Hera, Gegenwart
Sie richtete sich auf und hielt sich den Rücken. Heute war einer der Tage, an denen ihr jede Bewegung schwerfiel. Bis zu jenem fürchterlichen Geschehen vor anderthalb Jahren war sie das gewesen, was man allgemein als »rüstig« bezeichnete. Ihre Söhne hatten sie oft knochig und von bissigem Gemüt genannt, doch es gab nur eine bedingte Menge an Schlägen, die ein Mensch hinnehmen konnte, und wenn man kurz davor stand, ein Jahrhundert auf diesem Planeten zu weilen, hatte man einiges aufzulisten. Es hatte Zeiten des Haderns gegeben, doch sie war immer verantwortlich für die Familie gewesen, und so hatte sie die Momente, in denen ihr alles sinnlos erschienen war und die Energie sie zu verlassen drohte, immer mit jeder Menge Arbeit und steinerner Miene weggedrückt. Jetzt ist nicht die Zeit für einen Zusammenbruch. Jetzt ist nicht die Zeit, an dich selbst zu denken. Jetzt ist nicht die Zeit, dein Schicksal zu beweinen … Der rechte Zeitpunkt war niemals da gewesen, und sie hatte sich daran gewöhnt zu funktionieren und ihre Rolle als Vorbild für so viele in den Vordergrund all ihres Handelns zu stellen.
Dabei wurde man hart, denn wie sollte es sonst möglich sein, mit einer Gruppe Frauen und Kindern in die dunklen Verstecke der Andarten vorzudringen, um versteckte Waffen ausfindig zu machen oder Stein auf Stein vollkommen zerstörte Häuser wiederaufzubauen. Das war nicht machbar, gab man sich seinen Befindlichkeiten hin und versank dabei in zerstörerischem Selbstmitleid.
Während ihrer Lebenszeit hatten immer wieder Krieg und Unterdrückung geherrscht, und die Frauen mussten ihren Weg unbeirrt gehen, damit das Überleben der Gemeinschaft gesichert war. Mut und zähe Beharrlichkeit waren Teil ihres Erbes, und sie hatte mehr als achtzig Jahre danach gehandelt und sich niemals unterkriegen lassen. Doch nun war alles anders. Der Tod ihres Mannes Elonidas war schon so viele Jahre her, und sie vermisste ihn nur noch selten, auch wenn sie nach ihm nie mehr einen anderen in ihr Herz gelassen hatte. Die Enkelkinder hatten das Loch gefüllt, das sich lange Zeit in ihrem Inneren befunden hatte. Sie hatte sich immer für klug, sogar für klüger als die meisten anderen gehalten, und vielleicht war das der Makel, den der Herr strafte: ihren Hochmut. Doch ihre wache Intelligenz hatte ihr immer geholfen, Lösungen zu finden, und betrachtete sie ihr Leben heute rückwirkend, so konnte sie kaum nachvollziehen, warum sie weiterhin an Gott glaubte, in die Kirche ging, Ikonen küsste und Kerzen anzündete. Es war nicht zu verstehen, warum er so hart mit ihr ins Gericht gegangen war, obwohl sie immer nur ihr Bestes gegeben hatte.
Mit langsamen Schritten lief sie den gekiesten Weg zum Haus hinauf. Seit Elonidas’ Tod 1979 lebte sie wieder auf Kreta. Er hatte sein Wort gehalten und war nicht mehr auf die Insel zurückgekehrt, obwohl sie so sehr gehofft hatte, ihn in kretischer Erde beisetzen zu können, doch nicht einmal die Geburt seines Enkelkindes hatte ihn dazu bewegen können, in ein Flugzeug zu steigen. Sie hatte es respektiert. Tatsächlich war es nicht nur ein Akzeptieren gewesen, denn er hatte Respekt verdient und damit auch seine Entscheidungen.
