7. Kapitel

Litsa, 1824

Litsa fror erbärmlich und hatte keine Kraft mehr, sich zu bewegen. Ihr kleiner Körper schmerzte so sehr, dass sie weinen und schreien wollte, doch es kamen keine Laute aus ihrer Kehle, und ihre Augen blieben trocken. Sicher gab es keine Flüssigkeit mehr in ihr, denn der Durst ließ ihre Zunge am Gaumen kleben. Der Hase war fort. Sie hatte ihn nicht mehr finden können und hatte auf der Flucht jede Orientierung verloren. Sie konnte nicht mehr zurück zur Höhle – so viel war klar, denn die Monster, die dort tanzten, würden sie zerfleischen.

Je weiter sie gelaufen war, desto öfter war sie gefallen und hatte sich viele blutige Schürfwunden zugefügt. Doch beim letzten Sturz war es schlimmer gewesen: Sie war über eine knorrige Wurzel gestolpert und einen kleinen Hang hinabgestürzt. Dabei hatte ein dumpfes Knacken dafür gesorgt, dass sie einen Arm nun nicht mehr bewegen konnte. Sie musste weiter. Musste fort. Doch wohin eigentlich? Vielleicht war es das Richtige, hier liegen zu bleiben. Bald würde alles besser, und sie würde ihre Mama und ihren Bruder wiedertreffen. Sie wusste, was der Tod war, denn im Dorf hatten sie vor einiger Zeit schon Abschied von ihrem Papous, ihrem geliebten Opa, genommen. Er hatte wächsern und bewegungslos in einer Holzkiste gelegen und auf nichts mehr reagiert. »Er ist von uns gegangen, Litsa«, hatte ihre Mama gesagt. Und sie war nun auch gegangen. So viel war Litsa bewusst, denn als die Schreie in der Höhle verebbt waren, war ihr klar geworden, dass ihre Mama nun ebenso stumm wie ihr Großvater war.

Sie würde hier liegen bleiben und dann in den Armen ihrer Familie wieder erwachen. Während ihr Bewusstsein immer mehr dahinschwand, glaubte sie, das weiche Fell des kleinen Hasen in ihren Armen zu spüren, und schmiegte sich an ihn. Dann glitt sie fort, und auch der grauenvolle Schmerz flog davon.

Doch diese glückliche Ruhe währte nicht lange, denn plötzlich drangen Stimmen in ihr Ohr – rau und männlich. Die Angst kam zurück, und alles an ihr begann zu zittern. Die Teufel hatten sie gefunden und würden ihr nun noch mehr wehtun. Sie wollte es unterdrücken, doch das wunde Wimmern bahnte sich unaufhaltsam einen Weg aus ihrer Kehle. Sie wollte zu ihrer Mama, wollte sich unter ihren Röcken verkriechen und ihr versprechen, dass sie nie wieder ungehorsam sein würde. Sie rollte sich noch enger zusammen, und die Pein in ihrem Arm ließ sie zusammenzucken. Sie konnte ihren kleinen Körper nicht mehr kontrollieren, und ihre Zähne begannen, wild aufeinanderzuschlagen. Die Stimmen kamen näher, und endlich brachten Angst und Schmerz ihr eine erneute gnädige Ohnmacht. Während ihr Verstand davonglitt, tauchten Traumbilder in ihr auf, und sie hatte plötzlich das Gefühl zu fliegen – sanft schaukelnd und gleichmäßig. Es war also gar nicht so schlimm, tot zu sein, sondern irgendwie leicht.

Erst als die Stimme einer Frau ihre Ohren erreichte, bemerkte sie, dass jemand sie in den Armen hielt und dann langsam auf etwas Weiches bettete. Eine angenehm kühle Hand legte sich auf Litsas fiebrig heiße Stirn, und die Frau sagte beruhigend: »Hab keine Angst, mein Kleines, ich kümmere mich um dich, und alles wird wieder gut.«

»Mama«, kam es tonlos über ihre trockenen Lippen, und Litsa verging vor Durst, aber auch Erleichterung. Ihre Mama war da, und nun hatte alles Leiden ein Ende.

»Wir haben sie im Wald gefunden. Ich fürchte, sie hat sich etwas gebrochen, und es scheint so, als wäre sie schon länger dort umhergeirrt.«

Das war die Stimme eines Mannes. Sie war leise, beinahe flüsternd. War das ihr Papa?

»Um Gottes willen! Sieh dir die arme Kleine nur an – vollkommen zerschunden. Wo kommt sie her? Warum war sie allein? Wie alt mag sie sein? Höchstens fünf oder sechs. Ich nehme mich ihrer an, und ich schwöre, ich werde alles dafür tun, dass sie wieder gesund wird.«

Die Gesprächsfetzen drangen halbwegs in Litsas Bewusstsein, und dann spürte sie einen feuchten Lappen auf ihren Lippen und begann, begierig daran zu saugen. Sie war zu müde und schwach, um die Augen zu öffnen und sich zu vergewissern, dass Mama und Papa sie gefunden und gerettet hatten. Die Frauenstimme begann beruhigend zu säuseln, und Litsa glitt wieder in einen ohnmachtsähnlichen Schlaf, doch diesmal ohne Panik.