11. Kapitel

Carsten, Gegenwart

Er hatte lange geschlafen und verwundert zur Kenntnis genommen, dass nur der Hauch eines Traumes durch seinen erwachenden Geist glitt – mehr nicht. Das war außergewöhnlich, denn er hatte schon lange keine Nacht mehr ohne Albtraum verbracht. Meist wachte er schweißgebadet auf, erinnerte sich aber nicht mehr genau an das, was ihn bis in die Tiefen seiner Seele verfolgt hatte. Er brauchte auch keine Details, denn sie waren ein Teil von ihm, und er trug sie immer mit sich. Sein Beruf barg dieses Risiko, und er hatte es gewusst.

Es war schwer, einen neuen Weg zu gehen und herauszufinden, was er noch konnte. Er schrieb gut, das stand außer Frage, und auch seine Fotografien waren punktgenau, doch er hatte sich nicht vorstellen können, dass er irgendwann einmal keine Kraft mehr für all das aufbringen würde. Wenn man jung war, ging man verschwenderisch mit all dem um, man reiste um den Globus, nahm jeden Job an, der irgendwie vielversprechend klang, wollte Preise einheimsen und hoch angesehen sein. Man war einfach heiß auf das Adrenalin, das sich einstellte, wenn man in den Flieger sprang, sich in einen Hubschrauber schwang oder in einen Jeep kletterte. Er hatte immer gewusst, dass er jederzeit sterben konnte, doch das hatte er nie zu hoch bewertet. Er hatte eine Mission gehabt. Das war es, was gezählt hatte. Er hatte die Wahrheit in die Welt bringen wollen.

Wer hätte je gedacht, wie idiotisch sich ein solches Credo entwickeln konnte … dass sich die eigenen Werte plötzlich gegen einen selbst richteten? Dieser dumme kleine Auftrag, den er nun angenommen hatte, war einerseits eine Art Flucht, und andererseits musste er vieles klären, um zu verstehen, wer er wirklich war. Er hatte sich immer für einen von den Guten gehalten, doch war er das wirklich oder nur ein Wolf im Schafspelz? Zu viel war in den vergangenen Monaten passiert, um sich noch sicher sein zu können.

Er kletterte aus dem Bett und fuhr sich durch das verstrubbelte Haar, das wie immer in alle Himmelsrichtungen abstand, denn auch wenn er sich nicht an seine Träume erinnern konnte, so hatte er eben doch unruhig geschlafen. Auch sein Kiefer schmerzte höllisch, was deutlich machte, dass er wieder mit den Zähnen geknirscht und sich verbissen hatte. Er bewegte ihn mahlend hin und her und brachte ihn knacksend wieder zurück in einen etwas lockereren Zustand. Er hatte sich beim Zahnarzt eine Aufbissschiene machen lassen, doch sie war zwei Tage vor seiner Abreise zerbrochen. Durchgebissen! Vielleicht konnte er sich auf der Insel eine neue anfertigen lassen.

Sollte er einfach Fotini fragen? Die freundliche Inhaberin kam ihm wieder in den Sinn. Sie hatte es geschafft, die Dunkelheit für einen Augenblick zu vertreiben, und er hatte sich in ihrer Gegenwart wohlgefühlt – irgendwie aufgehoben. So, als könnte ihn das Übel nicht finden, während er mit ihr zusammensaß und aß. Er wusste, dass er nicht davonlaufen konnte vor den Tagen, an denen er durch den Treibsand seiner Gedanken watete, nicht vorankam und doch unendlich viel Kraft aufwenden musste, um nicht komplett darin zu versinken. Auch das hatte er sich als junger Mann nicht vorstellen können – Depressionen waren was für Frauen oder allerhöchstens noch für irgendwelche schwer gestörten Typen, aber doch nicht für gebildete, erfolgreiche Männer wie ihn.

