4. Kapitel

Carsten, Gegenwart

Er erhob sich von dem recht bequemen Sitz der Businessclass und streckte sich. Die Stewardess in der dunkelblauen Uniform lächelte ihn an, und er dachte erneut, dass ein Auswahlkriterium für die Flugbegleiterinnen deren Schönheit sein musste. Auch wenn das ganz und gar nicht der Zeit entsprach.

Eine junge Mitarbeiterin versperrte den Durchgang, sodass er und vier weitere Personen einen Transferbus für sich allein bekamen. Egal, wie snobistisch ihm das oft erschien: Er genoss diesen Service, erklomm dann die legendären Stufen zum Flughafengebäude und atmete dabei ganz bewusst die warme, salzhaltige Luft ein.

Im Gebäude entschied er sich für die normale Treppe, froh darüber, sich ein wenig bewegen zu können, bevor er sich am Kofferband platzierte, um auf sein Gepäck zu warten, das die Dame am Schalter in Deutschland mit einem neonorangefarbenen Aufkleber markiert hatte, auf dem fett Priority prangte. Den Rucksack mit seinen wichtigsten Arbeitsutensilien hatte er auf dem Rücken und mit dem eng sitzenden Brustgurt gesichert.

Nach und nach kamen die anderen Fluggäste ebenfalls am Band an und platzierten sich frech direkt davor, sodass man sie quasi beiseiteschieben musste, um ein Eckchen des eigenen Koffers im Vorbeifahren zu erhaschen. Heute war es besonders nervtötend. Er hatte zwar den Beginn der Diskussion nicht mitbekommen, beobachtete aber nun die Eskalation, als eine Frau mit Gehstützen eine davon anhob und ganz offensichtlich laut fluchend damit auf ein Pärchen einschlug, das ein Gepäckstück vom Band ziehen wollte. Er überlegte kurz, ob er sich einmischen sollte, doch dann hielten schon zwei jüngere Frauen die ältere zurück und wirkten beruhigend auf sie ein. Zumindest ließ die Dame im Anschluss die schlagkräftige Gehstütze sinken und sich zu einem der Sitzplätze in der Nähe geleiten. Er konnte noch aus dem Augenwinkel sehen, wie andere Reisende die Handys senkten, und war sich sicher, dass die kleine Schlägerei in Kürze im Netz zu finden sein würde. Vielleicht sollte er die Filmenden darauf hinweisen, dass Persönlichkeitsrechte zu verletzen kein Kavaliersdelikt war? Doch er verkniff sich die Klugscheißerei und machte sich daran, seinen Koffer zu finden, der mittlerweile schon dabei war, eine Runde durch die Halle zu fahren.

Kurz darauf zog er das verbeulte Ding nach draußen und stellte erneut fest, dass es ein sehr warmer Tag gewesen sein musste, denn trotz Einbruch der Dunkelheit lief ihm der Schweiß in einem langen Rinnsal den Rücken hinunter. Er schaute sich suchend um, denn der Autovermieter hatte ihm den Flocafé-Stand als Treffpunkt genannt.

Carsten hatte sich für die Zeit seines Aufenthalts einen kleinen Geländewagen gemietet, denn er wusste, dass es besser war, etwas Bodenfreiheit zu haben, wenn er all seine Vorhaben in die Tat umsetzen wollte. Er hatte in vielen Reiseführern diesen Tipp immer wieder gefunden und sich für einen Suzuki Jimny entschieden.

Um ihn herum sirrten Stimmen in vielen Sprachen, und Menschen strömten auf die Schalter der Reiseunternehmen zu, um den Transfer zum Hotel zu finden. Er genoss das Treiben und entdeckte den Meetingpoint kurz hinter dem Eingang der Abflughalle. Suchend blickte er sich um, denn dort standen einige Leute, füllten Unterlagen aus und zuckelten mit ihrem Gepäck auf diverse Kleinwagen zu.

»Hallo, Carsten?« Ein älterer Herr kam mit einem breiten Lächeln im Gesicht auf ihn zu. »Ich bin Menelaos, wie geht es dir?« Er sprach ein paar Worte Deutsch, und sie unterhielten sich über den Flug, während der gestandene Autovermieter ihn um Ausweis und Führerschein bat, um die nötigen Formalien zu erledigen. Dann überquerten sie den Vorplatz des Flughafens, und kurze Zeit später saß er in dem weißen Jeep mit Faltdach und fuhr konzentriert in Richtung Nationalstraße.

