Maria, Gegenwart
»Du kannst froh sein, dass du dich schon vor Jahren von ihm getrennt hast, und deshalb verstehe ich nicht, warum dir das alles so nahegeht und du andauernd Trübsal bläst.« Eirini hob ihr Weinglas unwirsch an und verschüttete dabei einige Tropfen des kühlen Malagouzia auf ihrem gemusterten Kleid.
»Herrgott, Eirini! Ich weiß nicht, was daran so schwer zu verstehen ist, und ich blase nicht Trübsal!« Maria musste sehr an sich halten, um ihrer Freundin nicht den restlichen Inhalt des Glases ins Gesicht zu kippen. Natürlich hatte sie sich von Giorgos scheiden lassen, und sie waren auch keineswegs im Guten auseinandergegangen. Er hatte sich vollkommen lächerlich gemacht mit den langbeinigen Geliebten, die im Alter seiner Kinder gewesen waren. Ohne dass sie danach gefragt hatte, hatte sie permanent Informationen über sein Liebesleben bekommen. Kreta war wie ein Dorf, und irgendjemand hatte ihn irgendwo gesehen und es ihr aufs Brot geschmiert. So, als müsste es sie weiterhin interessieren oder als sollte sie sogar etwas dagegen tun. Doch das alles waren Dummheiten gewesen, über die man mit einem Schulterzucken hinwegsehen konnte.
Er hatte beweisen müssen, was für ein toller Hecht er war – in Ordnung. Er hatte seine Söhne mit den jungen Gespielinnen blamiert – peinlich! Er hatte jemanden getötet und dafür gesorgt, dass die Leiche wahrscheinlich zerstückelt und in alle Winde verstreut worden war – ein Desaster für sie alle!
Ihre Söhne waren davon betroffen, und auch sie sah man mit argwöhnischen Blicken an, denn schließlich war sie so viele Jahre die Frau an seiner Seite gewesen. Man fragte sich, wie sie nicht hatte bemerken können, dass er ein solch böser Mensch war.
Es gab vieles, was sie über ihn sagen konnte, aber sie traute ihm auch heute noch nicht zu, was er auf dem Sterbebett in Gegenwart der Polizei gestanden hatte. Er war kein gelassener, in sich ruhender Mann gewesen. Er hatte Temperament gehabt, und bei manchen Besprechungen hatte er hin und wieder die Beherrschung verloren, zähneknirschend auf den Tisch geschlagen, gebrüllt oder auch schon mal einen Stuhl durch die Gegend geworfen. Doch das alles war weit davon entfernt gewesen, jemanden zu töten.
Es war bis heute vollkommen unwirklich, und obwohl sonst die Nachrichten von gestern nur noch das Einpackpapier für den Fisch im Hafen darstellten, so tauchte die Geschichte der erfolgreichen Brüder Dalaras und ihres tiefen Falls immer wieder auf, wenn sich irgendein Aufhänger bot.
Heute war es eine illustre Hochzeit, die im Hotel Oneiro in Rethymno stattgefunden hatte. Das Internet war voll von Bildern des glücklichen Paares und der Gäste aus Film und Politik. Natürlich war ihr Neffe Elonidas stolz auf die gelungene Veranstaltung, und alle Besuchenden äußerten sich voll des Lobes über die Location, den Service, das köstliche Essen und die wunderschönen Zimmer. Hier kamen dann auch die anderen Familienmitglieder ins Spiel: Ihr Sohn Panagiotis hatte architektonisch alles gegeben, und ihre Nichte Katharina hatte dem Innenausbau einen unvergleichlichen Stil verpasst. Damit gerieten sie ebenso in die Schlagzeilen, und es gab immer einen Idioten, der es nicht lassen konnte, laut herumzutröten, dass die feine Familie Dalaras doch jede Menge Dreck am Stecken habe.
Panagiotis hatte sich nach dem unrühmlichen Ableben seines Vaters rasch aufs Festland verzogen und dort daran gearbeitet, dass man sich auf sein Können fokussierte und nicht seinen Nachnamen in den Vordergrund stellte. Athanasios hatte so getan, als ginge ihn das alles nichts an, denn seine Kunden waren hauptsächlich sehr reiche Ausländer, die Immobilien kauften oder verkauften. Für die waren Meldungen über einen alten Kerl, der vor vielen Jahren jemanden umgebracht hatte, vollkommen uninteressant.