Doch dann hatten sich diese düsteren Gedanken hervorgewagt aus den Momenten, in denen alles zu viel gewesen war und unerträglich schien. Menschen hatten begonnen, öffentlich darüber zu sprechen – Kollegen, Sportler, Schauspieler –, und er hatte sich in vielem wiedergefunden und akzeptieren müssen, dass er unter einer psychischen Erkrankung litt. Einer, die ihn an guten Tagen in Ruhe und seinen Job erledigen ließ, an den mittleren jede Menge Kraft raubte, damit er funktionieren konnte, und an den schlechten zum Zombie machte.

Der gestrige Abend hatte Hoffnung in ihm geweckt, denn er hatte sich wie ein vollkommen normaler Mensch gefühlt, und das kam selten vor, wenn er nicht damit beschäftigt war, einen Job zu erledigen. Also einen richtigen Job. Nicht einen kleinen Bericht über eine alte Festung und ein paar stimmungsvolle Bilder. Es gab auch nicht viel Geld dafür. Man hatte seinen Flug bezahlt und ihm einen Betrag für die Spesen zur Verfügung gestellt, der wahrscheinlich ausreichend war, auch wenn er zu Beginn befürchtet hatte, damit nicht über die Runden zu kommen. Doch es war ihm gelungen, über einige Buchungsplattformen recht anständige Unterkünfte zu finden, und was Essen und Getränke betraf, so hatte er gestern Abend einen Blick in die Speisekarte geworfen und war positiv überrascht gewesen, denn es würde unproblematisch sein, gut zu frühstücken, mittags einen kleinen Snack zu sich zu nehmen und sich abends in einer Taverne satt zu essen. Die griechische Küche war lecker und sättigend, und er hatte schon von winzigsten Portionen und abenteuerlichen Kreationen satt werden müssen. Er war also auf Kreta wahrlich im Paradies gelandet, was das anging.

Er zog den Vorhang beiseite, und das Blau des Meeres traf ihn wie ein Hammerschlag zwischen den Augen, langsam blinzelte er in die Helligkeit des strahlenden Morgens und öffnete die Terrassentür. Wärme schlug ihm entgegen, und eine laue Brise kam vom Wasser. Die Zikaden zirpten lauthals, und die Umgebung vibrierte von ihrem Gesang. Er atmete die salzige Luft ein, und Leichtigkeit durchflutete ihn. Diese Insel hatte ganz offensichtlich etwas Magisches und zog ihn bereits nach wenigen Stunden in ihren Bann. Er ließ die Tür offen, die Gardine bauschte sich im Wind, während er zu der kleinen Küchenzeile ging, um sich einen Kaffee zuzubereiten. Tomas hatte ihn gestern zu seinem Zimmer gebracht, ihm kurz die Technik erklärt und gezeigt, dass sich im Kühlschrank einige Lebensmittel für ein gutes erstes Frühstück befanden.

Kurze Zeit später saß er auf dem Korbstuhl auf der Terrasse, trank den starken Kaffee in kleinen Schlucken und biss von einem leckeren Zimtgebäck Stücke ab, die er genüsslich kaute, während sein Blick über die kleine Bucht schweifte. Es gab an der Promenade ein paar Lokale, und Fotini hatte ihm wärmstens empfohlen, einmal im Scirocco zu essen. Auch das fand er tatsächlich besonders, eine Gastwirtin, die ein anderes Lokal empfahl, anstatt den Besucher ständig an den eigenen Tisch zu holen. Gegenüber der Anlage, in der sich sein pragmatisch, aber gemütlich eingerichtetes Apartment befand, gab es einen schickeren Laden, den er schon auf Google gefunden hatte. Liber hieß das Restaurant – auch hier wurde die Küche gelobt, aber die Karte war etwas weniger traditionell. Vielleicht sollte er am Ende seines Aufenthalts noch einmal zurückkehren, die Gastfreundschaft von Fotini und Tomas genießen und einfach versuchen, sich ein wenig zu lockern. Er hatte Entspannung und Leichtigkeit bitter nötig.

