3. Kapitel

Litsa, 1824

Ihre Knie waren aufgeschürft und eine helle Flüssigkeit tropfte aus den Wunden. Sie konnte den Gestank riechen, der davon ausging, wenn sie versuchte, sich zusammengerollt auszuruhen. Der Hase war fort, genau wie all die Menschen, zu deren Gemeinschaft sie noch vor wenigen Tagen gehört hatte. Nun war sie allein.

Sie hatte bisher nicht gewusst, was das bedeutete, denn immer war jemand da gewesen. Bevor der Vater mit den anderen Männern in die Berge aufgebrochen war, war ihre Mama stets um sie herum gewesen. Ihre Yaya kochte für sie und nahm sie mit zu den Carobbäumen, um diese mit den anderen Frauen des Dorfes zu pflegen und die Früchte zu ernten. Nikos – ihr winziger Bruder – lag in seinem Körbchen und lutschte fröhlich glucksend an seinen rosigen Händchen. Sie sah ihm begeistert dabei zu, wie er es schaffte, auch die kleinen süßen Zehen in den Mund zu stecken. Nachts schliefen sie alle gemeinsam in einem Zimmer, und sie kuschelte sich an ihre Eltern. Doch dann mussten sie in die Höhle, und der Vater ging fort. Sie weinte oft, denn sie vermisste ihn – aber auch, weil die Mutter immer trauriger und kraftloser wurde.

Litsa wusste, dass Mutter und Vater sich sehr lieb hatten, und sie versuchte, ihrer Mama Trost zu spenden, wann immer sie konnte. Nachts nahmen sie sich auf ihrem Lager in die Arme, doch es war anders als zu Hause im Kreise ihrer Lieben. Um sie herum weinten viele Mütter und Großmütter leise, sobald es dunkel wurde. Sie begriff schnell, dass alle Angst vor den Teufeln hatten und sich um die eigenen Männer in den Bergen sorgten. Doch sie waren eine Gemeinschaft und man war nie allein gewesen.

Als sie nach dem Schock über das, was an der Höhle geschehen war, instinktiv die Flucht ergriffen hatte, hatte sie nicht nachgedacht, wohin sie fliehen wollte: Nur fort – das war der einzige treibende Gedanke gewesen. Vielleicht hatte sie gehofft, den flauschigen Hasen wiederzufinden und mit ihm im Arm Trost zu erfahren. Doch ihr war bisher kein Lebewesen begegnet, während sie angsterfüllt auf allen vieren durch das Gebüsch gekrabbelt war. Sie hatte auf nichts geachtet, denn die blinde Furcht hatte sie weggetrieben von den tanzenden Monstern. Ihre Finger hatten sich mehrfach an stacheligen Büschen festgeklammert, und die Fingerkuppen brannten mittlerweile und waren blutig. Der getrocknete Urin in ihren Kleidern roch furchtbar.

Dann war der Durst gekommen. Sie hatte nicht gewusst, wie entsetzlich es war, durstig zu sein, und vor lauter Verzweiflung war sie dazu übergegangen, Blätter von Büschen und Bäumen zu reißen, sie zu zerkauen, um so ein winziges bisschen Flüssigkeit aufzunehmen. Zweimal hatte sie sich bereits erbrechen müssen, und auch davon war einiges auf ihrer Kleidung gelandet.

Sie war müde, spürte, wie der Durst sie schwach machte und der Hunger in ihren Eingeweiden knurrte. Immer wieder wollte sie nach ihrer Mama rufen, doch etwas in ihr sagte ihr, dass die Mama sie nie mehr würde hören können. Die Teufel hatten sie getötet. Genau wie ihre Großmutter – ihre Yaya – und Nikos. Sie hatte bereits Menschen sterben sehen und wusste, was der Tod bedeutete: einen immerwährenden Schlaf. Es waren in letzter Zeit häufig Leute für immer eingeschlafen. So hatte ihre Yaya es ihr erklärt: Es war ein ewiger Schlaf, aus dem man eben nicht mehr erwachte.