Doch vor ihr machte niemand halt. Und regte sie sich darüber auf, dann musste sie so wie heute dumme Kommentare von irgendjemandem hinnehmen. Mit Eirini war sie schon fast dreißig Jahre befreundet. Sie teilten keine dunklen Geheimnisse miteinander, redeten jedoch über vieles. Gerade jetzt überlegte Maria allerdings, ob sie den Kontakt zu dieser Frau nicht ein für alle Mal abbrechen sollte, denn deren stures Nichtbegreifen machte sie wütend. Und sie brauchte niemanden, der sie wütend machte. Sie war einfach zu alt für diesen ganzen Mist.
»Reg dich nicht gleich so auf. Du weißt doch, wie ich das meine. Was hast du als Ex-Frau mit alldem zu tun? Nichts.« Eirini nahm einen weiteren Schluck Wein.
Vielleicht hatte sie auch schon zu viel getrunken, und ihr Gehirn funktionierte daher nicht mehr einwandfrei.
»Dass ich auch mit über siebzig die Mutter meiner Söhne und Großmutter meines Enkels bleibe, ist dir bewusst, oder?«
»Ja schon, aber …«
»Kein aber, Eirini. Was die Kinder betrifft, betrifft auch mich, und du weißt genau, dass ich immer wieder gefragt werde, ob ich mich von Giorgos getrennt hätte, weil er gewalttätig gewesen war, oder ob ich geahnt hatte, dass er irgendwann ausflippen würde. Es hilft mir nicht, so zu tun, als wäre das alles nur Kleinkram und ginge an mir vorüber. Es belastet mich, und deine Haltung dazu verletzt mich. Ich muss jetzt nach Hause.« Sie erhob sich, legte einen Schein auf den Tisch und ließ die perplexe Frau sitzen.
»Maria«, hörte sie Eirini noch rufen, als sie bereits an der Ecke des Rimondi-Brunnens angekommen war. Brunnen schienen in ihrem Leben immer eine Bedeutung zu haben, doch diesmal blieb sie nicht stehen. Sollte Eirini ruhig darüber nachdenken, ob und wie sie diese Freundschaft fortführen wollten.
Sie schlängelte sich durch die belebten Sträßchen von Rethymno, nahm aber weder von den vielfältigen Auslagen der Läden Notiz noch von den Menschen unterschiedlichster Nationalitäten. Sie wollte nur schnell zu ihrem Auto kommen und aus der Stadt heraus. Giorgos hatte hier ein Domizil besessen, in dem er mit seinen Freundinnen gewohnt hatte. Sie selbst lebte mittlerweile zwischen Rethymno und Chania in einem hübschen Häuschen, das sie sich locker nach der Scheidung hatte leisten können. Und es war keineswegs so, dass sie die Abfindung nicht verdient hätte, denn schließlich war sie von Anfang an am Unternehmen beteiligt gewesen. Sie hatte ebenso dafür geschuftet wie Giorgos und Andreas oder auch Olympia. Alle waren nun tot! Nur sie lebte noch.
Immer, wenn ihr das bewusst wurde, ihre Gedanken in die Vergangenheit glitten, dann drohte ihr die Verzweiflung den Atem abzuschnüren. Egal, wie sehr sie Giorgos am Ende ihrer Ehe verabscheut und diesen Drang nach Selbstinszenierung verurteilt hatte, er war der Mann gewesen, den sie einst geliebt hatte. Der Mann, mit dem sie ihre Kinder bekommen und einen Traum verwirklicht hatte. Ein Teil von ihr hatte nie aufgehört, einen Teil von ihm zu lieben – den guten Teil: den charmanten Kerl, der ihr am Morosini-Brunnen in Irakleio ein Kompliment gemacht und so ihr Herz im Handumdrehen erobert hatte.
