Litsa, 1844
Es war ein anstrengender Weg gewesen bis hinunter ans Meer. Sie hatte Theodoris nur schwer erklären können, warum sie an die Küste musste. Doch er war ein guter Mann und brachte viel Verständnis für sie auf.
Obwohl sie als kleines Mädchen bei ihrer Flucht von der Melidoni-Höhle beinahe gestorben wäre und im Anschluss rund zwei Jahre lang kein Wort hatte sprechen können, hatte sie eine recht normale Kindheit und Jugend verbracht.
Jäger fanden sie nach dem schlimmen Sturz. Sie war so gut wie verdurstet, und ihr kleiner Körper wies einige schwelende Wunden und Brüche auf. Die Männer waren keine Freiheitskämpfer, sondern einfache Dorfbewohner und trugen sie abwechselnd in die Siedlung. Sie redete nicht und konnte niemandem von dem Grauen, das sie gesehen hatte, berichten, und auch die Namen ihrer Eltern brachte sie nicht über die Lippen. Sie konnte zwar ein wenig schreiben, doch nur genug, um ihren Namen zu notieren. In den Wirren der Besatzung und des Krieges gab es viele Kinder, die plötzlich zu Waisen geworden waren, doch meist fanden sich Familienmitglieder, die sich ihrer annahmen. Das war in Litsas Fall nicht möglich, denn selbst wenn man nach ihnen hätte suchen können, so wäre diese Suche erfolglos geblieben, denn alle lagen still tief unten in der Höhle, getötet von den Teufeln mit ihrer Feuersbrunst.
Jahre später erfuhr Litsa, dass ihr Vater Manolis bei einem Rachefeldzug gegen die osmanischen Kriegsführer ebenfalls ums Leben gekommen war. Es war schmerzhaft, zu wissen, dass nun auch ihr letzter naher Blutsverwandter tot war, getötet von der Hand der Mörder ihrer Mutter, Großmütter und ihres winzigen Bruders – doch sie hatte sich in der neuen Gemeinschaft eingelebt, und alle begegneten ihr mit wohlwollendem Respekt. Sie war das Kind, das das Massaker der Gerontospilios – der Melidoni-Höhle – überlebt hatte, bei dem rund dreihundertsiebzig Menschen ums Leben gekommen waren. Das kam einem Wunder nahe, und ganz sicher hatte Gott da seine Hände im Spiel gehabt und etwas Besonderes mit ihr vor. Vielleicht würde aus ihren Lenden eine Familie entstehen, die den Retter hervorbrachte, der Kreta von den Feinden befreite. Sie weinte daher zwar um ihren Vater, doch das Schicksal hatte ihr eine Mama und einen Papa gesandt, die die Lücke füllten. Katharina und Manolis – die Eltern, deren Gene sie in sich trug – waren im Himmel und sahen von dort liebevoll auf sie hinab, während Ioanna und Heraklis ihr Heimat, Essen und Erziehung boten.
Sie wuchs durch deren Unterstützung und Fürsorge zu einer mutigen jungen Frau heran und verstand erst spät, warum ihre Zieheltern sie so sehr liebten: Keines ihrer Kinder hatte die ersten Lebenswochen überlebt. Ioanna hatte vier Babys verloren und war zu einem traurigen schwarzen Schatten geworden. Aus Heraklis’ Erzählungen wusste Litsa, dass sich das geändert hatte, als er – er war einer der Jäger gewesen – sie durch die Tür getragen und auf der schmalen Pritsche neben dem Herd abgelegt hatte. Ioanna hatte nichts anderes mehr getan, als sich darum zu kümmern, dass ihre Wunden heilten und sie sich von den Strapazen der Flucht erholen konnte.
Sie war geduldig im Umgang mit ihr, drängte sie nicht, und irgendwann fing sie an, Litsa so zu behandeln, als wäre alles vollkommen normal und Litsa würde gar nicht schweigen.
Das sorgte dafür, dass die Stimme irgendwann wieder zurückkam. Erst sprach Litsa heimlich mit der Katze, die immer hinter dem Haus saß und deren Fell ähnlich gemustert und weich war wie das des Kaninchens. Als sie sich sicher war, dass die Stimme und auch die Fähigkeit, sich zu artikulieren, nicht wieder verschwinden würden, warf sie sich freudestrahlend Ioanna in die Arme und beantwortete einfach eine ihrer Fragen.