Die ersten Jahre auf fremdem Boden mit einem fremd gewordenen Ehemann, der noch dazu traumatisiert war und blieb, waren hart gewesen. Ihren Giorgos zurückzulassen, war ihr ebenfalls unerträglich erschienen. Doch auch diese Entscheidung des Jungen hatte sie akzeptiert, denn sie war sich darüber im Klaren gewesen, dass es ihn zerstört hätte, Kreta zu verlassen und ausgerechnet nach Deutschland zu gehen. Die Entscheidung für Deutschland hatte Giorgos nie verstanden, und obwohl sie in den späteren Jahren einen recht guten und fürsorglichen Kontakt gepflegt hatten, so war ihr doch oft der Gedanke gekommen, dass er ihr diesen Schritt nie ganz verziehen hatte.
Sie spürte einen Stich im Rücken, und während sie weiter hinaufging, wanderte er in Richtung Herz. Sie wunderte sich, dass sie dort noch Schmerzen spürte, denn der Tod ihrer Söhne – und die furchtbare Wahrheit, die damit zutage getreten war – hatte es zersplittern lassen. Eine Mutter sollte ihre Kinder nicht überleben. So war das nicht vorgesehen.
Sie war am Haus angekommen. Eigentlich brauchte sie den Garten nicht zu pflegen, denn regelmäßig kam ein Gärtner, der dafür sorgte, dass alles wie geleckt aussah. Im Haus waren alle wichtigen Räume auf einer Etage, und nur die Gästezimmer und Bäder befanden sich im ersten Obergeschoss. Sie musste also kaum Treppen gehen. Andreas hatte damals darauf geachtet, dass alles so umgebaut wurde, dass sie ihr Zuhause nie mehr würde verlassen müssen.
Andreas … Er war immer ein guter Junge gewesen.
Das Atmen fiel ihr schwer, als sie daran dachte, wie sehr er unter dem Tod seiner geliebten Olympia gelitten hatte. Regelmäßig hatten sie gemeinsam auf ihrer Terrasse gesessen, fernab des Trubels der schicken Hotelanlage, und schweigend auf das in der Ferne schimmernde Meer geblickt. Sie hatte mit neunzig aufgehört, Auto zu fahren, da sie sich damit überfordert fühlte, auf den Verkehr um sich herum zu achten. Auch hier hatten die Söhne für Lösungen gesorgt, und wann immer ein Termin anstand oder sie zum Einkaufen musste, war ihr entweder einer von ihnen, ihre Enkeltochter Katharina oder eine junge Frau aus dem Dorf zu Hilfe geeilt. So blieb sie trotz ihres hohen Alters flexibel. Zur Kirche ging sie zu Fuß, und im Anschluss an den Gottesdienst nahmen sie hin und wieder Nachbarn mit zurück. Doch seit dem Tag, an dem sich alles für die Dalaras’ geändert hatte, fiel es ihr schwer, irgendwo mitzufahren. Sie wollte keine Fragen beantworten oder den Blicken standhalten, in denen sie wahrnehmen konnte, was die Leute dachten: Wie kann eine Mutter nicht wissen, dass ihr Sohn ein Mörder ist?
Zudem waren natürlich überall Zweifel über die Rechtmäßigkeit der Bauten der Gruppe laut geworden. Die Frau des zu Tode gekommenen Personalchefs hatte allerorts verbreitet, dass die Dalaras’ sich Baugenehmigungen erschwindelt, beziehungsweise nur durch Bestechung erhalten hatten. Nichts davon war nach so vielen Jahren noch überprüfbar, doch das war es, was die Leute interessierte: Sie wollten Bösartigkeiten loswerden, und die Wahrheit ignorierten sie daher nur zu gern. Dass der Personalchef seinen Arbeitgeber erpresst hatte, fiel unter den Tisch. Es schien vollkommen in Ordnung zu sein, Umschläge anzunehmen. Nur verteilen durfte man sie nicht, dann war man schon per se ein schlechter Mensch.