Sie erreichte die Hauptstraße, überquerte sie und ging durch den Park zu ihrem Auto. Sie mochte die grüne Oase im Herzen der Stadt. Sie war liebevoll angelegt und sehr gepflegt. Regelmäßig trank sie einen Cappuccino in dem Café im Herzen der Anlage, und hin und wieder war sie auch mal mit ihrem Enkel hier gewesen, der dann fröhlich auf dem großen Spielplatz herumgeturnt war. Heute hatte sie jedoch nur wenig Aufmerksamkeit für die Schönheit der Natur und die bunten Skulpturen. Sie war zu sehr in Gedanken, und diese drifteten immer mehr in die Vergangenheit ab.
Sie hatte sich damals wirklich hübsch gemacht, und das war nicht einfach gewesen, denn ihr Vater hatte mit Argusaugen darauf geachtet, dass sie sittsam aussah, wenn sie das Haus verließ. Und sie hatte auch nur ein sehr überschaubares Budget für Kleidung und Kosmetika zur Verfügung. Also ging sie als braves Mädchen hinaus, um mit den Freundinnen »Näharbeiten« zu verrichten. Dort beugten sie sich dann aufgeregt über Zeitschriften mit den neuesten Trends, schminkten sich gegenseitig und warfen alle möglichen Kleidungsstücke auf das Bett der jeweiligen Gastgeberin, um im Anschluss für jede von ihnen den bestmöglichen Style daraus zu kreieren. In der Stadt mussten sie stets darauf achten, niemandem in die Arme zu rennen, der sie kannte und brühwarm petzte, dass sie kurze Röcke und hohe Schuhe trugen, ihr Haar glänzend hinter ihnen herwehte und ihre Lippen rot und verheißungsvoll leuchteten. Sie trauten sich nur einmal im Monat auszugehen, um das Leben der aufstrebenden Stadt Irakleio zu genießen, und der Zufall fädelte es eben so ein, dass Giorgos genau an diesem Tag eine Besorgung im Zentrum zu erledigen hatte. Ansonsten wären sie einander gewiss nie begegnet, denn er war auf dem Weg, sich in Agios Nikolaos niederzulassen, um dort sein Geld mit den Touristen zu machen, und sie räumte Lebensmittel im Supermarkt ihres Onkels in Rodia in die Regale. Das Schicksal hatte den Augenblick genau abgepasst.
Während sie das Ende des Parks erreicht hatte und in ihrer Handtasche nach dem Autoschlüssel kramte, wurde ihr wieder einmal bewusst, dass eine Minute Zeitverzögerung ihr gesamtes Leben verändert hätte, denn wäre sie nur eine Minute früher oder später am Brunnen gewesen, hätten sie einander nicht getroffen.
Da war etwas Wildes an ihm gewesen, und er hatte ungeheuer gut ausgesehen. Normalerweise reagierte sie nicht auf Komplimente. Sie nahm sie zwar, drehte sich dann aber rasch zur Gruppe und ließ den Typen einfach stehen, der sich auf diese Art bei ihr einzuschmeicheln versuchte. Mit Giorgos war das anders. Das Feuer in seinen Augen setzte sie in Flammen, und als die Freundinnen nach ihrem Arm griffen, um sie wegzuziehen, schüttelte sie sie ab und ging zu ihm. Sie wollte unbedingt erfahren, wer er war, und sich mit ihm für ein Treffen verabreden, ohne daran zu glauben, dass er tatsächlich kommen würde. Gleichzeitig war auch sie sich nicht sicher gewesen, ob sie dort erscheinen würde oder konnte.
