Katharina, Gegenwart
Vorsichtig stellte sie die Kiste, die sie im Zimmer ihres Vaters gefunden hatte, auf den grauen Tisch. Sie wusste, dass er ein Vermögen gekostet hatte, denn sie hatte ihn ausgesucht. Die meisten Einrichtungsgegenstände hatte sie über einen tollen Interieurshop in Rethymno gefunden. Sie waren außergewöhnlich und doch so schnörkellos, dass sie das exquisite Ambiente des Hauses hervorragend unterstützten. Wie ein guter Wein ein Gericht noch köstlicher werden ließ, waren ihre Ideen für Raumgestaltung und Möblierung stets wie der Betonungsstrich auf dem Buchstaben, denn sie gaben allem Bedeutung.
»Apropos Wein«, sagte sie, schüttelte kurz den Kopf über sich selbst, denn kaum in der Einsamkeit angekommen, hatte sie begonnen, mit sich selbst zu quatschen. Dann nahm sie ihr Handy, öffnete die Notizen-App und scrollte zu dem Eintrag, in dem sie die verschiedenen Codes für das Haus abgespeichert hatte, unter anderem auch den für den Weinkeller. Die Handwerker hatten nicht nur munter geflucht, als sie die gläserne Terrasse bauen mussten, sondern auch über den Teil des Felsens, der wegzusprengen war, um Platz für die Raritäten zu schaffen, die Giorgos in der kühlen Umgebung aufzubewahren gedachte.
Sie ging die sanft geschwungene freie Betontreppe hinab und egal, wie sonderbar die Situation auch war, sie war stolz auf dieses Meisterwerk, denn sie schien luftig schwebend, war aber massiv und stabil. Auch hier unten würde sie schauen müssen, was weggeschmissen werden konnte und was für einen neuen Besitzer noch nutzbar war. Sie schaltete das Licht ein und stand einen Moment wie angewurzelt da, denn die in warmes dunkles Holz eingefasste große Glastür, die in den temperierten Weinkeller führte, gab den Blick auf viele Regale frei, in denen die Flaschen ruhten. Es gab unterschiedliche Zonen: Bis sieben Grad lagerten die Champagnerflaschen, deren Verschlusskappen im Schein der indirekten Beleuchtung verführerisch glänzten. Die Weißweine und Rosés waren aufgeteilt in Regionen von acht bis zehn und von elf bis dreizehn Grad, und ab vierzehn Grad waren die Rotweine zu finden.
Sie öffnete die Tür mit dem Code, ging in das Traubenparadies und schloss sie wieder hinter sich. Ihr Blick schweifte über die Etiketten, und sie bedauerte es wieder einmal zutiefst, dass sie nicht pfeifen konnte, sonst hätte sie einen begeisterten Pfiff ausgestoßen, um damit zu verdeutlichen, dass sie beeindruckt war. Sie beugte sich zu den Champagnerflaschen hinab, zog eine heraus und pustete imaginären Staub vom Etikett. »Giorgo, Giorgo, ich glaube, die Aufgabe, das hier alles zu räumen, wird weitaus aufwendiger als gedacht, und ich brauche Depon. Jede Menge Depon.«
Sie redete schon wieder mit sich selbst. War es denn so schwer, die Stille zu ertragen? Mit zwei Söhnen im Haus, einem streitsüchtigen Ex-Mann und einem Beruf, der das Erklären notwendig machte, war es für sie absolut gewöhnungsbedürftig, wenn alle Geräusche verstummten. Sie hatte sich so sehr gewünscht, Zeit für ihre Gedanken zu haben, und eventuell hatte sie die Gesamtsituation somit auch ein wenig idealisiert. Einerseits ging es darum, das Haus für einen Verkauf zu räumen, und andererseits musste sie sich um niemand anderen kümmern als um sich selbst. Theoretisch zumindest, denn das Telefonat mit ihrer Yaya hatte ihr deutlich gemacht, dass die alte Frau ihre Zuwendung dringend brauchte.
»Ja, rede dir das nur ein. Wahrscheinlich hängst du dich lieber an den Rockzipfel deiner Oma, als zu versuchen, wirklich nur mit dir selbst zurechtzukommen.« Sie beschloss, die Selbstgespräche zu akzeptieren, denn es gab weitaus schlimmere Verhaltensweisen.