Giorgos war kein niederträchtiger Mann gewesen, doch er hatte Fehler gemacht. Aber wer machte in seinem Leben keine Fehler? Selbstverständlich hätte er nicht gewalttätig werden dürfen, er hatte die Konsequenzen solcher Taten doch nur zu gut gekannt. Auch die Entscheidung, den Toten verschwinden zu lassen, war vollkommen falsch gewesen und hatte dazu beigetragen, noch mehr Schuld anzuhäufen. So viel Schuld. Menschen konnten nicht damit aufhören, sich schuldig zu machen. Sie lernten nichts aus ihren Sünden. Die unselige Verknüpfung mit Nikos Brokalakis, der für ihn die Drecksarbeit bei dem Toten übernommen hatte, hätte es nicht geben dürfen, denn sie zeigte deutlich, dass ihr Sohn nicht aus dem Affekt heraus gehandelt hatte. Er hatte gewusst, wen er holen musste, wenn die Situation eskalierte.
Egal, wie sie es drehte und wendete: Giorgos war kein kleiner Junge mehr gewesen, mit dem die Emotionen durchgingen, weil die Lebensumstände ihm nicht fair erschienen. Er war ein erwachsener Mann gewesen, ein Vater, und seine Entscheidung hatte sich auf alle Mitglieder seiner Familie ausgewirkt.
Sie selbst war sicher ebenso wenig fehlerlos, aber sie hatte keine solchen Verfehlungen auf sich geladen. Vielleicht war sie oft streng gewesen und hatte kalt gewirkt, doch sie hatte ihren Kern schützen müssen. Den Teil in ihr, der nicht mehr leben wollte, der verzweifelt schrie und niemals damit aufhörte – ganz egal, was sie tat: ob sie die Kinder versorgte, Wiederaufbau betrieb, Feinde in die Flucht schlug oder Wolle spann und Kleidung herstellte. All das hatte keine Rolle gespielt. Sie hatte gelernt, ihr Leid in sich einzusperren, und die Taktik hatte eine lange Zeit funktioniert.
Giorgos hatte damals nicht verstanden, warum sie, ohne zu zögern, das Geld genommen hatte, das Elonidas ihr in seinem Brief geschickt hatte und nach Deutschland gereist war. Weder sie noch Elonidas hatten es ihrem Jungen übel nehmen können. Er hatte keine Erinnerung an den Vater und daher nur den Schatten aus den Heldengeschichten vermisst, aber niemals den liebenden Menschen, der ihn beschützend im Arm gehalten hatte.
Hera stand nun in der Küche und umklammerte eine Stuhllehne mit beiden Händen, um Halt zu finden, denn die Schwäche, die sie überkam, war mächtig und drohte, sie von den Füßen zu ziehen. Sie war zu alt, um all das zu ertragen. Warum konnte sie nicht einfach jetzt in diesem Augenblick umfallen und sterben? Sie war bereit, und ihr Körper demonstrierte ihr seine Grenzen ebenfalls überdeutlich.
Langsam löste sie die Hände und stand erwartungsvoll da. Gevatter Tod sollte sie holen. Jetzt! Da war kein Warum mehr und auch keine Antwort auf ein Wozu. Sie erschrak, als in die farblose Stille hinein, die sich um sie ausgebreitet hatte, das Telefon in der Diele fordernd läutete, als wäre es ein Zeichen des Himmels, das ihr sagen wollte: Du wirst noch gebraucht. Sie drehte sich um und legte die wenigen Schritte bis zu dem Apparat zurück: »Ja!«
»Yara, wie geht es dir?«, hörte sie den Kosenamen, den ihr ihre Enkelin Katharina gegeben hatte. Sie hatte als kleines Mädchen die Ansprache für ihre Oma mit deren Vornamen gemischt, und so war aus Yaya und Hera eben Yara geworden. Es war wirklich ein Zeichen einer höheren Macht, dass die junge Frau sie gerade in diesem dunklen Augenblick anrief, in dem sie keine Antwort auf die Frage finden konnte, warum eine so alte Frau wie sie noch immer leben musste. Sie liebte Katharina zärtlich, vielleicht weil sie sich immer eine Tochter gewünscht hatte und ihre Enkelin das einzige Mädchen in der Familie war. Selbst ihre Urenkel waren Jungs. Katharina war zudem besonders: Sie hatte eine zarte künstlerische Seele, war klug, einfühlsam, und doch spürte Hera eine unnachgiebige Härte in ihr. Die Art von Stärke, die den Frauen ihrer Linie vorbehalten war und sich schon seit Jahrhunderten vererbte. Sie hatten gute Herzen und taten niemandem etwas zuleide, es sei denn, sie mussten sich wehren oder das Überleben der Gemeinschaft sichern.