Für seine ersten Nächte hatte er ein kleines Apartment in Lygaria gebucht. Der Ort war kaum eine halbe Stunde vom Flughafen entfernt und lag direkt am Meer. Er hatte seine Reise mit Bedacht geplant, wusste aber, dass es vor Ort doch immer wieder Hürden zu überwinden gab und Pläne entsprechend angepasst werden mussten. Daher hatte er sich in dem beschaulichen Örtchen eingemietet, um in Ruhe anzukommen und sich zu sortieren. Auch wenn die Reportage klar umrissen war, so waren da noch einige Themen mehr, die ihn beschäftigten.

Das vergangene Jahr hatte sein Leben gewaltig durchgeschüttelt. Er war sich mehr als einmal so vorgekommen, als hätte man ihn entwurzelt, und es war ihm nur notdürftig gelungen, sich nicht vollkommen heimatlos und verloren zu fühlen. Wenn sich alles, was man bisher als normal empfunden hatte, plötzlich als falsch herausstellte, katapultierte einen das gewaltig aus der Umlaufbahn. Nicht, dass sein Leben bisher in linearer Gleichförmigkeit verlaufen wäre …

Er hatte die Netflix-Serie Stranger Things sehr gemocht: Der Erzählfluss, die Achtzigerjahre, in denen er ähnlich alt gewesen war wie die Protagonisten, Musik und Setting, alles war fesselnd eingesetzt. Doch die parallele Welt, die dunkel und kalt war, vom Bösen durchdrungen und nur darauf wartete, das Gute zu verschlingen – die war ihm immer als Narrativ der Filmemacher erschienen. Es war schlicht unrealistisch, denn Tore in andere Dimensionen gab es nicht, auch wenn die Gesetze der Quantenmechanik Paralleluniversen durchaus für möglich erachteten. Er hatte eine gut recherchierte Arte-Dokumentation zu diesem Thema angeschaut, und noch lange war deren Inhalt durch seinen Kopf gegeistert.

Aber sich ähnelnde Welten waren anders gestrickt als Dimensionen, in denen alles, was man bisher für gut gehalten hatte, plötzlich böse wurde. Er war noch immer nicht bereit, an Tore zu glauben, doch mittlerweile war er vollkommen davon überzeugt, dass alle Menschen aus Hell und Dunkel bestanden – aus Gut und Böse – und es nur eine Frage der Umstände war, welcher Anteil zutage trat, um die Macht zu übernehmen.

Diese Erkenntnis hatte ihn erschüttert, und auch wenn ihm im Zuge seiner Tätigkeit als Kriegsberichterstatter schon so viel Grausames begegnet und er dadurch mehr als einmal in brenzlige Situationen geraten war, so war es doch erheblich leichter gewesen, Menschen als Schafe zu betrachten, die einigen Bösewichten folgten. Dieses Weltbild trug eine gewisse Einfachheit in sich, die er gerade in diesem Kontext nur zu gern kultiviert hatte. Doch so war es eben nicht! Gewiss gab es jene Schafe, die blindlings in eine vorgegebene Richtung rannten, aber das Gros der Menschheit entschied sich bewusst für die eine oder die andere Seite. Natürlich hatte er das schon von Kindesbeinen an im Geschichtsunterricht gelernt, und doch war alles ferne Theorie geblieben. Man hatte nur in dem Rahmen hinterfragt, der möglich gewesen war, hatte Antworten geglaubt oder eben auch nicht. Hatte Schlagzeilen aufgeworfen, die provozierten, und war dann zum nächsten Auftrag übergegangen.

Vielleicht hatte ihn all das, was er in seinem Leben schon an Grausamkeit und Gewalt gesehen hatte, auch stumpf gemacht. Dieses Stumpfsein hatte er sich jedoch nie eingestehen wollen, das war nur anderen Menschen passiert – weniger professionellen Kolleginnen und Kollegen –, aber nicht ihm. Reportagen über ironisch scherzende Ärzte, die Witze rissen, während ihre Hände versuchten, von Tellerminen zerfetzte Körper wieder zusammenzuflicken, hatte er diesen speziellen Persönlichkeiten zugeordnet, denn es waren ja grundsätzlich schon besondere Leute, die Chirurgen wurden, und noch »besonderere«, wenn sie in Kriegsgebieten im Einsatz waren.

Er schüttelte unwirsch den Kopf und versuchte, sich zu orientieren. Diese Gedankenkonstrukte rissen ihn mittlerweile regelmäßig aus der Realität, und wenn er wieder auftauchte, konnten mehrere Minuten vergangen sein, ohne dass er konkret hätte sagen können, was währenddessen geschehen war. Hatte er die Abfahrt in den kleinen Badeort schon verpasst?