Sie nahm die Flasche Dom Pérignon Rosé Vintage von 2008 wie ein Baby in den Arm und schaute in das Rotweinregal. Der gute Stoff durfte gern ein paar Stunden atmen, daher war es vollkommen in Ordnung, einen auszusuchen und ebenfalls mit nach oben zu nehmen. Sie hatte genügend Käse, Oliven, Olivencreme, Tomaten und Brot eingekauft, um mehrere Tage davon zu essen. Sollte das nicht ausreichen, war der Supermarkt nicht weit weg, und sie hatte auch einige Tavernen im Ort gesehen. Eigentlich hatte sie keine Lust auf Gesellschaft, prüfende Blicke und vorwurfsvolle Fragen, doch eingedenk der Kommunikation mit sich selbst wäre es wahrscheinlich gut, ein- bis zweimal in einem Lokal zu essen.
Sie schnappte sich eine Flasche aus dem untersten Regal, denn es sah so aus, als würden die ältesten Weine ganz unten liegen. Bei den roten kannte sie sich nur mittelmäßig aus. Der Schampus kostete locker drei- bis vierhundert Euro, und wenn sie einfach aufgrund des Etiketts über den Wein ein Urteil abgeben sollte, dann lag der Preis für dieses Schätzchen deutlich darüber.
Langsam ging sie die Treppe hinauf, und wieder überwältigte sie der Blick auf das Panorama, das einen erwartete, wenn man den großzügig geschnittenen Wohnraum betrat. Die Glasfront und die komplett gläserne Terrasse zeigten die atemberaubende Bergwelt im vollen Ausmaß ihrer Schönheit: karg und bezaubernd zugleich. Man hatte das Gefühl, über allem zu thronen, und das hatte ihrem Onkel besonders gut gefallen.
Sie öffnete den Rotwein und beschloss später zu googeln, was für ein Kleinod sie da ausgewählt hatte. Dann schaute sie in die Schränke, bis sie einen großen Kühler und eine Reihe silberner Kelche fand. Hoffentlich gab es in dem pompösen chromglänzenden Gefrierschrank genügend Eiswürfel. Die Kelche waren ein wenig angelaufen, was deutlich machte, dass sie wirklich aus Silber waren. Aus einer Schublade förderte sie ein Silberputztuch zutage und rieb einen damit ab, bis er glänzte. Dann nahm sie die schicke Flasche, entfernte die schwarze Folie, drehte die Agraffe ab und ließ den Korken vorsichtig herausploppen. Es gab ein sattes Geräusch, und kurz darauf perlte das teure Getränk in den langstieligen Becher, der sofort von außen beschlug, da der Champagner wirklich hervorragend temperiert war. Rasch öffnete sie die Schubladen des Gefrierschrankes, erblickte die Eiswürfelfunktion und seufzte erleichtert auf. Die Getränke würden immer kühl stehen. Wunderbar.
Langsam ging sie auf die schwebend erscheinende Terrasse hinaus. Der erste Schritt kostete sie ein wenig Überwindung. Auch wenn sie nicht unter Höhenangst litt, so war es doch, als stürzte man hinunter, denn es ging viele Meter tief hinab. Die Statik war ein Meisterwerk und die filigranen, stahlverstärkten Säulen, die für die Stabilität sorgten, waren so gut integriert, dass sie das Gesamtbild nicht störten, sondern das über die gesamte Breite des Hauses sieben Meter lang über den Talabhang ragende Glanzstück nur noch betonten. Egal, wie sehr sie die Angeberei ihres Onkels immer abgestoßen hatte, so musste sie ihm in diesem Augenblick absolut recht geben: Es fand sich auf der ganzen Insel keine Villa, die mit dieser mithalten konnte – Meerblick hin oder her.
Sie hob den Kelch, sah über dem langsam weichenden feuchten Schleier ihre Augen, die sich im Silber spiegelten, und prostete sich zu: »Alles wird gut.« Das Mantra klang zwar wenig überzeugend, doch sie wollte die Hoffnung einfach nicht aufgeben.
Der Champagner glitt köstlich über ihre Zunge und hatte einen leicht herben, fruchtigen Geschmack. Sie war zwar kein großer Rosé-Fan, aber das war ein feiner Tropfen. Sie leerte den ersten Becher mit Bedacht im Stehen, ließ ihre Augen über die hügelige Weite gleiten und nahm die Stille bewusst wahr.