Es gab noch immer viele Dinge, die geklärt werden mussten und seine Zukunft beeinflussen würden. Er war bisher immer nur mit leichtem Gepäck gereist. Das war eine Art Metapher für seine Art zu leben. Seine Wohnung in Berlin hatte er bereits möbliert gemietet. Sie gehörte einer Werbetexterin, die sich nach einem Burn-out aufs Land zurückgezogen hatte, und er war wirklich der passende Mieter, denn er war nur selten da, brachte wenig Eigenes mit und konnte bereits morgen die Räume in Kreuzberg wieder verlassen haben, sollte die Frau zurückkommen wollen. Er zahlte pünktlich die Miete, war viel unterwegs, wohnte daher ihre schicken Möbel kaum ab, und eine Zugehfrau reinigte die achtzig Quadratmeter regelmäßig. Er hatte immer damit argumentiert, dass er flexibel bleiben müsse, denn aktuelle Situationen forderten immer wieder spontane Reisetätigkeiten. Es konnte sein, dass er gerade noch mit einem Glas Ingwerbier auf dem Sofa lümmelte und in der nächsten Stunde bereits auf dem Weg zum Flughafen war.

Die letzten Monate vor seinem Ausstieg hatte er in der Ukraine verbracht. Im vergangenen Jahr war er regelmäßig in Afghanistan und Syrien gewesen, und er hatte bereits mehrfach lebensgefährliche Angriffe dokumentieren können, da er nicht nur in der Nähe gewesen, sondern sogar unter Beschuss geraten war und zudem nur durch einen glücklichen Zufall nicht im ersten Wagen der Kolonne gesessen hatte, den eine Granate traf. Für diese Bilder und den Bericht hatte er viele Preise bekommen, doch die linderten seine Träume nicht und gaben auch den jungen Kämpfern ihr Leben nicht zurück. Er hatte das Elend des Krieges so oft von Angesicht zu Angesicht gesehen, dass er schon Angst bekommen hatte, er sei abgestumpft. Doch die menschlichen Schicksale waren ihm nicht gleichgültig. Ganz im Gegenteil hatte ihn das angespornt, noch besser zu werden. Eine objektive Berichterstattung war das Einzige, was es möglich machte zu begreifen, was dort draußen in der Welt passierte.

Bisher hatte er Glück gehabt, und man hatte seine Sätze nicht durch Streichungen sinnentfremdet oder ihm gar einen Maulkorb verpasst. Er war stolz darauf, so auf die Dinge blicken zu können, denn es gab nie nur eine Sichtweise. Er hieß nichts gut, bewertete nicht, sondern fasste Tatsachen allgemein verständlich zusammen. Das war sein Anspruch. Selbst Paulchen Müller sollte verstehen, worum es in diesem oder jenem Konflikt ging, ohne vorher Politikwissenschaften studiert oder ein Wörterbuch zurate gezogen zu haben. Texte wurden nicht dadurch besser und intelligenter, weil man jede Menge Fremdwörter hineinpackte.

Eigentlich hatte er vorgehabt, heute schon ein wenig im Netz zu surfen und herauszusuchen, was es über das Kastro Koules zu erfahren gab. Es war nur eine von ungefähr sechzig Festungen, die die Türken im neunzehnten Jahrhundert gebaut hatten, um die kretischen Widerstandskämpfer im Zaum zu halten. Ganz in der Nähe von Lygaria befand sich das Fodele Fortress, das errichtet worden war, um die Bucht von Fodele zu kontrollieren. Die Osmanen hatten überall auf der Insel ihre Spuren hinterlassen, und er wusste, dass sie viel Leid über Kreta gebracht hatten. Doch sein Auftraggeber wollte nichts über Kriege, Kämpfe, Tote und Qualen wissen, sondern nur gute Aufnahmen und möglichst romantisierende Storys von Heiratsanträgen, die dort gemacht werden konnten, oder von Treffpunkten für Liebespaare. Letztendlich sollte es das werden: Es ging um eine Serie über die schönsten, abgelegensten Treffpunkte für Pärchen – ganz ohne Hotspot-Getue und Strandaufnahmen. Keine Ahnung, wer den Verleger auf diese bekloppte Idee gebracht hatte, doch Carsten war der Auftrag gerade recht gekommen, denn er würde diesmal nicht zerbombte Häuser, schreiende, verletzte Menschen, Panzer, waffenbeladene Flugzeuge oder gar schussfähige Drohnen ablichten müssen. Nichts an seiner Aufgabe war preisverdächtig, weltbewegend und initiierte eine Veränderung, doch genau das konnte vielleicht seine zersplitterte Psyche wenigstens teilweise heilen.

