1. Kapitel

Litsa, 1824

Der Hase hatte ein flauschiges Fell. Es war so weich, und seine kleine Nase mit den feinen Härchen zitterte. Sie hielt ihn an sich gepresst, hatte ihn dabei beobachtet, wie er durchs Gebüsch hoppelte, und er hatte so winzig und einsam ausgesehen. Bestimmt hatte er keine Mama und brauchte jemanden, der auf ihn aufpasste.

Sie würde ihn mit hinabnehmen, sobald sie in die Höhle zurückkehrte, aber noch genoss sie die frische Luft und die Sonnenstrahlen, obwohl ihre Mutter Aelia ihr verboten hatte hinauszugehen. Sie hatte sich fortgeschlichen, als die Mutter das Baby an die Brust nahm und ihre Augenlider vor lauter Müdigkeit zu flattern begannen. Obwohl die Höhle sehr groß war und mit ihren kleinen Einbuchtungen und Unterteilungen durch die Steine, die aus dem Boden und von der Decke wuchsen, Raum für viele Menschen bot, war es doch laut und voll dort. Es waren sehr viele Mütter und Kinder und nur ein paar wenige Männer, die auf sie achtgaben. Die Lehrerin hatte gesagt, es seien rund dreihundertsiebzig Menschen, die in der Höhle voller Zauber Schutz suchten vor den bösen Leuten.

Sie hatten ihr Zuhause verlassen und nur wenige Dinge mitgenommen, deshalb wollte sie nun wenigstens den kleinen Hasen behalten. Doch sie ängstigte sich, dass die Männer ihn an einem Stock über dem Feuer braten würden, anstatt ihn ihr zum Liebhaben zu überlassen.

Sie lehnte sich an einen Stein und kraulte den flauschigen Nacken. Er war so süß, und sie hatte ihn schon jetzt so gern, sie konnte ihn unmöglich sich selbst überlassen. Es war Nachmittag, und wenn es dunkel würde, fürchtete er sich gewiss. Sie hatte auch oft Angst, denn in der Höhle gab es nur eine kleine Feuerstelle, weil der Rauch nicht gut für sie alle war und beim Einatmen in der Lunge brannte.

Morgens fand Schulunterricht für die Kinder statt, und sie lernten zu rechnen, Geschichten zu erzählen und ihre Namen zu schreiben. Das war vorher nicht so gewesen, denn da mussten sie auf den Feldern und beim Ziegenhüten helfen. Insofern hatte es auch etwas Gutes, dass sie aus dem Dorf geflohen waren. Denn in der Höhle durften sie viel mehr spielen, auch wenn sie immer darauf achten mussten, nicht zu laut zu sein. Nach draußen durften sie nur ganz selten und nur, wenn die Männer ganz genau nachgesehen hatten, dass keines der bösen Monster in der Nähe war. Ihr Papa, Manolis, war mit vielen anderen Papas fortgegangen, um gegen die Bösen zu kämpfen und sie fortzujagen. Erst wenn die Monster alle tot oder geflüchtet waren, würden sie die Höhle verlassen und ins Dorf zurückkehren.

Sie hatte aufgehört zu fragen, wann das sein würde. Anfangs wollte sie es noch jeden Tag von der Mutter wissen, doch die zuckte immer nur mit den Schultern und sah so aus, als wollte sie gleich weinen. Also fragte sie nicht mehr, hoffte aber jeden Tag und betete zu Gott, dass ihr Papa viele der bösen Männer umbringen würde.

Das kleine Tier in ihrem Arm begann, heftig mit den Ohren zu zucken, und drängte sich plötzlich eng an sie. »Hab keine Angst, mein Kleines«, flüsterte sie dem Hasenkind zu und streichelte ihm mit langen Strichen über den Rücken. Sie musste überlegen, was sie nun machen sollte. Ihre Sorge, dem kleinen Kerlchen zu schaden, wenn sie es in die Höhle schmuggelte, war groß, aber ein kleines schutzloses Kind war hier draußen doch auch in Gefahr. »Du musst ganz still sein, wenn ich dich mit hinunternehme«, sagte sie und schaute dem Hasen in seine dunklen wissenden Augen. Er konnte sie verstehen, dessen war sie sich ganz sicher.