Der Alkohol wirkte schnell auf ihren noch leeren Magen. Heute Morgen war sie zu sehr damit beschäftigt gewesen, alles zu packen, sich nicht zu große Sorgen um die Kinder zu machen und gleichzeitig nicht zu viel daran zu denken, was ihre Cousins von ihr erwarteten. Sie spürte den Hunger nun besonders deutlich, und in ihrem Kopf machte sich alkoholgeschwängerte Leichtigkeit breit. Sie ging wieder in den Dialog mit sich selbst – diesmal deutlich entspannter.
»Eine hübsche Käseplatte passt auch zum Champagner.« Sie schenkte sich in der Küche noch einmal ein, richtete auf einem tollen großen Olivenholzbrett die Leckereien an und balancierte alles nach draußen. In dem Abstellraum, der von der Terrasse abging, hatte sie die wunderschönen Outdoormöbel gefunden und sich einen gemütlichen Platz eingerichtet. Die Stühle, Tische, Loungesessel und Polster waren hier trocken gelagert und wiesen keinerlei Schäden auf. Sie kuschelte sich in den muschelförmigen Sessel, steckte sich ein Stück Käse in den Mund, brach etwas Brot ab, dessen Kruste knusprig knisterte und das innen fluffig weich war, schob es ebenfalls in den Mund und spülte mit Champagner nach. Sicher war das ein Frevel, und nur Amateure taten so etwas, aber es war ihr egal.
Sie wollte der Gesamtsituation entfliehen, fühlte sich der Aufgabe noch immer nicht gewachsen, und der Alkohol war eine willkommene Fluchthilfe. Das Kästchen ihres Vaters stand nun neben dem Brett und schien fordernd nach ihr zu rufen. Nach wenigen weiteren Kombinationen aus Brot, Käse, Oliven und prickelndem Getränk war der Kelch erneut leer. Seufzend stand sie auf, um ihn abermals zu füllen. »Nimm mich doch mit raus«, schien der Kühler zu rufen, doch sie schüttelte den Kopf. Es war besser, wirklich aufstehen zu müssen, denn sonst konnte sie das teure Zeug gleich aus der Flasche saufen. Sosehr sie das Meer liebte, seine Farbenpracht immer wieder aufs Neue staunend wahrnahm, das Salz auf ihrer Haut genoss, musste sie sich gerade doch eingestehen, dass die Bergwelt ebenfalls einen Zauber besaß, der sie binnen kürzester Zeit überwältigt hatte. Sie freute sich bereits auf den Sonnenuntergang und das Spiel der Lichter auf den Gipfeln des majestätischen Gebirges. Wäre sie vollkommen besoffen, würde ihr das gewiss entgehen. Ihre Heimat war wirklich wunderschön.
Kurze Zeit später war das Brett geleert und auch der dritte Kelch. In ihrem Kopf surrte die Trunkenheit und gab ihr den benötigten Mut, um endlich den Deckel der Kiste zu öffnen und sich dem zu stellen, was darin lag. Sie hatte es ihrem Bruder sagen wollen, denn es ging sie beide an. Doch schon seit sie den ersten Umschlag herausgenommen hatte, als ihr die hübsche dunkelbraune Holztruhe mit den feinen Schnitzereien in die Hände gefallen war, hatte sie sie verborgen gehalten. Sie konnte nicht erklären, warum, es war ein Gefühl – nicht rational zu erklären. Erst musste sie sich damit beschäftigen, und dann würde die Zeit kommen, ihn daran teilhaben zu lassen. Vielleicht neigte sie auch einfach nur dazu, alles überzubewerten. Lambros hatte ihr dies so oft vorgeworfen, dass sie es mittlerweile schon glaubte. Sie würde aus allem ein Drama machen, sei einfach zu emotional – er benutzte das wie ein Schimpfwort oder so, als wäre es eine Behinderung. Es war doch nicht schlecht, Gefühle zu haben und diese auch mitzuteilen. So, wie sie ihre Liebe zeigte, zeigte sie eben auch Traurigkeit, Angst oder Ärger. Für ihn war es ungesund, sich so zu verhalten, psychisch krank. Das hatte er gern und oft erwähnt, dabei erschien es ihr eher ungesund, seine Gefühle zu verbergen oder, noch schlimmer, sie so zu unterdrücken, dass sie einen innerlich aufzufressen begannen. Sie hatte ihn einst geliebt, und in ihren einsamsten Momenten fragte sie sich, ob die Liebe vielleicht doch noch da war – vergraben unter den alltäglichen Dingen, der Arbeit, den Kindern, dem Tod – und sie nicht tief genug gegraben hatte, um sie wiederzufinden und zu beleben. Der lebensfrohe Genussmensch konnte doch nicht komplett verloren gegangen sein. Er war ihr Freund gewesen, ihr Vertrauter, ihr Gefährte, und jetzt plötzlich war er der Feind, ein Fremder und Widersacher. Wie war das passiert?