Heute war alles viel einfacher: Man tauschte Handynummern aus und konnte sich sofort Nachrichten zusenden. Doch Mitte der Siebzigerjahre hatten sie zu Hause noch nicht einmal ein eigenes Festnetztelefon gehabt. Der Onkel im Laden hatte eines. Das reichte vollkommen aus – sogar für das halbe Dorf! Auch Giorgos hatte kein Telefon, denn damals lebte er noch im Hinterzimmer der Werkstatt, in der er als Mechaniker schuftete. Er hatte die Arbeit vom Eigentümer von der Pike auf gelernt und kam mit dem Geld, das er dort verdiente, ganz passabel über die Runden. Seine Familie hatte die Insel verlassen und er war allein. Sie hatte zwar nicht das Gefühl, dass er einsam war, doch dass er so ganz ohne Eltern und Bruder zurechtkam, war für sie einerseits sonderbar und andererseits wunderbar gewesen. Ihr Vater war streng und legte sehr viel Wert darauf, dass sie sich nicht mit dem falschen Jungen einließ oder gar ihre Jungfräulichkeit vor der Eheschließung verlor, was ihr persönlich ein wenig bigott vorkam, denn er hatte ihre Mutter im zarten Alter von fünfzehn geschwängert, und sie war noch keine sechzehn gewesen, als sie ihr erstes Kind in den Armen hielt. Gut, er hatte sie vorher geheiratet, aber sollte man wirklich als Teenager ein Kind bekommen? In ihrer Familie gehörte dies – genau wie in vielen anderen – zur Normalität. Das machte es aber auch nicht besser oder richtiger. Natürlich wollte sie einen Mann und Kinder haben, aber es war auch in Ordnung, erst mit Anfang, Mitte zwanzig Mutter zu werden.
Es war so berauschend, zum Treffpunkt zu eilen, mit ihm durch die Gegend zu schlendern, ein Glas Wein zu trinken und sich ein Dakos zu teilen. Zum Wein hatten sie einige Meze bekommen, und sie waren sowieso beide sehr aufgeregt. Auch wenn er versuchte, gelassen rüberzukommen, so bemerkte sie doch, dass er ebenfalls nervös war.
»Weißt du, Maria«, sagte er, »ich habe Träume. Große Träume. Die habe ich bisher niemandem erzählt, aber bei dir habe ich so ein gutes Gefühl. Ich vertraue dir, und ich denke, du wirst mich sogar verstehen.«
Sie spürte, wie ihr die Röte bei diesem Kompliment ins Gesicht schoss, und dankend nickte sie. »Deine Geheimnisse sind bei mir gut aufgehoben, Giorgo.«
In seinem Kopf befand sich ein vollständiges Konzept für eine Hotelanlage, und sie hatte wirklich keine Ahnung, wo er die Inspiration hernahm und wie die Bilder in seiner Fantasie entstanden waren, die er ihr so detailliert und farbenfroh schilderte. Er hatte Kreta noch nie verlassen, war aus Anogia nach Irakleio gekommen und hatte den größten Teil seiner wachen Zeit damit verbracht, an Autos zu schrauben. Deshalb waren das wirklich unglaubliche Pläne, und etwas so Großartiges bekam man nicht ohne einen dicken Batzen Geld.
»Ich habe mir ein altes Moped gekauft«, erzählte er übergangslos, und sie war ein wenig irritiert. »Das habe ich in vielen Stunden repariert, und nun ist es recht chic und vor allem zuverlässig. Damit fahre ich umher und schaue mir an, was es alles auf unserer Insel gibt. Warst du schon einmal in Chania, Agios Nikolaos oder gar auf der Südseite in Iearapetra?« Er blickte sie fragend an, doch sie kannte nur Rodia, Gazi, Ammoudara und Irakleio. Es war schwer, ohne Auto irgendwo hinzukommen.
»Ich bin noch nicht wirklich rumgekommen«, gestand sie daher leicht peinlich berührt. Sie hatte bisher auch nie das Bedürfnis verspürt, mehr zu wollen als das, was ihr das Leben bot, denn es ging ihr doch gut. Sie verdiente ein wenig Geld, hatte Spaß mit ihren Freundinnen, und auch wenn der Vater streng war, so war er doch ein guter Mann. Er behandelte ihre Mutter anständig, sorgte dafür, dass die Familie genug zu essen auf den Tisch bekam und alle ordentlich gekleidet waren. Sie würde heiraten, in ihre eigene Wohnung ziehen, Kinder bekommen und ein ebenso frommes, aufrichtiges Leben führen wie ihre Eltern. Es war nicht so, dass es keinen Platz für große Träume gab in diesem Lebensentwurf, sondern einfach so, dass sie bisher nichts vermisst hatte. Mit Giorgos und seinen Vorstellungen von einer Zukunft kamen plötzlich Sehnsüchte und Wünsche, die noch nicht einmal in ihren wildesten Fantasievorstellungen vorgekommen waren. Auf einmal sah sie das Anwesen am Meer und die vielen fröhlichen Leute, die dort ihren Urlaub verbrachten. Das war zwar noch immer absonderlich für sie, dass Menschen auf die Insel kamen, um sich in den Sand zu legen, und bereit waren, dafür sehr viel Geld zu bezahlen, aber Giorgos hatte nicht nur bunte Bilder in seinem Kopf, sondern auch ein kleines abgegriffenes Heft in seiner Hosentasche, in dem er jede Menge Zahlen notiert hatte.