Niemals würde sie das Strahlen in deren Augen vergessen und wie sie Heraklis abends überrascht hatten, als er vom Feld zurückgekommen war.
Es war eine gute Zeit gewesen, und die beiden hatten ihr viel mitgegeben. Als Litsa älter geworden war, hatte sie bemerkt, dass die zwei einander zwar mochten, aber nicht so zu lieben schienen, wie man es von Paaren erwartete. Sie berührten sich nur selten, und da Litsa mit Ioanna im Bett schlief, rieben die Erwachsenen auch ihre Körper nicht aneinander, so, wie sie es aus Erzählungen von anderen Heranwachsenden gehört hatte, die sich immer tunlichst die Ohren zuhielten, wenn die Eltern das miteinander machten.
Ihr war bewusst, dass die beiden es vermieden hatten, damit Ioanna nicht wieder schwanger wurde. Heraklis hatte seine körperlichen Bedürfnisse woanders befriedigt, aber niemals infrage gestellt, wo sein Zuhause war, und für Ioanna war das wohl auch in Ordnung gewesen, denn Litsa hatte aus ihrem Mund nie ein böses Wort über Heraklis vernommen.
Beide Eltern hatten Theodoris für sie ausgewählt, und Litsa mochte ihn, doch sie wusste, dass Mögen allein nicht ausreichte. Ein Mann musste auch dazu in der Lage sein, für Frau und Kinder zu sorgen. Theodoris hatte ein einfaches Heim, aber es war ordentlich und bot Platz für eine kleine Familie. Zudem war er fleißig und kein Trunkenbold. Da sie durch die verlorenen Jahre in ihrer Entwicklung ein wenig hinterherhinkte, war sie erst mit neunzehn das erste Mal Mutter geworden, und Ioannis’ Geburt hatte sie daran zweifeln lassen, dass sie mehr als ein Kind bekommen sollte. Doch sie mochte den Sex, mochte es, wenn Theodoris sich von hinten an sie drückte, ihr mit einer Hand zwischen die Beine fasste und mit der anderen eine ihrer Brustwarzen zwischen den Fingern zwirbelte, bis sie weiche Knie bekam und ganz feucht wurde.
Also wurde die kleine Aelia nur knapp anderthalb Jahre später geboren, und Nikos erblickte zwei Jahre nach seiner Schwester das Licht der Welt. Wahrscheinlich würde sie noch mehr Kinder bekommen, denn sie konnte einfach nicht aufhören, sich stöhnend unter Theodoris zu winden, auch wenn der Priester Wollust als Sünde bezeichnete. Doch das konnte ja nicht für ein Ehepaar gelten, davon war sie überzeugt. Gleichzeitig empfand sie drei gesunde Kinder als Geschenk und verspürte weder das Bedürfnis, erneut die Beschwerden einer Schwangerschaft ertragen zu müssen, noch die der Geburt, der Stillzeit oder auch der Kindererziehung allgemein. Mussten drei nicht ausreichen? Sie hatte von Frauen gehört, die schwanger wurden, aber dafür Sorge trugen, dass sie die Kinder gar nicht erst bekamen. Doch viele starben auch bei dem Versuch, es wegmachen zu lassen. Sie wollte kein winziges Lebewesen in sich töten. In ihrem Umfeld hatte es schon zu viele Tote gegeben. Doch sie wollte auch nicht mehr dauernd kugelrund nach Luft japsen und den Urin nicht mehr halten können, während sie verzweifelt versuchte, ihre Füße unter dem aufgeblasenen Leib zu finden.
Sie wusste, dass sie sich schuldig machte mit diesen Gedanken, und obwohl sie über wirklich vieles mit Theodoris reden konnte, so war ihr klar, dass er das keinesfalls verstehen konnte.
Ihr Leben war in Ordnung so. Sie hatte kaum noch Erinnerungen an ihre Zeit vor der Höhle, und auch von dort waren nur Bruchstücke geblieben. Sie fürchtete sich nur vor schlimmem Qualm und zu hohen Flammen. Die machten sie steif und bewegungslos, riefen einen sonderbaren Schmerz in ihr hervor. Es war eine mahnende Erinnerung ihres Körpers und ihrer Seele, dass das, was ihr widerfahren war, für immer ein Teil von ihr bleiben würde.