Litsa hatte gesehen, wie die Dorfbewohner Löcher im Boden ausgehoben hatten, um die Körper dort hineinzulegen und sie dann wieder zuzuschütten. Grauen hatte sich in ihr breitgemacht, als sie gesehen hatte, dass man Erde auf die Gesichter der Toten warf. Sie wollte nicht tot sein, wollte keine Erde in ihrem Mund und ihrer Nase haben. Sie wollte dies auch nicht für den kleinen Bruder, dessen Mündchen im Schlaf immer leicht geöffnet war. Das, was ihr die Kraft gegeben hatte, von dem Ort der schrecklichen Geschehnisse zu fliehen, schien sich verflüchtigt zu haben, und übrig waren die Furcht vor dem Tod, vor dem Alleinsein, vor dem Durst und dem nagenden Hunger.

Doch ihr Körper schien sich trotz aller erlebter Schrecken zu verselbstständigen. Er wollte weiter fort, und Meter um Meter bewegte sie sich voran, verletzte sich weiter an den niedrigen dornigen Büschen, blutete aus vielen schmalen Striemen. Obwohl sie ein kleines, vollkommen verängstigtes Mädchen war, schien eine schier unendliche Stärke in ihr zu wohnen, die ihr die Energie gab weiterzufliehen.

Die zweite Nacht war bereits vergangen, und sie hatte sich, sobald die Furcht einflößende Dunkelheit die Natur in schaurige Schatten tauchte, an einem Busch oder an einem Felsen zusammengekauert und zu dem allmächtigen, gütigen Gott gebetet, sie zu beschützen. Auch wenn sich leise Zweifel in ihrem Kopf regten, wie es sein konnte, dass ein gütiger Herr es zuließ, dass Nikos nicht mehr gurrend lachen konnte und sie, vollkommen auf sich gestellt, vor den Teufeln fliehen musste. Sie war ein Kind. Kinder brauchten ihre Eltern, ihre Familien und die ganzen anderen Leute, die sich um sie kümmerten. Sie hatte einen Fehler gemacht und sich, ohne zu fragen, aus der Höhle entfernt. War das vielleicht die Strafe? Gottes ausgestreckte Hand, die sie sogleich für die Missetat büßen ließ und ihr alles nahm, was sie zum Leben brauchte? Ihre Yaya hatte oft davon gesprochen, dass Gott die Seinen prüfe, aber er strafe eben auch, wenn man ihn ignorierte. Hatte sie – indem sie das Verbot der Mutter unbeachtet ließ – Gott missachtet, und jetzt zeigte er ihr, wie grausam die Welt war, damit sie verstand, dass man Gott nicht erzürnen durfte? Würde er ihr ihre Familie wiedergeben, wenn sie ihn nur genügend um Verzeihung bat und ab jetzt immerzu seinem Wort folgte?

Ihre Hände schmerzten, und sie konnte sich kaum noch richtig festhalten, wenn sie Anhöhen erklimmen oder Unwegsamkeiten überwinden musste.

»Diptam heilt jede Entzündung«, hörte sie die sanfte Stimme ihrer Mutter, und erleichtert drehte sie sich um, in der Gewissheit, dass die Mama hinter ihr stand und sie sich einfach nur in ihre Arme werfen musste, damit sich alles als böser Albtraum entpuppte. Sie übersah einen spitz herausragenden felsigen Brocken, und während sie stolperte und fiel, wurde ihr erneut bewusst, dass sie allein war. Die Stille durchbrachen nur einige Vögel und jetzt ihr eigener Schrei, als sie stürzte und mit dem Rücken über die raue steinige Oberfläche schrappte, während sich ihr krauses Haar in einem Busch verhedderte und sie zurückzuzerren schien.

Es tat weh. Sie wollte weinen, wollte ihre Mama bei sich haben, wie sie tröstend den Arm um sie legte und sie an den nach Oregano und Muttermilch duftenden Körper presste. Doch ihre Augen blieben tränenleer. Sie war so ausgetrocknet, dass sie nicht einmal mehr weinen konnte. Auch ihre Stimme versagte nach dem Sturz, und aus ihrem Mund kamen nur leise wimmernde Töne, mehr nicht. Sie würde einfach hier liegen bleiben und sich ausruhen – nur für einen Moment. Nur für einen … kurzen … Moment.

Dann verlor sie das Bewusstsein.