5. Kapitel

Katharina, Gegenwart

Die Welt war über ihnen allen zusammengebrochen, als Andreas und Giorgos im Dikti-Gebirge verunglückt waren. Andreas, ihr geliebter Vater, war dort oben in den Bergen gestorben, als das Aneurysma in seinem Gehirn platzte, seinen Bruder Giorgos hatte man aus dem abgestürzten Porsche gerettet und ins Krankenhaus geflogen, doch er war kurze Zeit später seinen Verletzungen erlegen. Gott sei Dank war durch eine Obduktion sichergestellt worden, dass Andreas an der Hirnblutung verstorben war und nicht durch die Hand seines Bruders. Die Hand eines vermeintlichen Mörders!

Katharina dachte darüber nach, wie es überhaupt zu dieser Fahrt in die Berge und dem vorausgegangenen Mordverdacht gekommen war. Eine junge Frau hatte ein Skelett in der Samaria-Schlucht gefunden, und im Zuge der Ermittlungen war ein Kommissar aus Irakleio auf Katharinas Familie gestoßen. Einer ihrer ehemaligen Mitarbeiter war nach Auskunft von dessen Frau zu diesem Zeitpunkt bereits seit sechs Jahren spurlos verschwunden. Dimitris Zacharakis war Personalchef im Hotel ihrer Familie in Agios Nikolaos gewesen und hatte nach Angaben ihres Onkel Giorgos damals mehrfach versucht, die Familie Dalaras zu erpressen. Laut dem Polizeibericht und der Beichte, die Giorgos nach dem Absturz mit dem Porsche auf dem Sterbebett abgelegt hatte, war Zacharakis’ Tod ein Unfall gewesen. Giorgos hatte ihm angeblich das Geld dort überreichen wollen, und es war zu einem Handgemenge gekommen, das für den Erpresser tödlich ausgegangen war. Allerdings war die Samaria-Schlucht wirklich ein sonderbarer Ort für ein Treffen dieser Art, und ihr Onkel hatte das verlassene Dorf unten in der Schlucht sicher nur unter immensen Anstrengungen erreicht.

Katharina ging daher nicht davon aus, dass man sich dort einfach zu einer Geldübergabe getroffen hatte. Aber was sonst hatte Giorgos dort vorgehabt? Gemütlich nach Agia Roumeli zum Schlucht-Ausgang wandern, dort ein Gläschen mit Zacharakis trinken, während man gemeinsam auf die Fähre wartete?

Ein Versehen habe angeblich zu dem tödlichen Schlag geführt, beichtete Giorgos kurz vor seinem Tod. Er sei danach in seinen Alltag zurückgekehrt, während ein von ihm bezahlter Mann die Leiche des Toten weggeschafft habe. Woher er diesen kannte und warum er sich seiner bedient hatte, war allen ein Rätsel geblieben. Klar war jedoch, dass ihr Onkel einen Mann getötet hatte, und egal, wie sehr sie alle versuchten, es so zu erklären, als wäre es ein Unfall gewesen: Er hatte die Tat verheimlicht! Und nicht selten geisterte eine giftige Stimme durch Katharinas Kopf, die sagte: Papa könnte gewiss noch leben, doch Giorgos hat ihn auf die Lasithi-Hochebene geschleppt und ihn dort mit irgendeiner Nachricht zu Tode erschreckt. Ein guter Arzt hätte die Blutung behandeln können, und ich wäre heute keine Vollwaise.

Ihr Vater war nach dem Tod ihrer Mutter zu einem Sonderling geworden, der mit niemandem über seine Befindlichkeiten sprach. Auch wenn es auf Kreta vollkommen normal war, dass man sich nach dem Tod einer geliebten Person Haare und Bart nicht mehr schnitt, so war es doch nicht üblich, dies über Jahre hinweg zu unterlassen. Mit schlohweißer wallender Mähne und einem bis auf das Brustbein reichenden Bart glich Andreas mehr einem verwirrten Geist denn einem erfolgreichen Unternehmer. Während Giorgos mit maßgeschneiderten Hemden umherstolzierte und sich mit ständig wechselnden langbeinigen jungen Frauen umgab, vergaß Andreas schon mal, dass er ein löchriges Hemd trug und seine Jeans erdige Flecken aufwies. Giorgos nannte eine schmucke Protzkarre sein Eigen und demonstrierte mit dem Cayenne seinen Reichtum, während ihr Vater in seinem klapprigen Suzuki wie ein verarmter Tagelöhner daherkam.

Egal, wie sehr sie den zur Schau getragenen Materialismus ihres Onkels regelmäßig verurteilt hatte, so war ihr ihr Vater durchaus das ein oder andere Mal peinlich gewesen: Er hatte vergessen, sich zu kämmen, hatte abwesend gewirkt, und seine Augen waren oft verquollen gewesen. Wie alle anderen hatte auch sie befürchtet, dass er den erlittenen Verlust in Alkohol zu ertränken versuchte.