Theodoris achtete gut darauf, dass die Flammen in ihrer Feuerstelle gemäßigt blieben und dass das Holz trocken genug war, um nicht zu qualmen. Daher wurde sie selten von ihren Ängsten heimgesucht.
Seit Nikos’ Geburt – er trug den Namen ihres verstorbenen Bruders und war nun mit seinen vier Jahren bereits viermal so alt wie sein Onkel – verspürte sie das unbändige Bedürfnis, das Meer zu sehen und ihm all ihre geheimen Gedanken und Gefühle anzuvertrauen. Sie wusste nicht, warum, und konnte es auch nicht rational erklären. Sie hatte davon geträumt, wie sie auf einem Boot stand – die Arme weit ausgebreitet, den Wind in den Haaren und in ihrem Kleid. Das Salz auf ihrer Haut, auf ihren Lippen und die unendliche Weite des Ozeans mit seinen Blautönen vor ihren Augen. Erzählungen vom Meer hatten diese Bilder in ihre Träume gezeichnet, denn sie hatte es noch nie gesehen. Warum sollte sie sich wegen einer Fantasie auf einen Eselskarren hocken, durch Büsche und über holprige Pfade marschieren und mehrere Stunden damit verbringen, die Strecke hin und wieder nach Hause zurückzulegen? Das klang auch in ihren Ohren verrückt. Sie war ein anerkannter Teil der Gemeinschaft und dies aufs Spiel zu setzen, um einer Laune zu folgen, war keinesfalls eine gute Idee.
Sie begann, Theodoris von ihrem Wunsch zu erzählen, und anfangs verstand er sie nicht. Sie lebten in der Siedlung Pigouniana und hatten alles, was sie brauchten. Sie hielten ein paar Ziegen, bauten Gemüse an, und Theodoris ging einige Male im Jahr mit den anderen Männern zur Jagd. Sie tat sich zwar immer schwer damit, die Hasen zuzubereiten, denn schließlich hatte ihr einer von ihnen das Leben gerettet, aber ein leerer Magen fragte am Ende nicht mehr nach den Geschichten aus der Vergangenheit. Ihr Mann sah sie an, als spräche sie plötzlich eine vollkommen unverständliche Sprache, und sie wandte sich ängstlich zu den Kindern, sagte prüfend einige Worte und sah erleichtert in ihren Gesichtern, dass sie nicht plötzlich die Fähigkeit verloren hatte, sich in ihrer Muttersprache zu äußern. Also wagte sie wenig später erneut einen Vorstoß, und es war in Beziehungen wie in der Natur: Steter Tropfen höhlte den Stein.
Eines Tages stimmte er ganz plötzlich zu, und das Unmögliche wurde möglich. Sie machten eine Reise ans Meer. Ihre Schwiegereltern würden die Kinder für zwei Tage übernehmen.
Sie waren mit einem Händler auf dessen Karren bis Aggeliana mitgefahren und von dort zu Fuß weitergegangen. Die Wege waren staubig gewesen, und in der Sonne hatte man rasch zu schwitzen begonnen. Auch das war etwas, was für sie sehr wichtig war: Sie musste immer Zugriff auf genügend Wasser haben!
Sie erreichten Skaleta, und sie konnten sehen, wie das Meer in der Sonne glitzerte. Sie musste stehen bleiben und dieses Schauspiel in sich aufnehmen. Sie trugen Bündel auf dem Rücken und hatten lange Olivenhölzer als Wanderstäbe. Aus den Decken in den Bündeln und den Stäben würden sie sich einen Unterschlupf für die Nacht bauen. Litsa wollte am Strand liegen, dem Geräusch lauschen, das das Meer machte, denn es war immer in Bewegung. Sie hoffte, einen Fischer zu finden, der sie mit hinausnehmen würde, und weil es nicht einfach erschien, über alles zu sprechen, was sie bewegte und was sie dem Meer anvertrauen wollte, hatte sie begonnen, Steine auf dem Weg zu sammeln. Bereits zu Hause hatte sie kleine Tontöpfchen gefertigt, in denen sie Kohle, Kalk, zerstampfte Früchte und das Mus, das sie aus einem Käfer gemacht hatte, mit sich führte. Mit diesen Farben würde sie auf die Steine schreiben und malen. Dann konnte sie dem Meer ihre Gedanken und Gefühle ganz einfach und für immer anvertrauen, und Theodoris würde nie erfahren, was sie bewegte und um was sie den Ozean bitten wollte. Das Meer war Gottes Schöpfung und somit ein Teil von ihm, also würde sich am Ende der Kreis schließen.