War es in Ordnung, die Schuld nur bei ihm zu suchen oder hatte auch sie Fehler gemacht? Er hatte ihr vorgeworfen, ihn mit ihrer romantisierten Vorstellung von Familie zu erdrücken. »Du schnürst mir die Luft ab«, war der O-Ton gewesen. Sie verstand noch immer nicht, was so verkehrt daran war, dass man einander nah sein, sich im Arm halten und miteinander reden sollte. »Freiraum, Katharina, Freiraum! Jeder muss machen können, was er will, sonst funktioniert das nicht.« Dann hätte er doch Single bleiben können, wollte er Freiraum und ohne Rücksicht auf Frau und Kinder sein Leben leben.
Nachdem sich die Verliebtheit verabschiedet hatte, waren die Unterschiede zwischen ihnen so massiv zutage getreten, dass sie vor Schreck erstarrt war.
Ihre Mutter hatte sie oft in den Arm genommen. »Du musst das nicht aushalten, mein Mädchen. Du bist nicht abhängig von ihm und kannst ein zufriedenes Leben ohne ihn leben.«
Heute wusste sie, dass Olympia von Anfang an recht gehabt hatte mit ihrem siebten Sinn für Menschen und Beziehungen. Doch wer wollte schon auf seine Mutter hören, wenn man glaubte, die große Liebe gefunden zu haben. Die rosa Brille hatte alles so eingefärbt, dass man auf Wolken schwebte. Zudem hatte Olympia gut reden gehabt, denn sie hatte mit Andreas genau das gefunden, was Katharina auch gern haben wollte.
Ihre Eltern hatten es ihnen unendlich schwer gemacht, sich partnerschaftlich zu binden. Elonidas war noch immer Single, und Katharina befürchtete, dass er es auch bleiben würde. Die Art Glück, die ihre Eltern ihnen vorgelebt hatten, war außergewöhnlich, und sie hatten sehen können, wie man zerbrach, wenn man die Person war, die übrig blieb.
Die Holzkiste war randvoll mit Briefen. Ihr Vater hatte ganz kurz nach der Beerdigung ihrer Mutter damit begonnen, ihr zu schreiben – regelmäßig. Aus seinen Zeilen waren teils mehrseitige Briefe geworden. Sie hatte sie nicht alle geöffnet, nur einen Blick hineingeworfen, denn zunächst hatte sie geglaubt, es handle sich um Briefe von früher.
Ihre Eltern trafen einander Ende der Siebzigerjahre. Ihr Vater Andreas hatte zuvor in Deutschland gewohnt und gearbeitet. Darüber hatte er nicht viel erzählt. Seine Eltern lebten damals dort, und während sein Bruder Giorgos auf Kreta geblieben war, war er mitgekommen. Ihre Mutter verbrachte mit einer Freundin ihren Urlaub in Agios Nikolaos. Sie arbeitete auf dem Festland als Sekretärin, verdiente recht gut, und beide Frauen hatten lange auf diesen Aufenthalt gespart. Onkel Giorgos und Tante Maria waren schon verlobt und betrieben einen Kiosk am Strand. Dort lernten sich ihre Eltern kennen.
Andreas hatte immer beteuert, dass es Liebe auf den ersten Blick gewesen sei, und sie hatte ihm, ohne zu zögern, geglaubt, denn er hatte ihre Mutter stets auf Händen getragen.
Und genau das suchte sie auch in ihrem Leben. Sie liebte ihren Beruf, hatte keinerlei finanzielle Sorgen, lebte ein gutes Leben – doch diese Liebe, die wollte sie unbedingt finden. Lambros war ihr richtig erschienen – doch der Schein hatte getrogen. Nun saß sie hier, den Blick in die Weite gerichtet, angenehm angesäuselt, und die Zeit war gekommen zu lesen, was der Vater zu Papier gebracht hatte.