Er hatte sich im vergangenen Jahrzehnt keine Zeit für sich genommen, hatte sich keine Pause gegönnt, und nun wehrten sich Körper und Geist gegen den Raubbau, den er da betrieben hatte. Die Depression war schon länger da. Er hatte sich zu Beginn seiner Zeit in Berlin – das war nun fast fünf Jahre her – mit seiner Vermieterin unterhalten, die ihm fromm und frei ihren ganz persönlichen Absturz aus den Höhen des Erfolgs geschildert hatte. Und vieles, was sie gesagt hatte, hatte ihn messerscharf getroffen. Doch er hatte es immer beiseitegeschoben, hatte die nächste Aufgabe angenommen und weder einen Therapeuten aufgesucht, um die Bilder in seinem Kopf außer Kraft zu setzen, noch sich die Zeit gelassen, erst den einen Schock zu verkraften, bevor er sich den nächsten zumutete. Er war immer getriebener gerannt, hatte sich immer mehr verbissen, und dann hatte ihn die Dunkelheit einfach eingesaugt.

Er hatte keine Freude mehr empfinden können, und an vielen Tagen war es ihm ergangen, als versuchte er bergauf zu rudern. Alles in ihm hatte sich gleichzeitig vollkommen zugestellt und leer angefühlt – als wäre sein Verstand plötzlich eingemauert. Und während er versucht hatte, die Steine einzureißen, hatten sie sich immer wieder wie von Geisterhand zusammengefügt, ihn eingeschlossen und von anderen Menschen abgetrennt.

Er hatte immer geglaubt, alles aushalten zu können, was er sah und hörte: Die junge Inderin, die von sechzehn Männern öffentlich vergewaltigt worden war. Und anstatt ihr zu Hilfe zu eilen, hatten sich alle weggedreht. Im Anschluss hatte man sie zum Tode verurteilt – sie, nicht die Täter! Er hatte ihre Geschichte aufgearbeitet und versucht, auch hier von allen Seiten auf das zu schauen, was geschehen war. Man hatte seine Berichterstattung sehr gelobt. Dann war er zum nächsten Schauplatz weitergezogen, immer in dem Glauben, dass ihn eine Schutzschicht umgab wie eine Rüstung. Doch er hatte sich getäuscht! Als der Wolf gekommen war und gepustet hatte, war sein Haus einfach zusammengestürzt, und nichts außer einem Trümmerhaufen war von ihm übrig geblieben. Er hatte sich nur mühsam wieder zusammengesetzt, und nun war er hier. Der Auftrag war so viel mehr für ihn als nur eine Verdienstmöglichkeit.

Er nahm den letzten Bissen des süßen Stückchens, spülte es mit dem inzwischen fast kalten Kaffee hinunter und beschloss, den warmen Sand an seinen Füßen zu spüren und ein wenig schwimmen zu gehen. Er würde heute einfach wie ein Tourist handeln und die Schönheit der Bucht genießen, gut essen und lockere Gespräche führen. Er wollte sich wieder fühlen wie am Vorabend, und obwohl Fotini so vom Scirocco geschwärmt hatte, hatte er das Bedürfnis, in ihre gütigen Augen zu schauen und wieder Frieden zu finden. Er konnte nach dem Schwimmen entscheiden, wie er den Abend verbrachte.

Er schüttelte das Kopfkissen auf, zog das Laken glatt und ging ins Bad. Kurze Zeit später stapfte er in Badehose und locker aufgeknöpftem Hemd in Richtung Strand. Vielleicht klärte sich alles auf.

Er spürte Hoffnung in sich aufkeimen und freute sich plötzlich auf das Wasser. Heute war ein guter Tag.