Sie hatte ein so klares Bild in sich, dass sie erst jetzt in Erwägung zog, dass dies Gott so sehr erzürnen konnte, dass er vielleicht das Boot umwarf oder einen großen Fisch schickte, der es verschluckte. Wenn der Fischer zu weit hinausfuhr, konnten sie auch am Ende des Wassers einfach herabstürzen, und ihre Kinder mussten dann als Waisen aufwachsen. Sie spürte, wie die zögerlichen Gedanken größer und mächtiger wurden und ihr Mut plötzlich schwand. Wo kamen die Träume nur her, die sie dazu gebracht hatten, daran zu glauben, dass sie auf das Meer hinausmusste?
Sie griff Halt suchend nach der Hand ihres Mannes, und er schaute sie fragend an. Sie konnte die Begeisterung in seinem Blick sehen, und er lächelte fröhlich auf sie hinab. Das minderte ihre aufkommenden Sorgen. Für ihn war es ein Abenteuer, und er erhoffte sich, einige Portionen gepökelten Fisch zu ergattern und gegen die Streifen getrockneten Ziegenfleisches eintauschen zu können, das er dabeihatte. Zudem hatte er Kräuter gesammelt, die einen würzigen und gesunden Trank ergaben, wenn man sie mit kochendem Wasser überbrühte. Einige davon wuchsen nur hoch oben an den Berghängen, sodass davon auszugehen war, dass sie unten am Meer eine gute Tauschware ergaben.
Sie schob die bedrückenden Gedanken beiseite, denn sie genoss es, Theodoris so entspannt und zufrieden zu sehen. Seitdem die Kinder da waren, arbeitete er sehr viel und versuchte, ihnen allen ein gutes Heim zu bieten. Er ging zeitig zu Bett und stand bereits im Morgengrauen auf, um dafür zu sorgen, dass das Feuer brannte, Wasser vorhanden war und die Tiere gemolken waren, bis die Kinder aufwachten, um ihnen die nahrhafte Milch reichen zu können. Nach dem Frühstück zog er gemeinsam mit Ioannis los, um Futterstellen für das Vieh zu finden. Der Bub war mit seinen sieben Jahren bereits alt genug, um dem Vater zur Hand zu gehen, während Aelia ihr half, das Gemüse und die Früchte zu bestellen und Wolle zu spinnen. Litsa hatte hier großes Geschick entwickelt, und einige Hirten aus der Siedlung brachten ihr die geschorene Rohwolle, und im Tausch für ihre Arbeit erhielt sie immer etwas Material, um Kleidung für ihre Kinder zu fertigen.
Nikos war noch zu klein, um zu helfen, und hatte sowieso sehr viel Schabernack im Sinn. Er brachte sie oft zum Lachen, und sie fragte sich regelmäßig, was für ein Mann ihr gleichnamiger Bruder wohl geworden wäre. Ob sein Neffe ihm glich? Es war müßig, diese Gedanken zuzulassen, doch sie kamen immer wieder, und sie stellte sich dann vor, wie er heute aussehen könnte. Sie erinnerte sich an ihre Eltern, doch die Bilder in ihrem Kopf waren mit den Jahren blass geworden, und so sah auch der erwachsene Nikos immer ein wenig farblos aus.
»Das ist wirklich wunderschön, Litsa. Schau, wie weit das Wasser reicht. Bis zum Ende der Welt.« Theodoris’ Stimme klang schwärmerisch. »Die Fischer sind mutige Männer. Sie dürfen nicht zu weit hinaus, um ihre Beute zu fangen, denn sonst stürzen sie hinab.«
Litsa lehnte ihren Kopf an seinen Arm. »Es sieht wundervoll aus, und es riecht auch verlockend«, stellte sie fest und fühlte sich in dem bestätigt, was sie sich erhofft hatte. Sie hatte so oft gehört, dass man das Salz auf der Haut schmecken konnte, sobald man in der Nähe des Ozeans war, dass sie bereits nach wenigen Minuten versucht war, an ihrem Arm zu lecken, um zu überprüfen, ob die Erzählungen stimmten oder die Händler einfach nur Geschichten erfanden.