Sie hatte lange darüber nachgedacht, ob es einen Vertrauensbruch darstellte, in diesen privaten Bereich der Eltern einzudringen, denn was zwischen ihnen war, gehörte auch ihnen. Doch dann hatte sie es als Wink des Schicksals gewertet, dass ihr die Kiste in die Hände gefallen war. Elonidas hätte sie ebenso entdecken können, da er darauf bestanden hatte, die Suite, in der der Vater zuletzt gelebt hatte, zu leeren, um sie wieder in den Hotelbetrieb überführen zu können. Einen kurzen Augenblick hatte sie sich gesorgt, dass Elonidas dort einziehen wollte, doch dann hatte er sie damit beauftragt, sich um die Neugestaltung der Suite zu kümmern, und das hatte er für sich privat noch nie in Anspruch genommen. Zudem bewohnte ihr Bruder ein wirklich schönes Haus am Rand des Städtchens mit privatem Zugang zum Meer, warum sollte er das aufgeben, um am Arbeitsplatz zu hausen? Doch auch er war durch den Tod beider Eltern und die rufschädigende Tat des Onkels schwer getroffen. So gestimmt taten Menschen oft irrationale Dinge.
Sie seufzte und war kurz davor, erneut aufzustehen, um sich den langstieligen Kelch vollzugießen, doch ihr Hirn meldete sich mit letzter Kraft zu Wort und verdeutlichte ihr, dass die nächsten hundertfünfzig Milliliter dafür sorgen würden, dass sie von Richard Gere träumend auf dem bequemen Sessel in einen Rauschschlaf fallen würde. Jetzt war noch genügend Aufmerksamkeit vorhanden, um sich auf die Worte ihres Vaters einzulassen, aber eben auch jene Leichtigkeit, die etwas Alkohol mit sich brachte und die es möglich machte, die Dinge zu ertragen. Leider war das kein Rezept für den Alltag, denn sich das Leben schönzusaufen führte unwillkürlich auf den Abgrund zu. Sie war sowieso kein Suchtmensch, nur abhängig von Liebe und Zuwendung. Das musste sie sich eingestehen. Das war mindestens genauso schwierig wie Cannabis, Koks oder Alkohol, doch zumindest im Gegensatz zu diesen Substanzen nicht illegal. Ihre Eltern hatten sie für das Leben auf dieser Welt untauglich gemacht mit ihrer liebevollen, von Respekt geprägten Verbindung. Doch im Gegensatz zu Erziehungsmethoden, die von Gewalt, Missachtung und Streit geprägt waren, waren Liebe und Respekt nichts, was man den beiden vorwerfen konnte. Es machte einen eben nur unbrauchbar, denn entweder warf man sich dem erstbesten Partner in die Arme, der die magischen drei Worte aussprach, oder man blieb lieber gleich allein, um nicht enttäuscht zu werden.
»Hoffentlich schreibst du nichts über Sex, Papa«, sagte sie zu der Truhe, als sie die Briefe heraushob und den Stapel umdrehte, sodass der unterste Brief nun zuoberst lag. Sie wollte in der zeitlich richtigen Reihenfolge lesen und hatte bei der ersten stichprobenartigen Überprüfung festgestellt, dass er das neueste Schreiben immer obenauf gelegt hatte. Den letzten Brief hatte er am Tag seines eigenen Todes geschrieben. Sie hatte ihn geöffnet, herausgezogen, das Datum und die Anrede gesehen und ihn wieder hineingesteckt.
»Mist! Jetzt habe ich vergessen, mit jedem Glas Champagner zu fluchen und Onkel Giorgos zu beschimpfen«, platzte es unvermittelt aus ihr heraus. »Er hat es verdient. Er hat so viel Schande über unsere Familie gebracht, und vielleicht würde Papa noch leben, hätte er ihn nicht in die Berge gezerrt.« Die Wut in ihr war noch lange nicht verraucht und würde an diesem Ort gewiss auch immer wieder aufbrechen, doch gerade in diesem Moment war es wohl eher eine Form der Prokrastination. Sie wollte die Briefe lesen und gleichzeitig auch irgendwie nicht, also suchte ihr Denkapparat Ausflüchte.