»Es geht schon«, sagte sie.
»Das ist nicht wahr«, widersprach Katharina. »Ich kann es an deiner Stimme hören, und mich musst du nicht anschwindeln. Du kannst meinen Bruder und die Cousins anlügen, aber mich … mich nicht. Es ist in Ordnung, dass es nicht in Ordnung ist!«
»Ach, mein Mädchen, meine Tage sind gezählt, und es kommt auf einen mehr oder weniger mit Kummer nicht an.«
»Du bist alles, was ich noch habe. Das weißt du und komm mir bitte nicht mit meinen Kindern oder den anderen Jungs, denn das ist nicht das, was ich meine.«
Die Stimme ihrer Enkelin klang sorgenschwer.
»Du darfst dich nicht an mich klammern, Kathi.« Sie nutzte die Koseform des Namens, die recht deutsch klang, sich aber zwischen ihnen beiden so etabliert hatte.
»Das hat doch nichts mit Klammern zu tun, Yara. Ich habe das Gefühl, dass ich gar nichts über meine … unsere Familie weiß und einfach irgendwas geglaubt habe, ohne zu hinterfragen … na ja … oder Fakten zu prüfen.«
Katharina hörte sich resigniert an.
Hera hatte das Gefühl, sich setzen zu müssen und zog den Stuhl heran, der neben dem schnörkellosen Telefontischchen stand. Vorsichtig nahm sie Platz und spürte erneut die Schwäche in ihren Gliedern. »Die Frage ist immer, ob Wissen der Seele stets Ruhe und Frieden bringt.«
»Du meinst, weil Onkel Giorgos besser geschwiegen hätte?«, schoss Katharina geradeheraus.
Hera presste den Hörer fest ans Ohr und rieb sich mit der anderen Hand über die Augenlider. »Ja, vielleicht meine ich das. Wenn er sein Wissen mit ins Grab genommen hätte …«
»Dann wäre uns vieles erspart geblieben, und gleichzeitig wäre es trotzdem eine Lüge gewesen. Er war ein schwer zugänglicher Mann, und viele von uns hatten es nicht leicht mit ihm, aber ich … ich … a…also …«, stotterte die Jüngere.
»Du hättest ihm nicht zugetraut, dass er jemanden tötet und dann auch noch dafür sorgt, dass der Tote keine anständige Beerdigung bekommt, damit seine Familie sich von ihm verabschieden kann.« Hera spürte, wie alles in ihr kalt wurde bei diesem Gedanken, denn auch sie hatte so lange damit gelebt, nicht Abschied nehmen zu können, keinen klaren Schlussstrich ziehen zu können. Doch bei ihr hatte sich das Blatt auf eine Art zum Guten gewendet. Bei der Familie des toten Hotelmanagers nicht. Erst waren es die Gerüchte über den Verschwundenen gewesen, die verbreitet wurden: Er habe die Familie wegen einer russischen Touristin in einer Nacht- und Nebelaktion verlassen. Solches Gerede hatte sich sicher auch auf die Psyche seiner Kinder ausgewirkt, denn diese Nachricht hatte für schräge Blicke und Hänseleien gesorgt. Und eine Ehefrau, die vehement darauf bestand, dass ihr Mann so etwas nicht tun würde, und daran festhielt, dass ihm etwas passiert sein musste, war irgendwann bestimmt nur noch müde belächelt worden. Erst war man ihr mit Nachsicht begegnet, doch später freilich nicht mehr. Da hatte man die Augen verdreht, hatte nicht mehr zugehört und sich hinter vorgehaltener Hand zugeflüstert, dass man die auch verlassen hätte … Doch dann hatte die Familie mit dem gewaltvollen Tod des Gatten und Vaters zurechtkommen müssen. Daran zerbrach die Seele. Sie wusste nur zu gut, wie sich das anfühlte.