Er griff nach seinem Handy und tippte rasch auf den Google-Maps-Link, dann nahm er erleichtert wahr, dass die Ausfahrt erst in zwei Kilometern kam. Er schaute auf die Straße, fuhr mit zwei Rädern auf dem Standstreifen, um einem schnelleren Fahrzeug hinter sich Platz zu machen, und erhaschte nun immer wieder den Blick auf das im Mondlicht schimmernde Meer. Es war schön. Wenigstens das war gut. Die Schönheit der Insel hatte etwas Magisches – zumindest hatte er das in jeder Menge Foren und Reiseführern gelesen.

Widersprüchliche Gefühle wallten für einen kurzen Augenblick in ihm auf, und er schimpfte sich selbst einen Narren, sich so um den Auftrag bemüht zu haben und nun auf dieser griechischen Insel unterwegs zu sein. Er bog von der Nationalstraße ab, der Begriff klang im Zusammenhang mit der mittelmäßig ausgebauten Fahrbahn in teils schlechtem Zustand sehr beschönigend, und schlängelte sich auf einer schmalen kurvigen Straße hinab in das Dorf. Die Google-Stimme quäkte bis zur Unkenntlichkeit verzerrte griechische Namen durch den Lautsprecher seines Handys, und er hielt seinen Blick nun auf den Weg gewandt, um nicht versehentlich falsch abzubiegen und dann im Dunkeln irgendwo herummanövrieren zu müssen.

»Sie haben Ihr Ziel erreicht. Das Ziel liegt auf der rechten Seite«, blökte das Smartphone, und er war froh über diesen Hinweis, da sich links von ihm ein Parkplatz und das Meer befanden.

»Super, dass ich nicht im Wasser schlafen muss«, sagte er zu dem Mobilgerät und kam sich für einen Moment albern vor, dann schüttelte er über sich selbst den Kopf, stellte den Wagen ab, schulterte den Rucksack, zog den weit gereisten Koffer vom Rücksitz und schloss das Dach des Suzuki Jimny so gut wie möglich. Er schaute sich um, sah das Schild mit dem Namen der Villa, in der er das Apartment gemietet hatte, und ging auf die nahe gelegene Taverne zu, um den Schlüssel in Empfang zu nehmen.

Die Wellen schlugen sanft an den Strand, und er konnte erkennen, dass die Bucht durch einige Felsen geschützt war. Er sah die Lichter der Restaurants an der kurzen, aber einladend aussehenden Promenade, und der Wind wehte Fetzen griechischer Weisen zu ihm herüber. Er musste darauf achten, sich nicht versehentlich im Urlaub zu wähnen, denn das war er ganz und gar nicht.

Plötzlich überkam ihn jene tiefe Müdigkeit, die er in den vergangenen Monaten immer wieder empfunden hatte, so, als wäre er lange durch nassen, hüfthohen Sand gewandert. Er schob es auf die Reise, die leichte Zeitverschiebung, das Wetter und den mangelnden Schlaf der letzten Nächte. Doch mit der Müdigkeit kam auch die Leere, die wie ein betäubender Luftstoß durch ihn hindurchpustete und seine Gedanken unendlich schwer werden ließ. Eben im Auto hatte er die Vorboten schon erkannt, aber gehofft, es im Griff zu haben. Sich im Griff zu haben, doch die Depression folgte keinen Anweisungen.

Das durfte jetzt nicht sein, er konnte sie hier nicht brauchen, nicht heute und auch nicht in den kommenden Tagen.

Er stieß die Tür zur Taverne so hart auf, dass sie mit einem satten Wumms an die Wand knallte. Alle Köpfe drehten sich und alle Blicke ruhten auf ihm. Dann rief eine fröhliche Frauenstimme: »Carsten!« Es war mehr eine Aussage als eine Frage, so, als würde sie ihn bereits kennen. Er nickte schnell, und die anderen Gäste nahmen ihre Gespräche wieder auf.

Die betagte Dame kam auf ihn zugerauscht – anders konnte er das nicht beschreiben. »Carsten, mein Junge, setz dich, setz dich. Ich bringe dir einen hausgemachten Likör und ein paar Meze. Du bist sicher vollkommen ausgehungert.«

Er wollte widersprechen, ihr erklären, dass er müde war und allein sein musste, doch sie legte ihren Arm mütterlich um seine Schultern und schob ihn auf die Terrasse zu einem Tisch. Ihre Stimme transportierte ehrliche Freundlichkeit, aber er war wirklich geschafft. Es wäre keine Ausrede. Sie drückte ihn auf einen Stuhl und wiederholte: »Setz dich, Junge, setz dich. Du bist ja schon ganz blass vor Hunger.« Dann drehte sie sich um, ihre Armreife klimperten bei dieser Bewegung sanft, und rief: »Toma, bring dem Jungen unsere Begrüßungsleckereien.« Sie ließ sich derweil auf den zweiten Stuhl am Tisch fallen und fragte: »Wie war der Flug? Ging alles gut? Diese Dinger sind mir noch immer sehr unheimlich. Haben sie euch wenigsten etwas zu trinken serviert, die werden doch immer geiziger in diesen Fliegern. Ich höre da Sachen …«

