot verschwunden war. Eine Stunde später konnte Potofski sich freuen: Sie hatten das Schnellboot gefunden.

„Los, die Hunde vor“, befahl er. Das laute Gebell störte ihn nicht. Der Admiral konnte ruhig wissen, dass er kam. Ja, er ging von einer Be­waff­nung aus, aber so ans Herz gewachsen waren ihm seine Jungs auch wie­der nicht. Sollten sie halt vorsichtig sein. Er würde sich erst einmal etwas zurückhalten. Die Hunde wurden wieder eingeladen, dann lande­ten sie dort an den Strand an, wo das Boot etwas auf Sand liegen konnte. Nun wurden die Hunde dorthin geführt, wo sehr wahrscheinlich auch der Ad­miral hergelaufen war.

„Meinen Tieren passiert doch nichts, oder?“, fragte der Hundeführer be­sorgt.

„Nicht doch“, wehrte Potofski ab und tatsächlich war es ihm scheißegal, ob eines dieser sabbernden Monster ins Gras biss oder nicht.

„Ihr zwei bleibt hier und passt auf das Boot auf!“

Zwei Soldaten blieben stehen und bestätigten.

 

Versteck:

 

Tony hatte das Hundegebell schon von weitem gehört und wurde blass.

„Pass auf, Hanna, du bleibst hier. Ich muss die Viecher weit vor dem Ver­steck erwischen. Ich gehe los.“

Hanna stand von ihrem Sitzplatz, der aus einem flachen Stein bestand, auf. Das war möglicherweise das letzte Mal, dass man sich sah. Auch Hanna war klar, dass sie keine Chancen hatten.

„Lass dich verabschieden“, sagte sie daher und kam auf ihn zu. Er nahm sie in die Arme und küsste sie, wie so häufig in letzter Zeit. Auch Tony war sich darüber im Klaren, dass dies der letzte Kuss sein könnte. Er würde sich und Hanna so teuer wie möglich verkaufen.

Plötzlich zuckte Hanna zusammen: „Was vibriert da in deiner Brust­tasche?“

Tony hatte das nicht richtig mitbekommen, so abgelenkt war er, wenn Hanna sich mit ihm liebevoll beschäftigte. Tony zog sein altes Handy heraus und sah auf das Display.

„Das, das gibt es nicht“, sagte er und suchte nach einem Halt.

„Was ist denn?“, fragte Hanna.

„Ein teuflischer Trick“, sagte er und riss sich zusammen. „Sie haben irgendwie doch herausbekommen, dass ich noch so ein Teil mit mir rum­schleppe.“

„Was sagt es denn?“

„Eine Nachricht von Emma McDoubt. Aber Emma ist weit entfernt im Weltraum. Das geht nicht.“

Das wusste Hanna auch, trotzdem nahm sie Tony das Gerät aus der Hand. Sie sah kurz auf das intuitive Display, dann drückte sie auf ‚Ver­binden‘. Sie hielt es sich ans Ohr und bekam dann richtig große Augen. Wie in Trance überreichte sie es Tony: „Ist für dich. Emma will dich sprechen.“

Mit einem mehr als ungläubigen Gesichtsausdruck nahm Tony das Gerät an und meldete sich.

Nun, größer konnten die Augen nicht mehr werden, dann: „Emma, wir sind in großer Gefahr.“ Tony berichtete, wo sie sich gerade aufhielten und in welcher Bredouille sie sich befanden. Kurz darauf war das Ge­spräch zu Ende.

„Komm, lass alles stehen und liegen“, verlangte Tony anschließend. „Wir müssen in diese Richtung zum Strand – so schnell wie möglich. Sie holen uns ab.“

„Wie denn?“

„Keine Ahnung. Aber wenn Emma das sagt, dann tun sie es auch. Wir sollen uns bemerkbar machen.“

Sie rannten los. Es war ihnen klar, dass jetzt nur noch Schnelligkeit half. Die Hatz ging über Stock und Stein, wie man so sagt. Tony hoffte, dass sie sich nicht an den Beinen oder Füßen verletzten. Nach 20 Minuten standen sie vor einem größeren Hügel. Ein schmaler Sims führte zur anderen Seite, etwa 50 Meter lang und wirklich nicht sehr breit. Auf der anderen Seite ging es mindestens 30 Meter steil abwärts und mündete auf einem Geröllhaufen. Man sollte dort besser nicht runterfallen.