»Nein«, sagte ihre Enkelin schlicht, »das hätte ich niemals geglaubt. Das passiert nur in anderen Familien. Nicht in der eigenen und nicht, wenn diese eigene Familie eine ganz andere Vorgeschichte hat.«
»Oder vielleicht auch genau dann«, fügte Hera an, und Bilder blitzten hinter ihren noch immer geschlossenen Lidern auf. »Wenn so viele schlimme Dinge geschehen, bleibt immer etwas übrig, und das ist dann wie …« Sie suchte nach einem Beispiel, doch ihr wollte partout keines einfallen.
»Wie ein Wurm, der sich in die Eingeweide frisst, sich dort vermehrt, und wenn man es bemerkt, ist man bereits verloren?«, sprang ihr ihre Enkelin mit einem Gedanken bei.
»Ja. Ein Parasit, der sich von deinen Ängsten nährt, und die machen ihn widerstandsfähig. Aber ein Mensch hat immer eine Wahl. Wir sind nicht dazu gezwungen, auf eine bestimmte Art und Weise zu handeln, und doch tun wir es manchmal. Ich habe wirklich alles versucht, sie zu guten Menschen zu erziehen, aber … aber die Umstände …«
»Es war eine schlimme Zeit, Yara. Es ist nicht deine Schuld. Das alles ist nicht deine Schuld. Ich … ich will das nicht. Also die Verantwortung für alles, was meine Kinder irgendwann mal machen – egal, ob richtig oder falsch –, die kann doch nicht nur bei mir liegen. Ich meine als Mutter!«
»Das will unsere Gesellschaft aber so. Man braucht immer jemanden, auf den man mit dem Finger zeigen kann: Wir führen uns auf wie die Barbaren – der Feind ist schuld. Wir schlagen unsere Kinder – die Armut oder die Perspektivlosigkeit sind schuld. Unsere Kinder werden Verbrecher – die Mutter ist schuld.« Hera spürte, wie das Thema ihre Kraft wieder zurückbrachte. Sie hatte so lange gegen Ungerechtigkeit gekämpft, aufbegehrt, wenn etwas ihre Werte verletzte und damit auch regelmäßig den Maßstab für Verhalten gesetzt. Die Frauen waren ihr damals gefolgt, hatten sie bewundert, denn obwohl das Schicksal ihr übel mitspielte, hörte sie niemals auf, Widerstand zu leisten und mutig voranzugehen. Ihre Enkeltochter war eine blitzgescheite Frau und durchblickte die moderne Welt sicher gut, doch sie hatte keine Ahnung, wie es war, wirklich Angst zu haben, wirklich etwas zu verlieren oder gar um das eigene Leben oder, noch viel schlimmer, das Leben geliebter Menschen zu bangen. Es war natürlich gut so, dass diese Generation sich nicht damit plagen musste und in friedlicheren Zeiten groß wurde, auch wenn es immer einen Ort auf diesem Planeten gab, auf dem sich Menschen abschlachteten und alles verloren, was diese Spezies eigentlich ausmachen sollte.