Er lächelte matt und wunderte sich nicht einmal über die vertrauliche Anrede. Sie war eine Art Naturgewalt. Er versuchte, sie genauer zu betrachten, ohne wie ein starrender Psycho zu wirken: Ihr Gesicht war braun gebrannt und um die Augen, Mundwinkel und auf der Stirn zeichneten Falten Lebenserfahrung in ihre Züge. Das Haar war glatt und dunkel. Sie trug es offen. Er fand es gut, obwohl es jede Menge Leute gab, die ohne ersichtliche Argumentationsgrundlage das Statement in die Welt posaunten, dass ältere Frauen besser eine fesche Kurzhaarfrisur haben sollten oder, wenn sie das Haar lang trugen, dann zumindest als Knoten am Hinterkopf. Es war sonderbar, wo Emanzipation überall endete und wie oft die harschen Verurteilungen gerade von Geschlechtsgenossinnen formuliert wurden. Er fand, dass ihr die Frisur ausgezeichnet stand. Ihr Kleid war lang und wallend, ihre Figur fraulich.

»Ich bin übrigens Fotini. Toma, soll der Junge verhungern und verdursten?«, kommandierte sie, und Carsten konnte trotzdem das Lächeln in ihrer Stimme hören.

Ein Mann, den Carsten als ungefähr gleichaltrig mit sich einschätzte, kam mit einem Tablett voller Schälchen und Teller angetrabt, nickte kurz in Richtung der Frau und sagte: »Meine Mutter meint es nur gut. Wir freuen uns, dass du da bist. Du bleibst nur kurz. Das ist schade, denn hier bei uns ist es wirklich wunderschön.« Das Englisch des Mannes war leichter verständlich als das seiner Mutter. Tomas stellte einige duftende Kleinigkeiten auf den Tisch, goss ihm ein Glas des dunkelroten Likörs ein, den er in einer kleinen Glasflasche mitgebracht hatte, und kredenzte auch seiner Mutter ein Glas.

»Danke, das wäre doch wirklich nicht nötig gewesen«, bedankte sich Carsten überwältigt. Er hatte auf seinen Reisen schon häufig mit der Gastfreundschaft der Einheimischen Bekanntschaft gemacht, doch daran wollte er jetzt nicht denken und konzentrierte sich auf die Frau ihm gegenüber.

Fotini begann zu erklären, was er vor sich hatte: »Das ist Granatapfellikör. Den habe ich selbst gemacht. Nach einem Rezept meiner Großmutter. Eine Tradition also und noch dazu wirklich lecker. Also noch einmal: Willkommen auf Kreta, Carsten. Yámas!«

Während sie das Getränk munter hinabkippte, nippte er vorsichtig. Normalerweise trank er keinen Alkohol, vor allem dann nicht, wenn die Depression ihn im Würgegriff hatte, denn das ging nicht gut aus. Er hatte schon oft versucht, sie zu ertränken, und es war ihm nicht besser gegangen, sondern um ein Vielfaches schlechter. Doch in diesem Augenblick schien es ihm unhöflich, nicht zu kosten. Die freundliche Wärme der Gastgeberin strahlte über den ganzen Tisch und erreichte seine Haut. Er konnte sie zumindest dort spüren, und das war besser als nichts. »Yámas, Fotini«, erwiderte er und spürte, dass er das nicht nur aus Höflichkeit tat, sondern weil gerade vielleicht ein Funken der Kretamagie auf ihn übergesprungen war und er sich für den Moment eines Blinzelns sogar geborgen fühlte. Das war doch verrückt. Gaben sie Drogen in ihre Getränke, um die Gäste gefügig zu machen oder gar zu überlisten? Gleich am ersten Abend? Nein, das wäre mehr als dumm. Konnte es sein, dass die Frau ihm gegenüber einfach liebenswürdig war, weil sie das Herz am rechten Fleck trug und das ungefiltert zeigte?

Er griff sich den Löffel und schob sich eine Portion des hellgelben Pürees in den Mund. »Hm.« Er war erstaunt darüber, dass die Fava, eine leckere Linsencreme, so gut schmeckte. Er spürte, wie die Anspannung aus seinem Körper wich, und nahm sich vor, den Augenblick zu genießen. Morgen war schließlich auch noch ein Tag.