Beherzt öffnete sie dann doch den Umschlag, zog das hoteleigene Briefpapier heraus, und beim Anblick der handgeschriebenen Zeilen schnürte es ihr die Kehle zu. Obwohl ihr Vater nur eine einfache Schulbildung genossen hatte, wirkten seine Buchstaben wie in Schönschrift gemalt. An manchen Stellen war die Tinte etwas verwaschen, und der Kloß in ihrem Hals wurde massiver, als sie erkannte, dass es Tränen gewesen waren, die auf das Papier getropft waren, während er seiner geliebten toten Frau geschrieben hatte. Gott, dieses Leben war doch wirklich ungerecht. Es gab so viele Paare, die ewig alt wurden, nebeneinanderher lebten, sich nichts zu sagen hatten … Und die, die einander aufrichtig liebten, schieden zu früh aus dem Leben. Sie strich das Papier mit einer sanften Bewegung glatt. Ihr Vater hatte es in den Händen gehalten und ihm seine Gedanken anvertraut. Sie würde sich dieses Vertrauens als würdig erweisen.
Meine geliebte Gefährtin!
Du bist fort und dein Geruch auf dem Kissen wird mich auch bald verlassen. Ich habe Angst zu vergessen, wie deine Augen glänzen, wenn wir miteinander tanzen. Ich habe Angst zu vergessen, wie deine Stimme meinen Namen ausspricht. Ich habe Angst zu vergessen, wie sich das Gewicht deines Kopfes in meiner Armbeuge anfühlt, wenn wir abends auf dem Sofa liegen. Ich habe Angst, dein herzhaftes Lachen zu vergessen. Alles in mir ist aufgelöst in Angst, Olympia. Du weißt, dass ich furchtbare Angst kennengelernt habe und mich dieses Gefühl solange begleitet hat, dass ich mir kaum noch vorstellen konnte, eines Tages alles fallen zu lassen, um mich in deinen Armen zu finden. Du hast dem verängstigten Jungen in mir die Hand gehalten und ihm den Kopf gestreichelt, bis er sich sicher und aufgehoben gefühlt hat. Nun, da du weg bist, Geliebte, bin ich wieder dort, wo du mich gefunden hast. Meine ganz eigene Hölle hat mich wieder, und jede Minute scheint mir eine unerträgliche Ewigkeit zu sein.
Ich habe viele Dinge in meinem Leben getan, die mir schwergefallen sind, doch dich in dieser Holzkiste in die Erde hinabzulassen, wird das Schlimmste bleiben, was mir je widerfahren ist. Als sie mir sagten, dass du fort bist, wollte ich es nicht glauben. Selbst als ich dich gesehen habe, leblos und so unglaublich blass, war ich mir sicher, dass du nur ein wenig Schlaf brauchst, um wieder zu Kräften zu kommen. Wir wollten doch noch so viel miteinander erleben, alles nachholen, was uns die Jahre voller Arbeit nicht ermöglicht haben. Du bist nur müde, das denke ich noch immer. Du schläfst wie eine Märchenprinzessin, und ich küsse dich wieder wach.
Ich bin in die Kapelle gegangen und habe gebetet. Ich habe Gott angeboten, dass er mich nehmen darf, nein, muss! Denn du bist zu gut. Du bist das Licht meines Lebens, das Licht, das unsere Familie erhellt. Wenn du nicht mehr da bist, wird alles dunkel, und das kann ich nicht zulassen. Mein Leben für deins. Verwunderlicherweise hat mich niemand in der Kirche gesucht, sodass ich tatsächlich eine gute Stunde als verschwunden galt, und während dieser Zeit haben sie dich in diese furchtbare Folie gepackt und in den Kühlschrank geschoben. Verzeih mir bitte, dass ich nicht da war, um dich zu beschützen, denn ich weiß doch, wie sehr du es verabscheust zu frieren. Ich habe Angst zu vergessen, wie sich deine kalten Füße an meinen Beinen anfühlen und wie wohlig du seufzt, wenn die Kälte dann endlich gewichen ist.
Gott hat mich nicht genommen. Er bestraft mich nun, denn jeder Augenblick ohne dich ist genau das: eine Strafe. Jeder Atemzug schmerzt. Die Gesichter unserer Kinder – fassungslos und von Trauer gezeichnet – tun weh. Ich kann nichts machen, kann ihnen nicht helfen, denn dich zu verlieren ist für mich unvorstellbar. Deshalb muss ich daran glauben, dass du noch da bist, dass du jeden Augenblick hinter mir stehen wirst, deine Hände auf meine Schultern legst, dein Kinn auf meinen Kopf stützt und mich fragst, was ich hier mache.