Hätte sie doch nur mehr Verständnis für ihn aufgebracht, dann wäre ihr vielleicht aufgefallen, dass seine Kopfschmerzen nicht nur von der Migräne kamen. Aber sie war zu sehr damit beschäftigt gewesen, ihren eigenen Schmerz zu vergessen, denn die Trauer um ihre Mutter hatte sie von stumpfer Gefühllosigkeit bis zur vernichtenden Wut leidvoll durch alle Phasen wandern lassen. Auch sie hatte versucht, sich mit Wein zu betäuben, hatte Dinge zerschlagen und sich die Haare gerauft, bis es wehtat. Zudem hatte sie begreifen müssen, dass man nicht immer gemeinsam trauern konnte, sondern dass jeder Mensch sein eigenes Tempo einhielt.

Ihr Bruder hatte sich in die Arbeit gestürzt wie ein Berserker. Der plötzliche Tod von Vater und Onkel hatte ihm von heute auf morgen die gesamte Verantwortung auf die Schultern gelegt, und sie wartete auf den Tag, an dem er unter diesem Druck zusammenbrach. Noch rannte er herum wie die Maus auf der Flucht vor der Katze. Es war beachtlich, wenn man bedachte, dass er das nun seit rund achtzehn Monaten durchhielt.

Es war ihm gelungen, den guten Ruf der Unternehmensgruppe wiederherzustellen, und die Gäste kamen wie eh und je von nah und fern. Die Saison war gerade gestartet, und seinem letzten Bericht hatte sie entnehmen können, dass es kaum noch freie Kapazitäten gab. Finanziell waren sie alle abgesichert. Ihre Cousins hatten zudem eigene Unternehmen und waren zufrieden mit Elonidas’ Führung. Katharina war gleichzeitig davon überzeugt, dass es den beiden egal war, wie die Geschäfte liefen. Sie waren auf die Gewinne nicht angewiesen. Zumindest das hatten Giorgos und Andreas schon zu Lebzeiten immer gut gemacht – sie hatten ihren Kindern mit warmen Händen gegeben und sie nicht auf das Erbe verwiesen, wenn sie erst kalt und steif unter der Erde lagen. Man konnte mit vielem hadern und Verwünschungen aussprechen, doch im Vergleich zu jeder Menge anderer gut situierter Familien war das bei ihnen vorbildlich gelaufen.

Sie wusste, dass ihre Mutter maßgeblich dazu beigetragen hatte, jedoch wäre es auch Olympia niemals gelungen, Giorgos zu etwas zu zwingen, was dieser ganz und gar ablehnte. So musste wohl doch ein Funken Gutes in ihm gewesen sein. Er hatte es aber hervorragend verborgen, denn Katharina war er meist gefühlskalt, berechnend und abweisend erschienen.

Es hatte lange gedauert, bis sie den schlimmsten Groll gegen ihn in den Griff bekommen hatte, und nur deshalb hatte sie zugestimmt, seinen Palast zu räumen, der eines ihrer außergewöhnlichsten Projekte gewesen war. Er hatte ihr jedoch nie gestattet, das Haus für eigene Werbezwecke zu nutzen, obwohl es ganz klar ihre beste Arbeit war. Nur er hatte damit prahlen dürfen. Natürlich hatte er angeberisch – wo auch immer es möglich war – ihren Graduiertenstatus erwähnt, aber ganz offensichtlich hatte er sie nie explizit an Besuchende empfohlen. Denn es war zu keinem Zeitpunkt jemand gekommen und hatte sich auf den Glaspalast ihres Onkels bezogen und sie deshalb engagiert. Er hatte seine Nichte zudem nie eingeladen, das Haus in seiner stilsicheren schlichten Pracht zu genießen. Mit ein Grund, warum sie nie ein Giorgos-Fan geworden war.

Doch Dinge änderten sich. Auch wenn sie keine Begeisterung für ihn empfand und noch weniger dafür, in seinem privaten Eigentum zu kramen, seine Unterhosen auszuräumen oder Ähnliches zu tun, so war sie doch von etwas angetrieben, was sie sich selbst kaum erklären konnte: Sie wollte in Erfahrung bringen, wer dieser Giorgos gewesen war, denn sie wusste aus zuverlässiger Quelle, dass ihr Vater und dessen Bruder einst eine unzertrennliche Einheit gebildet hatten. Ihre Großmutter sprach oft von der Beziehung zwischen den Brüdern, als wäre diese auch in den vergangenen Jahren noch existent gewesen, genau wie sie Geschichten von früher erzählte, die sonderbar anmuteten und alle in der Familie zu Helden stilisierten.

Katharina spürte, dass sie an einem Punkt in ihrem Leben angelangt war, an dem sich etwas ändern musste. Was auch immer das sein sollte. Sie war zu jung, um ihr Leben als alleinerziehende Mutter ohne Partner zu verbringen, aber auch zu alt, um ständig irgendwo das Abenteuer zu suchen. Sie hatte bereits jede Menge Wagnisse und Experimente erlebt. Ihre Zeit in London war davon geprägt gewesen.