»Schau hier«, sagte er, und sie beugten ihre Köpfe ganz nah nebeneinander über die eng beschriebenen Seiten, »ich habe mit Urlaubern geredet und sie gefragt, was sie denn für ihr Zimmer und die Reise hierher bezahlen. Einer hat mir gesagt, dass es bald regelmäßige Flüge geben wird und man dann von vielen Ländern aus herkommen kann, ohne erst Tausende Kilometer mit dem Auto zu fahren und dann auf die Fähre zu müssen. Das bedeutet, sie werden in nicht allzu ferner Zeit in Scharen auf unsere Insel kommen.«
Es war so beflügelnd, ihm zuzuhören, und sie hatte erst sich selbst im Stillen und dann ihn ganz offen gefragt: »Aber wie verstehst du die Ausländer?«
Er konnte tatsächlich einige Brocken Englisch sprechen, denn die Alliierten hatten nach dem Krieg geholfen, sein Dorf wieder aufzubauen. Anogia hatte es schwer getroffen und es war dem Erdboden gleichgemacht worden. Daher hatten die überlebenden Frauen und Kinder auf einem nahe gelegenen Weiler gehaust, bis die Heimat wieder bewohnbar geworden war.
Giorgos war ein Mann und kein Junge, das war spürbar, und genauso trat er auf. Vielleicht lag es auch daran, dass er sie so sehr beeindruckte und sie sich am Abend in ihrem Bett eingestehen musste, dass das kribbelnde Gefühl in ihrem Körper darauf zurückzuführen war, dass sie sich in ihn verliebt hatte.
Mit diesem heimlichen Treffen hatte also alles begonnen.
Ja, viele gute Jahre waren gefolgt, und die verrückte Zeit, als aus dem Traum Wirklichkeit wurde, war anstrengend und zugleich großartig gewesen. Sie hatte jedoch im Verlauf der Jahre den Augenblick verpasst, in dem Giorgos und sie auseinandergedriftet waren. Und dann, eines Tages – ganz plötzlich –, hatte sie sich gefragt, wer dieser Mann war, mit dem sie Bett und Tisch teilte.
Irgendwann war sie dann mit Sack und Pack zu ihrer Schwester gezogen. Sie hatte die Beziehung aufgegeben, hatte Giorgos aufgegeben und nicht mehr nach dem Menschen in ihm gesucht, den sie einst so geliebt hatte. Vielleicht hätte sie ihn aufhalten können? Doch sie hatte das Interesse an ihm verloren, an dem, was er dachte, fühlte und tat. Sie hatte sich eingestehen müssen, dass sie schon zu viele Jahre nebeneinander lebten und nicht miteinander. Sie hatten wunderbare Söhne, und gewiss wollte sie die beiden keinen Augenblick missen, auch wenn sie ihnen die Schmach gern erspart hätte, mit der sie nun leben mussten.
»Du bist nicht verantwortlich dafür, Mama«, hatte Panagiotis ihr mehr als einmal versichert, doch es fühlte sich anders an. Wenn sie so wie jetzt in Gedanken vollkommen in der Vergangenheit versank, dann war es, als würde sie von einer unsichtbaren Macht unter Wasser gezogen. Der Druck wurde größer, und je tiefer sie eintauchte und in der Dunkelheit des unergründlichen Ozeans versank, desto weniger Antworten auf ihre Fragen fand sie. War er schon immer so gewesen und hatte sie ihn einfach idealisiert? Hatte sie sein Abdriften doch mitbekommen und die Augen davor verschlossen, weil Reichtum und Einfluss vieles erleichtert hatten? War sie doch nicht so wenig abhängig vom schnöden Mammon, wie sie immer gern tat, und hatte deshalb so lange mit der Trennung gewartet, bis alles geregelt war und die Scheidung sie zu einer reichen Frau machte?