Alles hatte sich geändert in den vergangenen Monaten. Ihr vermeintlicher Frieden hatte sich als brüchig erwiesen, und die Jahrzehnte, in denen sie geglaubt hatte, genau diese Ruhe und Harmonie verdient zu haben, waren zu Staub zerfallen. Vielleicht war es an der Zeit, das Schweigen zu brechen. Natürlich hatte sie die Familiengeschichte erzählt, denn man hatte ihren Mann Elonidas zu einem Helden stilisiert und sie damit gezwungen, den Kindern irgendetwas zu berichten. Doch sie hatte sich mit ihren Söhnen und deren Frauen auf eine Kurzform geeinigt. Sie mussten nicht in epischer Breite über die erlebten Gräueltaten reden und damit vermitteln, dass es einem für die Zukunft eine Art Recht auf bessere Zeiten gab, wenn man Gewalt überlebt hatte. Giorgos war oft davon ausgegangen, dass der Reichtum, den die Familie erlangt hatte, eine Art Wiedergutmachung des Schicksals war und man daher nicht jeden Tag eine Kerze in der Kirche anzünden musste, um Gott zu danken. »Wir haben gehungert, Mutter! Muss ich mich dafür auch bedanken? Oder dass ich ohne Vater aufgewachsen bin? Danke, Gott, für den Schmerz? Gott schuldet uns das hier, Mutter!«
Sie hatte immer wieder versucht, ihm zu verdeutlichen, dass dem nicht so war, hatte ihn in die Schranken gewiesen und war nicht nur mit ihm, sondern auch mit Andreas häufig hart ins Gericht gegangen. Ihr war bewusst gewesen, dass es durchaus das Anrecht dieser Kinder war, es besser zu haben. Sie waren in furchtbaren Zeiten geboren, hatte Dinge gesehen, die Kinderaugen nicht sehen sollten, und dies war an niemandem spurlos vorübergegangen, aber sie hatte eben auch versucht, ihnen alles zu geben, wozu sie fähig war. Es war nicht genug gewesen – zumindest sah es aus heutiger Sicht danach aus.
»Die Mutter ist schuld?? Fühlst du dich etwa verantwortlich für das, was Onkel Giorgos getan hat?«, fragte Katharina nun aufgebracht.
»Ja und nein«, antwortete sie, und es war keine Floskel. Einerseits hatte sie Fehler gemacht, und einer der größten war es gewesen, ihn zurückzulassen, ganz egal, ob er das so gewollt hatte oder nicht. Doch sie war zu diesem Zeitpunkt wirklich nicht mehr dazu in der Lage gewesen, klar zu denken, und hatte nachgegeben. Oder sogar aufgegeben?
Mutter Dalaras.
So hatte man sie genannt – ganz bewusst mit dem männlichen Nachnamen! Sie war die Mutter der Dalaras-Brüder, die Mutter, die die Nachkommenschaft der Dalaras in ihren Händen hielt. Niemand hatte sich damals Gedanken darüber gemacht, was man einer jungen Frau mit all dieser Verantwortung auflastete, und sie war mit Mitte zwanzig, Anfang dreißig doch noch jung gewesen. Sie hatte ebenfalls nicht darüber nachgedacht, denn man hatte seine Kraft einteilen müssen, und auch wenn der Zweite Weltkrieg hinter ihnen gelegen hatte, so hatte der nachfolgende Bürgerkrieg doch gleichermaßen jede Menge Leid mit sich gebracht.
»Er hat das entschieden. Nicht du, Yara. Das ist nicht deine Schuld!«
Hera folgte – ohne weiter darüber nachzudenken und die Konsequenzen abzuschätzen – einem plötzlichen Impuls, als sie sagte: »Nur wenn du die ganze Geschichte kennst, kannst du dir eine Meinung bilden, mein Kind. Du kennst sie nicht, und ich denke, es ist auch besser so, aber wenn du dich dem gewachsen fühlst, dann erzähle ich sie dir eines Tages.«
»Welche Geschichte meinst du?« Katharina klang einerseits neugierig, aber es schwang auch eine Spur Erschrecken mit.