„Wir müssen da rüber“, sagte Tony.

„Ich habe Angst“, sagte Hanna.

„Ich auch. Keine andere Option. Gesicht zur Wand und dann einen Fuß setzen, den anderen nachziehen. Du gehst vor.“

Hanna holte tief Luft, dann stellte sie sich mit dem Gesicht an die Wand, steckte die Pistole in die Hosentasche und machte sich ans Überwech­seln. Tony wartete, bis die Gute die Hälfte der Strecke absolviert hatte, dann erinnerte ihn das näherkommende Hundegebell, dass Warten eine schlechte Option war. Er hängte sich das Gewehr über und nahm den Revolver zur Hand. Dann folgte er Hanna. Nach viel zu langer Zeit war Hanna glücklich auf der anderen Seite angekommen und musste sich erst einmal setzen. Tony verfluchte die Tatsache, dass Hunde im Spiel waren. Sie waren deutlich schneller unterwegs als Menschen, und dass sie so schnell waren, hatte er nicht einkalkuliert.

Tony! Die Hunde!

Tony befand sich mitten auf dem Sims und der erste Köter war im ge­streckten Lauf in Sichtweite. Tony war genau an dieser Stelle des Pfades etwas wackelig unterwegs, aber er durfte nicht zögern. Er hob den Revolver und spannte den Hahn. In dem Augenblick, als der Hund den Sims erreichte und auf ihn zurannte, brach der Schuss. Der Hund jaulte auf, als das Geschoss in seinen Brustkorb eindrang. Er kam vom Weg ab und stürzte quiekend in die Tiefe.

Nun hatte so ein Magnus-Revolver einen ordentlichen Rückschlag und Tony musste um seine Balance kämpfen, zumal noch etwas Weg unter ihm wegbracht. Hanna schrie auf, aber er konnte sich dann noch an einer Baumwurzel festhalten.

Tony, noch einer!

Tony war schon klar, dass es nach dem Gebell mindestens zwei Hunde waren und der andere dann logischerweise nicht weit entfernt sein konn­te. Daher hatte er gleich wieder den Hahn gespannt und wartete ab. Als er den Hund sah, zitterte seine Hand merklich von der Anstrengung. Dreimal musste er schießen, bevor er den heranrasenden Hund traf. Auch dieser stürzte jaulend in die Tiefe. Tony beeilte sich und war kurz darauf bei Hanna.

„Los, weiter“, sagte er und zog sie mit sich. 

 

Ein paar hundert Meter zuvor schrie jemand panisch: „Meine Hunde, meine Hunde.“ Der Tierbesitzer hatte das Gejaule und natürlich auch die Schüsse gehört. Er stürmte voran.

„Halt“, schrie einer der Soldaten, aber Potofski winkte ab: „Lass den Idioten in sein Verderben laufen. Wir brauchen ihn nicht mehr. Wir wissen jetzt die Richtung.“

 

Anlegestelle des Sturmtruppbootes:

 

Die beiden Soldaten saßen mit dem Rücken gegeneinander auf dem Boots­rand und schauten sichernd nach allen Seiten. Das Boot lag ruhig, obwohl ein gutes Teil vom Heck noch im Wasser lag. Der auf der Back­bordseite hörte etwas hinter sich und reagierte entsprechend: „Hast du was gesagt?“ (Die konnten ja doch sprechen.)

Es kam keine Antwort.

„Ich habe dich etwas gefragt!“

Stille.

Dem Fragesteller wurde es zu bunt. Wenn der Kamerad meinte, er könn­te ihn verarsch… Er schwang die Füße herum ins Boot und ging die paar Schritte.

„Hey“, seine Hand klatschte auf die Schulter des Kameraden, aber der sank langsam nach vorn rüber und fiel vom Bootsrand und schlug schwer mit dem Rücken im nassen Sand auf. Der andere Soldat schaute entsetzt auf die Sonnenbrille des Kameraden. Auf der einen Seite war noch das schwarze Glas zu erkennen, auf der anderen Seite war dieses gesplittert und man sah Blut. Der Überlebende von beiden riss seine Maschinenpistole hoch, aber er konnte 30 Meter weiter nur dichte Bota­nik erkennen. Als er merkte, dass er ziemlich schutzlos dastand und sich in Deckung werfen wollte, war es zu spät. Er spürte einen Stich in der Brustgegend und schaute überrascht auf einen kleinen Stab, der aus der Herzgegend hervorragte. Langsam fiel er nach hinten um. Es gab ein polterndes Geräusch. Erst danach sah man einen ganz in Schwarz gekleideten Mann, der sich zwischen den Blättern und Ästen nach vorne schob.