Dann hörte sie, was das Fellknäuel wahrscheinlich schon vernommen hatte: Stimmen näherten sich der Höhle. Sie konnte sie sehr gut hören, und sie wusste, sie waren nah. Die Worte klangen kehlig und unverständlich, aber ihr war sofort klar, dass die Situation zu bedrohlich war, um nun aufzustehen und zu der Öffnung zu laufen, die hinab in die schützende Höhle und in die Arme ihrer Mutter führte. Ängstlich drückte sie sich an den noch sonnenwarmen Stein, zerdrückte dabei wohl einige Oreganopflanzen, denn der typische Duft des Gewürzes stieg ihr in die Nase, und ihr Magen begann auffordernd zu knurren.

Dann sah sie die Männer, denen die Stimmen gehörten, und blickte erstaunt auf die sonderbaren Kopfbedeckungen, die sie trugen: Anscheinend hatten sie sich Tücher umgewickelt und Federn und Tand hineingesteckt. Manche hatten auch Hüte auf, die wie kleine Eimer aussahen, nur dass sie bunt waren. Sie trugen lange Gewänder und an den breiten Gurten und Gürteln konnte sie Waffen erkennen, die im Sonnenlicht blitzten. Das waren die Teufel! Sie kamen und würden sie entdecken und dann all die furchtbaren Sachen mit ihr machen, vor denen ihre Mutter sie stets gewarnt hatte. Sie wollte nicht, dass man ihr die Eingeweide herausriss, während sie dabei zusah, denn sie war sich sicher, dass das sehr wehtat. Sie konnte nicht mehr zurück in die schützende Höhle, der Feind war schon zu nah. Sie presste den Hasen ängstlich an sich, doch offenbar fügte sie dem Tier Schmerzen zu, denn es begann mit seinen kleinen Krallen um sich zu schlagen. Eine ritzte ihre Hand, und ein blutiger Kratzer erschien. Dann zappelte der kleine Kerl wild, und sie konnte ihn nicht mehr halten. Das Tier hoppelte durch das Gebüsch davon, und sie presste die Hand mit dem Riss an ihren Mund, um nicht vor Panik aufzuschreien.

Die Männer postierten sich vor dem Eingang. Sie stiegen nicht hinab, sondern warteten auf weitere wild aussehende Kerle, die begannen, Steine von hölzernen Wagen herunterzuheben und sie vor dem Eingang der Höhle aufzustapeln.

 

Als es dunkelte, war der Zugang nicht mehr zu sehen, nur einige Lücken in der steinernen Mauer zeigten, dass dort einst das große Loch gewesen war, durch das man hatte hinabgehen können. Sie hatte sich mittlerweile eingenässt und fror erbärmlich, traute sich aber nicht, sich zu bewegen. Diese Kerle schleppten Reisig und knorriges Olivenholz herbei. Würden sie jetzt gemütlich hier hocken und sich etwas zu essen über den Flammen zubereiten? Sie verstand die Männer nicht, die nun ein qualmendes Feuer entzündeten und dabei sonderbare lachende Laute von sich gaben. Als der Rauch durch die Lücken der Steine kroch, bekam sie noch mehr Angst.

Irgendwann hörte sie dumpfe Schreie aus der Höhle. Es dauerte sehr lange, bis sie verstummten, und währenddessen tanzten die Teufel mit wilden Gesängen, und der Feuerschein warf ihre Schatten an die Felswände. Sie spürte ihre Beine nicht mehr, und ihre Hände kribbelten von der Sitzposition, in der sie bewegungslos verharrte.

Erst als die Männer schlafend neben dem glühenden Feuer zur Ruhe gekommen waren, kroch sie davon, folgte dem kleinen Hasen, der wohl gewusst hatte, wo er sicher war, und kam vor lauter Angst kaum voran. Sie wusste nur, dass sie nicht mehr in die Höhle zurückkonnte und dass sie vor den grausamen Wesen fliehen musste.