»Unsere Geschichte. Meine. Die meiner Ururgroßmutter und ihrer Mutter. Die meiner Großmutter und meiner Mutter. Die deines Großvaters, deines Vaters und deines Onkels. Die unserer Familie. Die, die uns geprägt hat: mich und am Ende des Tages auch dich, deinen Bruder und deine Cousins.« Sie schwieg ermattet nach dieser Aufzählung. »Aber nicht heute, Kathi. Heute bin ich zu müde. Ich muss mich hinlegen und ausruhen. Morgen vielleicht oder übermorgen.«
»Brauchst du mich? Soll ich kommen?« Ihre Enkeltochter hörte sich nun alarmiert an.
»Nein, nein, Kleines. Es ist alles in Ordnung. Ich bin nur müde. Das passiert schon mal, wenn man fast hundert ist …«
»Es tut mir leid, Yara. Ich wollte dich nicht aufregen. Es ist nur so … so sonderbar, hier oben zu sein und … Ja, ich habe mich bereit erklärt, das zu tun, aber … Es tut mir leid. Ruh dich aus. Wir reden morgen weiter, dann habe ich mich etwas eingewöhnt.«
Hera wollte etwas Beruhigendes sagen, erklären, dass sie das Gefühl nachvollziehen konnte, doch da war plötzlich ein Knoten in ihren Stimmbändern, und sie konnte nur noch einen bestätigenden Laut ausstoßen. Andreas hatte sich nach dem Tod seiner geliebten Olympia schon von allem getrennt und nur noch mit ein paar wenigen persönlichen Dingen in einer Suite des Hotels in Agios gelebt, die mehr einem Abstellraum für Möbel geglichen hatte als einem Zuhause. Doch er hatte mit seiner Frau eben auch sein wirkliches Zuhause verloren. Giorgos hingegen hatte in seinem überkandidelten Palast in den Bergen viele persönliche Dinge gehortet, und sie fragte sich nicht zum ersten Mal, was Katharina wohl dort finden würde und wie sie das Ausräumen gestaltete. Einfach alles in Kartons werfen und – zack! – in den Müll oder ins Feuer? Oder würde sie alles genau betrachten und dann entscheiden, was damit zu tun war? Hatte Giorgos vielleicht noch mehr zu verbergen gehabt, und würde sie etwas herausfinden?
Sie fand ihre Stimme wieder: »So machen wir es, Kindchen. Ruf mich morgen wieder an.« Hera verabschiedete sich so liebevoll wie möglich, denn es fiel ihr schwer, normal klingende Sätze zu formulieren. Sie war müde, und diese Müdigkeit schien immer mehr Kraft aus ihr zu saugen. Sie war noch nie füllig gewesen, auch nicht während der fetten Jahre in Deutschland und dem anschließenden Reichtum auf Kreta, der mit prall gefüllten Vorratsräumen und Kühlschränken aufgewartet hatte. Doch die vergangenen achtzehn Monate hatten noch das letzte Fleisch von ihren Knochen gezehrt, und sie fand selbst, dass sie schlimmer aussah als zu den Zeiten des Hungers während der Kriege. Bald … so hoffte sie, würde der Tod kommen und sie holen – zu Elonidas und ihren Kindern. Doch erst wollte sie Katharina noch alles erzählen.
Schwerfällig erhob sie sich von dem Stuhl und schlurfte in ihr Schlafzimmer. Es war wirklich gut, dass sie keine Treppe erklimmen musste, denn heute hätte sie das nicht mehr geschafft. Sie zog die Kette unter ihrem schwarzen Kleid hervor, nahm sie ab und steckte den kleinen Schlüssel, der neben einem Kreuz und einem Engelsflügel daran baumelte, in das Schloss der großen dunklen Holzschatulle, die sie in ihrem Kleiderschrank aufbewahrte. Knarzend hob sich der Deckel, während sie überlegte, wie sie die Geschichte am besten erzählen konnte.
Sie machte es sich auf dem Bett bequem und ließ ihre Finger sanft über den Inhalt der Truhe gleiten. Morgen war ein guter Tag für die ersten Schritte.
Warum hatte sie nur so lange gewartet?