»Lass uns hinabgehen und einen Ort suchen, an dem wir unseren Schlafplatz aufbauen und etwas essen können«, sagte er und sie nickte bestätigend.
Ob sie wohl ein paar Schritte ins Wasser hineingehen konnte? Sie hatte keine Vorstellung davon, ob dies möglich war oder nicht, denn man musste sehr vorsichtig sein. Das hatten ihnen alle im Dorf mitgegeben. Wer aus den Bergen kam, konnte nicht schwimmen, und dann hatte der Ozean leichtes Spiel mit den Menschen. Er konnte sie hineinziehen und verschlingen.
Theodoris stapfte entschlossen los, und Litsa folgte ihm ganz in ihre Gedanken und die innere Zwiesprache versunken.
Einige Zeit später schoben sie sich zwischen zwei Felsen hindurch und standen auf einem sehr breiten Streifen mit extrem feinem, in der Sonne glitzerndem Sand. Das Wasser schlug in leichten Wellen auf den Strand und war so blau, dass es Litsa das Herz vor Glück zusammenzog. Theodoris blieb wie vom Donner gerührt stehen, und sein Mund war staunend geöffnet.
So genossen sie einige Zeit die neuen Eindrücke, und sie fühlte sich ihm so nah, dass ein jäher Schauer der Lust über ihre Haut glitt. Wie wundervoll würde es sein, wenn sie sich hier in der mondbeschienenen Dunkelheit auf ihrem Lager liebten? Vollkommen allein und ungestört. Sie würden stöhnen können und die Positionen wechseln, wie es ihnen gefiel, denn sie mussten keine Rücksicht auf die Kinder nehmen. Nicht nur das Meer war ein unglaubliches Geschenk, sondern auch die ungestörte Zweisamkeit, derer sie plötzlich gewahr wurde. So hatten sie einander noch nie gehabt, denn in einer Siedlung war man nie ungestört. Ihm schien wie durch eine magische Verbindung ihrer Gedanken das Gleiche durch den Sinn zu gehen, denn er drehte sich zu ihr, sah ihr tief in die Augen, und sein Blick war so dunkel und begierig, dass sie dabei ein ziehendes Gefühl in ihrem Unterleib spürte. Sie wollte sich ihm sofort hingeben, die Kleider von seinem muskulösen Körper schälen und ihre Finger über seine raue, von der Sonne gegerbte Haut gleiten lassen. Mahnend meldete sich eine Stimme in ihr: Dann kommt ein neues Kind. Du willst kein neues Kind. Vergiss das nicht! Geschäftig nahm sie das Bündel vom Rücken und fragte: »Was denkst du, wo der beste Platz für unser Lager ist?«
Er ging ein paar Schritte weiter in Richtung Wasser, drehte sich um, prüfte den Himmel und den Wind und wählte dann eine Stelle nahe den Felsen aus, die sie gerade durchschritten hatten. Er strich ihr das Haar mit einer sanften Geste aus dem Gesicht, und sie begannen, ihre Sachen auszubreiten. In der Bucht dümpelte ein einzelnes Boot, und Litsa hoffte, dass der Fischer heute noch kommen würde. Alles entwickelte sich gerade wie von selbst zu einem magischen Abenteuer. Theodoris hatte sie schon lange nicht mehr so verliebt angeschaut. Sie waren ein altes Ehepaar, vertrauten einander, genossen die körperlichen Freuden und sorgten für ihre Familie. Da blieb nicht viel Raum für Romantik. Diese zwei Tage jedoch versprachen, zauberhaft zu werden, auch wenn sie ihm vorenthielt, was ihr wahrer Wunsch war. Sie hatte ihn bisher nur sehr selten angelogen, und es waren dumme Kleinigkeiten gewesen, nichts von Bedeutung. Das hier jedoch war etwas, was Gott gewiss nicht guthieß. Sie würde es ihrem Mann niemals sagen können und damit eine Lebenslüge zwischen ihnen errichten. Auf dem Fundament dieser liebevollen Stimmung wirkte es wie eine Selbsttäuschung, an ihrem Vorhaben festzuhalten. Und doch musste sie tun, was ihre Träume ihr geboten hatten, und loslassen, was sie beschwerte. Jetzt, wo sie den Ozean aus der Nähe sah, wusste sie auch genau, dass er ihre Botschaften verkraften konnte. Er war riesig und reichte bis zum Horizont. Er streichelte das Ende der Welt und war auf besondere Art mächtig.