 

Sturmtrupp:

 

Potofski war mit seinen Männern weit gekommen – bis zum Sims. Weiter unten lagen zwei Hunde und auch der Tierbesitzer. Da kein weiterer Schuss gefallen war, ging Potofski davon aus, dass dieser beim Rettungs­versuch für seine Tiere abgestürzt war. Er zuckte mit den Schultern.

„Du – zuerst!“

Einer der Männer machte sich auf den Weg. Er hatte zehn Meter hinter sich, als er den nächsten losschickte. So waren schließlich vier Männer unterwegs. Der Erste war noch nicht drüben angekommen, als ein Schuss brach und dieser Erste die Arme hochwarf und vom Sims stürzte.

FEUER FREI “, schrie Potofski und brachte sich zunächst in De­ckung. Seine restlichen Männer zielten zwar, konnten aber kein Ziel erkennen.

Der zweite Schuss brach und Potofski sah den nächsten Mann schreiend in die Tiefe stürzen.

Schießt doch endlich “, keifte er seine Leute an.

Diese schossen auch und stanzten eifrig Löcher in die Botanik, während der dritte Schuss von weiter unten das Leben einer seiner Männer auf dem Sims beendete. Potofski schoss wütend Dauerfeuer und erreichte: nichts.

Dann musste er feststellen, dass ein vierter Schuss in Richtung Sims nicht nötig war. Der vierte Mann war in der Not zu eilig unterwegs. Er ruderte heftig mit den Armen, schrie gellend und stürzte dabei zu Tode.

Dann war Ruhe – tödliche Ruhe.

ICH KRIEG DICH “, schrie Potofski voller Wut nach unten – aus der sicheren Deckung heraus.

„Major“, hörte er dann die Stimme eines seiner Männer hinter sich.

„Was ist?“, bellte er und drehte sich um.

Der Mann zeigte auf die See: „Ist das nicht unser Boot?“

Potofski war fassungslos, als er das Boot, in sehr gemächlicher Fahrt, vom Ufer wegdriften sah. Dann loderten Flammen empor. Ihr Schiff brann­te. Dazu die Ausrüstung, das Funkgerät für die großen Reichwei­ten.

„Wir müssen die KOM benutzen und Verstärkung anfordern!“, schlug einer der restlichen Männer vor.

NEIN! MÜSSEN WIR NICHT “, schrie Potofski wutentbrannt. Er hatte nur noch vier Männer.  Er würde die KOM nicht benutzen. In die­sem Augenblick knackte sein Funkgerät. Sollte einer der Männer über­lebt haben?

„Hier Potofski“, meldete er sich aggressiv.

„Dachte ich es mir“, kam er ihm aus dem Gerät entgegen. „Und hier ist dein Albtraum, James. Du wirst diese Insel nicht lebend verlassen. Die KOM kannst du vergessen. Du hast keinen Empfang und kannst nicht senden.“

Hastig zog Potofski sein KOM-Gerät aus der Jacke. ‚malfunction‘ – tat­sächlich. Angewidert warf er das Funkgerät von sich.

„Wer war das?“, fragte einer seiner Leute.

Der Schock saß bei Potofski tief, denn er gab sogar Antwort: „Der Teufel in Person.“

 

Tony und Hanna:

 

„Ich habe noch mindestens fünf Männer gesehen“, keuchte Tony und trieb seine Hanna zur Eile an. Er wartete jetzt nicht mehr darauf, dass noch weitere den Sims betraten. Er hoffte darauf, dass es eine ganze Weile dauerte, bis sie sich wieder darübertrauten. Währenddessen hastete das Paar den Abhang hinunter zum Strand. Sie kamen ins Straucheln und stürzten hin und wieder. Der Boden unter ihnen war glitschig und verhalf ihnen so zu mehr Geschwindigkeit. Das war so lange in Ordnung, wie sie nicht auf Hindernisse prallten. Sie hatten Glück. Sie kamen heil am Strand an.

„Und jetzt?“, fragte Hanna und japste.