Ich kann nicht ohne dich leben, Olympia. Komm zurück zu mir, bitte. Ich werde für alles, was ich je falsch gemacht habe, Abbitte leisten. Ich verstehe, dass ich nicht ungeschoren davonkommen kann. Aber doch nicht so. Diese Strafe ist zu viel.
Ich liebe dich.
Andreas
Katharina spürte, erst nachdem sie den Brief hatte sinken lassen, dass ihr die Tränen vom Kinn auf das Brustbein tropften. Sie wollte das Schreiben an sich drücken, ihren Vater an sich drücken. Gleichzeitig war sie verwirrt, dass er von Buße und Strafe schrieb, die aus seiner Sicht gerechtfertigt waren, für das, was er getan hatte. Was, um Himmels willen, meinte er? War er an Giorgos’ Verbrechen beteiligt gewesen? Gab es noch mehr, was der Onkel oder gar beide Brüder auf dem Kerbholz hatten? Es schien so, als hätte ihre Mutter davon gewusst.
Hatten alle gemeinsame Sache gemacht, und sie und Elonidas waren in einer Scheinwelt aufgewachsen – getragen von dem Glauben, alles sei in bester Ordnung?
Sie wischte sich mit den Händen die Tränen weg, griff nach dem Kelch und erinnerte sich daran, dass er leer war. Es tat gut aufzustehen und ein paar Schritte zu gehen, auch wenn sie ein wenig schwankte. Reagierte sie so stark, weil sie betrunken war oder weil ihre Welt sich insgesamt anders drehte in den letzten Monaten? Einerseits konnte man natürlich meinen, sie übertreibe – wie Lambros immer wieder betonte –, denn es war ja durchaus normal, dass Eltern verstarben, andererseits hatte sich alles verändert, und das bildete sie sich ja nun nicht ein. Das war die Realität. Sie hatte nie vorgehabt, ihre Kinder allein zu erziehen und ihren Lebenspartner zu verabscheuen. Manchmal verrannte sie sich auch in den Gedanken, dass es vielleicht doch insgesamt bequemer wäre, einfach wieder zu Lambros zurückzukehren. Auch wenn es ihr unvorstellbar erschien, seine Hände je wieder auf ihrem Körper zu spüren, so vermisste sie es doch, berührt zu werden. Sie war zu jung, um ungeküsst zu bleiben. Irgendwie war es aber auch ein sonderbarer Gedanke, einen anderen Mann in ihr Bett und damit in ihr Leben zu lassen. Ihre Söhne liebten den Vater und würden sicher nur schwer einen männlichen Begleiter an ihrer Seite akzeptieren. Das würde Streit mit sich bringen, Missstimmung, und auch wenn ihr Ex sich ständig mit anderen Partnerinnen umgab – sie hatte ihn schon mehrfach gebeten, den Kindern nicht dauernd neue Freundinnen zu präsentieren –, so würde er in ihrem Fall ein Mordstheater um einen neuen Mann machen. Er kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie keinen Lückenbüßer oder Sexgespielen suchte. Er wusste, dass ein Mann, den sie den Jungen vorstellte, jemand sein würde, den sie liebte. Er war zu eitel, um das unkommentiert hinzunehmen. So viel war klar.
Den nächsten Kelch trank sie im Stehen und quasi ex, schenkte sich erneut nach, erinnerte sich an das, was sie sich vorgenommen hatte, und versuchte sich an einer richtigen Beschimpfung, denn sie musste den kryptischen Aussagen ihres Vaters irgendwie entfliehen. Sie würde es nicht ertragen, festzustellen, dass auch er etwas Schlimmes getan hatte.
»Auf dich, Scheiß-Giorgo!«, rief sie aus und stellte fest, dass sie das wohl noch etwas üben musste, nahm einen Schluck, packte eine Packung gesalzener Chips und ging wieder hinaus. Sie würde noch etwas warten, bevor sie sich dem nächsten Brief zuwandte. Ihr war nicht ganz klar, ob es betrunken oder nüchtern einfacher wäre zu lesen, was sich ihr Vater von der Seele geschrieben hatte.