In ihrer Familie wusste niemand, was sie fernab der Heimat getrieben hatte. Ihre guten Noten und die Fähigkeit, sich rasch zu integrieren, hatten es ihr leicht gemacht, einen hervorragenden Abschluss zu bekommen. London hatte sie einerseits beflügelt und andererseits hart auf dem Boden der Tatsachen aufschlagen lassen. Das Leben in der pulsierenden Metropole war unglaublich gewesen und mit Kreta nicht zu vergleichen. Hätte sie ihre Eltern nicht so sehr geliebt, wäre sie wohl dortgeblieben, aber zu den beiden hatte eben auch stets das Unternehmen gehört. Sie hatten es gemeinsam mit Giorgos und seiner Frau Maria aufgebaut und waren so sehr damit verwoben gewesen, dass alles für immer untrennbar miteinander verbunden war.

Sie und ihr Bruder, auch Giorgos Kinder waren auf Hotelbaustellen groß geworden, und das führte entweder dazu, dass sie diese Welt ebenso von ganzem Herzen liebten oder sich davon distanzierten. Auch wenn sie und ihre Cousins nicht so sehr in das Unternehmen eingetaucht waren wie ihr Bruder, so profitierten sie doch alle mehr oder minder von der Oneiro-Gruppe.

Giorgos’ Tat, den ehemaligen Mitarbeiter betreffend, hatte den Namen der Familie Dalaras kurzzeitig besudelt, denn die Presse hatte einen Riesenaufriss aus der Tatsache gemacht, dass der ehemalige Mitarbeiter tot war und Teile der Leiche nach wie vor verschwunden waren. Man hatte angezweifelt, dass Giorgos’ Aussage auf dem Totenbett der Wahrheit entsprach, und daraus geschlossen, dass ihr Onkel sich durch die Nennung einer weiteren Person – in diesem Fall Nikos Brokalakis, einem geständigen Mörder – von der Verantwortung freisprechen wollte. Man hatte vermutet, dass er von vornherein geplant hatte, Dimitris Zacharakis zu töten, und ihn nur deshalb in die unwegsame Samaria-Schlucht gelockt hatte. Wenn er wirklich so agiert hatte, dann war es kaltblütiger Mord gewesen – geplant und wohlüberlegt. Dann gab es keine mildernden Umstände. Um sich dessen bewusst zu sein, hatten sie nicht einmal Lambros’ klugscheißerische Kommentare benötigt.

War er das? War ihr Onkel Giorgos ein Mörder oder hatte er die Wahrheit gesagt? Er war zum Zeitpunkt der Tat zwar bereits ein älterer Herr gewesen, doch beileibe kein Schwächling. Ein harter Schlag lag damit im Bereich des Möglichen. Doch ohne die komplette Leiche hatte nicht bestätigt werden können, dass sich der Mann bei einem unglücklichen Fall tödlich verletzt hatte. Vielleicht hatte Giorgos seinen ehemaligen Personalchef auch einfach erschossen, denn der gefundene Schädel hatte ein Einschussloch aufgewiesen. In seinem Geständnis auf dem Totenbett hatte er nur den Schlag zugegeben und die Tatsache, dass er den Rest seinem Handlanger Brokalakis überlassen hatte.

Sie würden die ganze Wahrheit niemals erfahren und mussten mit dieser Geschichte leben.

Ihre Großmutter Hera war nach dem Verlust ihrer Söhne von einer drahtigen Kommandantin zu einer verstört wirkenden Greisin mit Todessehnsucht geworden. Zeit ihres Lebens konnte sich Katharina nicht daran erinnern, ihre Yaya den Enkelkindern gegenüber rau oder gar abweisend erlebt zu haben. Doch nun schottete sie sich vollkommen ab und betonte bei jedem Gespräch ihren Groll auf Gott, der ihr nach allem, was sie in den knapp einhundert Jahren auf dieser Erde erlebt hatte, nun auch noch so etwas antat. Sie wartete auf den Tod, und wahrscheinlich missachtete er sie genau deshalb. Für Hera war es definitiv am schwersten, denn eine Mutter sollte ihre Kinder nicht überleben, dessen war sich Katharina vollkommen bewusst.

Vieles hatte also dazu beigetragen, dass Katharina nach einigem Widerstreben die Aufgabe angenommen hatte, das Haus ihres Onkels zu räumen. Vielleicht war dies auch ein weiterer Baustein auf dem Weg zum inneren Frieden, den sie alle so sehr brauchten. Bislang hatte sie häufig gedacht, dass es für ihre Söhne besser sein würde, Dalaras zu heißen, als den Nachnamen eines Mannes zu tragen, der Verbrecher vor Gericht vertrat. Aber nach den unseligen Geschehnissen war sie froh, dass die Jungs den Namen ihres Ex-Mannes trugen. Das würde ihnen in der Zukunft gewiss zugutekommen.