Tony erkannte, dass seine Freundin ganz außer Atem war. Viel länger durfte das jetzt nicht dauern, sonst brach sie ihm zusammen. Wo war Emma? Er stützte Hanna etwas und dann flimmerte die Luft etwa 30 Meter vor ihnen. Ein futuristisch aussehendes Fluggerät enttarnte sich. Etwas baumelte aus dem Bauch heraus – eine Art Leiter. Dann sah er Emma daran herunterklettern.

Er hakte Hanna unter, dann schleppten sie sich zu dem Flieger.

Emma kam ihnen entgegen: „Fragen beantworte ich nachher. Rein da – schnell.“

Tony war im Moment alles egal, Hauptsache er konnte seine Hanna in Sicherheit bringen. Er musste anschließend von unten etwas nachschie­ben, sonst hätten die Kräfte doch noch versagt. Schließlich waren sie an Bord dieser Maschine und Emma bugsierte beide auf die zweite Sitzreihe. Emma griff sich das Funkgerät: „Zielperson an Bord.“

„Warten. Ich habe da noch eine Rechnung offen.“

Tony beugte sich nach vorn: „Felipe?“

Emma bestätigte.

„Kein erhöhtes Risiko. Wir haben noch etwas vor, Felipe“, sagte die Commanderin.

„Ich habe verstanden. Kein Risiko. Trotzdem warten.“

Emma bestätigte. Dann beugte sie sich nach hinten. „Hallo Admiral, hallo Hanna.“

Tony fühlte sich verpflichtet, etwas dazu zu sagen: „Meine Frau ist ver­storben und Hanna hat ihren Platz eingenommen.“ Es hatte keinen Zweck, irgendetwas zu verschweigen. Es war halt so. Man konnte sicher­lich später noch genau darauf eingehen. Jetzt war erst einmal wichtig, dass sie in Sicherheit waren und …

Emma wusste, wie Tony zu seiner Frau stand und wie schlimm es in letzter Zeit geworden war: „Mein Beileid und willkommen an Bord.“

Admiral Tony Winter beugte sich vor: „Ich bin gespannt …“

Emma lächelte: „Dürfen wir erst auf Felipe warten?“

Der Admiral grinste erschöpft: „Natürlich.“

 

Major Potofski & Co.:

 

Potofski wusste, dass er dem Spezialisten Felipe Gonzo nicht gewachsen war. Der Portugiese wurde im Allgemeinen Shadow genannt – der Schat­ten. Aber wie passte das zusammen? Potofski interessierte sich eher für seine eigenen Belange und damit zwangsweise für die seiner Vorge­setz­ten. Politik und was sonst noch so vor sich ging in der Welt waren für seine Begriffe zu kompliziert. Er war da eher einfach gestrickt. Aber das wusste er: Der Schatten sollte auf einer Mission in Richtung Mars und darüber hinaus sein. War der Typ nicht mitgeflogen? Potofskis Aufmerk­samkeit wurde abgelenkt durch einen Soldaten, dem offensichtlich die Nerven durchgingen. Er rannte Hals über Kopf zurück. Der Major hatte schon das Gewehr im Anschlag und wollte den Flüchtigen töten, als ihm eine andere Idee kam. Er zählte die Sekunden mit. Bei 30 hörte das Ge­stampfe der schweren Stiefel abrupt auf. Mit voller Ausrüstung konnte ein Soldat, wenn er gut trainiert war, die 100 Meter in 15 Sekunden lau­fen.

„Unser Mann ist noch 200 Meter entfernt“, knirschte er. „Los, wir müs­sen jetzt rüber.“

Die restlichen drei hatten ähnliche Schlüsse gezogen. Das abrupte Be­enden der Schrittgeräusche ließ vermuten, dass der Kamerad aufgehalten worden war – tödlich.

Mit den 200 Metern irrte Major James Potofski. Felipe Gonzo setzte gerade den Compoundbogen ab, den er kurz zuvor zusammenge­schraubt hatte. Der Schatten war viel dichter an Potofski heran, als er dachte. Der Major war mit seinen drei Männern auf dem Sims unterwegs. Der Erste des Trupps hatte die andere Seite erreicht und zog sich schnell hinter irgendwelchen Deckungen zurück.