Kurze Zeit später saßen sie ganz nah beisammen und aßen. Ihre Hände berührten sich immer wieder und sie musste sich beinahe mit Gewalt losreißen, um sich den Steinen zu widmen. Sie hatte sich bereits auf dem Weg hierher Gedanken gemacht, wie sie das, was sie sich wünschte und gleichzeitig auch loswerden musste, auf ein paar wenigen Steinen notieren sollte. Vor ihrem inneren Auge waren Symbole erschienen, die sich gut anfühlten, doch wie sollte das Meer diese verstehen? Irgendwie musste sie es dem Wasser erklären. War es in Ordnung, ihren Mann darum zu bitten, sie einen Augenblick allein zu lassen? Ja – das war möglich, denn schließlich hatte er sie aufgrund ihrer Träume hierher begleitet.
»Du wirkst so abwesend«, sagte ihr Theodoris, und sie tauchte aus ihren Gedanken auf.
»Es tut mir leid … ich … ich habe darüber nachgedacht, wie ich meinen Traum umsetzen kann.« Nun kam die Lüge, und sie hatte sie sorgsam vorbereitet, denn sie wusste, dass er dazu nichts sagen konnte: »Wenn ich all meine Sorgen aus der Vergangenheit über Bord werfen kann, dann schenke ich mir und uns allen mehr Frieden. Ich habe so vieles vergessen, was früher war, und manchmal schaue ich Nikos an und denke an meinen kleinen Bruder. Ich möchte an ihn denken können, und es soll gut sein, denn ich will ihm und all meinen Lieben Frieden geben. Ich weiß, dass das Wasser mir dabei helfen kann.« Es war nur zum Teil eine Lüge, denn sie würde auch für ihre verstorbenen Familienmitglieder einige Steine bemalen und sie mit Gebeten dem Meer übergeben, doch der Hauptteil war das, was sie sich für sich und ihr eigenes Leben wünschte.
Sie drehte sich zu ihm – diesem guten, treuen Mann – und legte ihre Lippen auf die seinen. Sie waren rau von der Sonne, und er schmeckte nach Käse und Tomaten. Er roch nach Schweiß und Salz, und es war ein guter Geruch. Ihr wurde warm ums Herz. Sie wollte sich einfach in seinen Arm schmiegen und hier sitzen bleiben, doch sie hatte etwas zu erledigen, und es war wichtig für ihren Seelenfrieden.
Also küsste sie ihn noch einmal und zog dann beherzt die Steine und Tontöpfchen aus ihrer Tasche. Sie hatte sich aus einem dünnen, stabilen Holzstab und Ziegenhaaren einen Pinsel gefertigt und begann langsam mit den Glyphen und Zeichnungen, die ihr im Traum erschienen waren. Je länger sie malte, umso sicherer war sie, dass alles gut werden würde. Es war eine wundervolle Idee, und sie konnte die Magie ihres Tuns deutlich spüren. Es war keine dunkle Magie, sondern eine voller Licht. Sie fügte mit ihren Wünschen niemandem Schaden zu. Jeden Stein streichelte sie mehrfach mit den Fingerspitzen, erfühlte dadurch seine Beschaffenheit und wählte so die Seite, auf der sie dann zu malen begann.
Als Theodoris ihr die Hand auf die Schulter legte und aufgeregt sagte: »Da kommt der Fischer. Er muss es sein, denn er trägt ein Netz über der Schulter«, erwachte sie aus ihrer verzückten Trance. Er erhob sich, denn es war besser, wenn die Männer miteinander redeten. Sie ließ ihn allein gehen, denn das verschaffte ihr die Zeit, den Stein, der am wichtigsten für sie war, noch einmal mit Farbe zu versehen, um ihn stärker wirken zu lassen. Dann begann sie, Worte zu flüstern, um die Bedeutung zu verstärken. Sie wiederholte diese so oft, bis sie sich alles genau eingeprägt hatte. Das würde sie dem Meer mitgeben.
Eine Welle des Glücks überrollte sie, als Theodoris sich umdrehte und ihr lächelnd zuwinkte.