Potofski drängte zur Eile und bemühte sich verzweifelt zu vergessen, welche Gefahr hinter ihm drohte. Er wusste, dass der Schatten weitaus gefährlicher war. Dann wurde der Seitenmann von einem Stein von oben getroffen. Nicht sehr groß, aber so, dass er das Gleichgewicht verlor. Er schrie und stürzte. Potofski wirbelte herum, als der andere Mann eben­falls schrie. Auch dieser hatte einen Felsbrocken auf den Helm bekom­men und den Halt verloren. Potofski setzte jetzt auf Risiko. Gegen Steine von oben konnte er sich nur dadurch wehren, dass er diesen Sims so schnell wie möglich hinter sich brachte. Er hastete so schnell es ging zur anderen Seite und hätte doch noch fast den Halt verloren, aber ein kräftiger Sprung brachte ihn auf festen Boden. Sofort hastete er weiter und rief per Funk nach seinem letzten Untergebenen. Es kam keine Antwort und Potofski dämmerte, dass er der letzte Überlebende war. Und er wusste auch, warum: Der Schatten hatte sich ihn für zuletzt auf­be­wahrt.

Er musste sich irgendwo verstecken.

So geräuschlos wie möglich bewegte er sich tiefer in das Unterholz. Er hörte es hier mal knacken und dort. Stellenweise gleichzeitig an unter­schiedlichen Stellen. Dabei konnte er nicht unterscheiden, ob es der Schatten oder ein Tier war. Zweimal feuerte er auch Dauerfeuer auf einen bestimmten Bereich. Danach war Ruhe – gespenstische Ruhe. Kein Vogel wagte es, nach diesem Lärm irgendeinen Ton von sich zu geben.

Potofski stand vor einem Baum und schöpfte Hoffnung. So leise konnte der Schatten auch nicht sein.

Doch – konnte er.

Ein leises Plop und Potofski ließ die Waffe fallen. Er spürte einen bren­nenden Schmerz im rechten Oberarm am Schultergelenk. Der Arm war sofort kraftlos. Er sah einen Schaft daraus hervorschauen. Eine fürch­terliche Waffe: Eine Hochleistungseinhandarmbrust. Sie verschoss die Pfeile auf gut 200 Meter zielgenau und hatte eine große Durchschlags­kraft. Potofski stützte sich am Baum hinter sich ab und wollte mit der anderen Hand das Geschoss aus seinem Körper ziehen. In diesem Augenblick surrte etwas und ein Pfeil nagelte den anderen Arm am Baum fest. Potofski schrie auf und dann sah er ihn kommen: seinen Meister. Ganz in Schwarz und ohne Eile kam er auf ihn zu und musterte ihn kurz. Dann zog er ihm das Messer aus dem Gürtel.

 

Kurz darauf, Strand, im Jäger:

 

„Da kommt er“, meldete Steven Huxley und meinte damit eine schwarz gekleidete Gestalt, die ohne besondere Eile und ohne, dass man ihm Strapazen oder gar einen Kampf ansah, aus dem Ufergestrüpp hervortrat und auf den Jäger zuging. Wenig später turnte Felipe geschickt die Falt­leiter hoch und meldete Vollzug. Mit einem Nicken begrüßte er Admiral Winter und Hanna. Dann übergab er dem Admiral einen Kommunika­tor: „Gehörte Potofski – Auftraggeber war die Ratte. Ich schlage vor, dass die Toten von der Insel geholt werden.“ Auffordernd hielt Felipe dem Admiral das KOM-Gerät hin.

Tony Winter lächelte. Man verstand sich. Er drückte ein paar Knöpfe.

 

Salt-Lake-City, UAW-Verwaltungstower, Geheimdienstebene:

 

Eines der vielen KOM-Geräte von Chief Salvatore Townsen meldete sich. Der Chief wurde aufmerksam. Es war das von Potofski.

„Das wurde auch Zeit“, meldete er sich vorwurfsvoll.

„Ich befürchte, dich enttäuschen zu müssen, Salvatore“, hörte er dann und ihn überlief es heißkalt. Das war die Stimme von Admiral Winter. „Bestell der Präsidentin von mir einen schönen Gruß und hol deine Leute von der Insel. Ach ja, bevor ich es vergesse: bring Leichensäcke mit.“

Danach wurde aufgelegt.

Man hatte die Ratte schon oft fluchen gehört, aber noch nicht so. Gut, dass es sich um ein abhörsicheres Büro handelte.