Olympia, 1977
»Nun komm schon«, rief Olympia Papadopoulous und strich sich das glatte schwarze Haar über die Schulter. Sie liebte ihre Haare und zeigte dies auch gern, denn sie fielen ihr bis über den Po hinab und glänzten wie das lackierte Holz ihres Klaviers zu Hause. Ihre Freundin Eleftheria, genannt Ria, war mal wieder im Bad verschollen.
»Sofort. Du machst schon wieder Stress, Mädchen!« Rias Stimme klang nicht genervt, sondern einfach nur fröhlich. Das waren sie beide, denn sie hatten sich einen Traum erfüllt, und das machte sie glücklich. Sie arbeiteten in Athen in einer Anwaltssozietät und verdienten ihr eigenes Geld. Es reichte zwar noch nicht ganz dafür, bei den Eltern auszuziehen, doch sie gaben selbstverständlich monatlich einen Betrag ab, sodass es sich nicht mehr so anfühlte, als campierten sie nach wie vor im Kinderzimmer.
Olympias Vater war Lehrer, und ihre Mutter gab Klavierunterricht. Sie hatte Geborgenheit in ihrer Kindheit erlebt – soweit man dies in den Jahren des Bürgerkriegs und den Nachwehen des Zweiten Weltkriegs sagen konnte. Sie war eigentlich das einzige Kind und daher gut behütet aufgewachsen. Sie hatte einen Bruder gehabt, doch der war bei einem furchtbaren Unglück ums Leben gekommen. Sie war noch zu klein gewesen, um zu begreifen, was das mit ihrer Familie machte. Heute wusste sie, dass ihre Eltern ihrem Großvater väterlicherseits die Schuld dafür gaben, denn der hatte das Kind bei sich gehabt, als es ein Querschläger bei der Jagd tödlich traf. Danach waren die beiden mit ihrer kleinen Tochter in die Stadt gezogen. Der Vater war von einer überschaubaren Dorfschule in eine Bezirksschule gekommen und hatte sich wider Erwarten rasch eingelebt und war zu einem respektablen Vorbild für viele geworden. Ihre Mutter hatte einige Zeit benötigt, genügend Schüler zusammenzubekommen, doch die Musik war ihre große Liebe, und Olympia wusste seit vielen Jahren, wie viel Trost sie in der Musik fand, denn die Mutter hatte den Verlust ihres Sohnes nie so recht überwunden. Ihre Eltern waren kluge Menschen und hatten sie stets liebevoll umsorgt. Vielleicht ein wenig zu beschützend, doch es hatte ihr nicht geschadet. Zumindest empfand sie das so. Zudem hatte sie einen Beruf lernen dürfen und musste nicht schon mit achtzehn verheiratet sein. Das hatte sie gewiss dem Stadtleben zu verdanken, und das gefiel ihr gut, denn sie war schon Anfang zwanzig und Gott sei Dank noch ledig. Sie wartete einfach auf den Richtigen, auch wenn das wahrscheinlich schwärmerischer Quatsch war. Sie wollte das Leben spüren, und dazu gehörte es eben auch, sich zu verlieben. So richtig mit Herzklopfen, Schmetterlingen im Bauch und Romantik. Eine arrangierte Hochzeit auf dem Dorf – oder weil man vielleicht bei ersten sexuellen Erfahrungen dummerweise schwanger geworden war – war eine der schlimmsten Vorstellungen für sie. Doch glücklicherweise stand ihr das nicht bevor. Ihre Eltern würden einen Kandidaten auf jeden Fall auf Herz und Nieren prüfen, keine Frage, doch sie durfte sich dabei auch auf ihr Gefühl und ihren klaren Verstand verlassen. Ihr war vollkommen bewusst, dass das für eine junge Frau ihrer Generation etwas Besonderes war.
Ria hatte es nicht ganz so gut. Sie lebte zwar ebenfalls noch zu Hause, doch ihre Eltern hatte sie bereits verloren, und ihre Großmutter hatte sie aufgezogen. Das war merklich anstrengender, denn die Frau hatte die Wirren der Kriege zwar überlebt, aber ihren Mann in den letzten Kriegstagen verloren und ihre Kinder allein durch die Hungersnot gebracht. Das war nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Sie war überfordert damit gewesen, Ria und ihre jüngere Schwester Dimitra zu erziehen, und es war auch immer zu wenig Geld da gewesen, um die Mädchen vernünftig auszustatten. Um so stolzer war Ria gewesen, den Job in der angesehenen Anwaltskanzlei zu ergattern. Bald darauf waren sie – egal, wie unterschiedlich sie sonst waren – beste Freundinnen geworden.
»Wenn du noch schöner bist, bekommen wir nichts zu essen, denn dann starren dich alle Kellner wieder nur an und vergessen, was sie eigentlich tun sollen«, frotzelte Olympia nun und lachte laut. Das war das Einzige, was ihre Mutter immer versucht hatte, ihr abzutrainieren: ihr lautes und herzhaftes Lachen. »Das ist nicht damenhaft, Olympia, Liebes«, hatte sie tadelnd gesagt. Doch das Lachen war Teil ihrer Persönlichkeit, und so hatten die Eltern es akzeptiert, auch wenn sie bei manchen Feierlichkeiten nach wie vor leicht peinlich berührt dreinsahen, wenn ihre Tochter ihrer Freude lauthals Ausdruck verlieh.
»Tadaaa, da bin ich.« Ria kam aus dem winzigen Badezimmer, das zu dem kleinen Raum gehörte, in dem sich die zwei Betten und ein altersschwacher Kleiderschrank befanden sowie zwei hölzerne Stühle und ein winziger Tisch. Aber egal, wie überschaubar es wirkte, es war wundervoll, denn es hatte einen kleinen Balkon, von dem aus man direkt auf das azurblaue Meer in der Bucht von Agios Nikolaos sehen konnte. Einfach himmlisch, und sie waren ja nur zum Schlafen hier und um sich umzuziehen.
Ria drehte sich um ihre eigene Achse, und ihr wadenlanger Tellerrock schwang locker um sie herum. Die hohen Korkabsätze ihrer Schuhe betonten ihre langen Beine, und die eng anliegende Bluse zeigte, dass sie eine frauliche Figur hatte. Ihre schulterlangen dunkelbraunen Locken sprangen dabei munter umher. Sie kam auf Olympia zu und grinste. »Als würden dazu nicht allein schon deine Haare ausreichen. Da kann ich die Bluse bis zum Bauchnabel aufknöpfen, und niemand bemerkt es.« Es gab keine dumme weibliche Konkurrenz zwischen ihnen, sie waren sich beide vielmehr bewusst, wie wunderbar es war, eine Vertraute zu haben und mit ihr eine unbeschwerte Zeit zu verbringen. Sie waren alt genug, um allein zu reisen, hatten sich das Geld selbst zusammengespart. Doch Olympia hatte sich im Vorfeld eine lange Predigt ihres Vaters anhören dürfen, der sie eindringlich gebeten hatte »Ausschweifungen« zu vermeiden. Er hatte nicht ausgesprochen, was er wirklich meinte, aber sie hatte ihn verstanden.
Das war nicht der Hintergrund des Urlaubs auf der Insel. Sie wollten etwas sehen, eine andere Art zu leben kennenlernen und sich frei und unbeschwert fühlen. Lachen können, wann immer sie Lust dazu hatten, und auf nichts und niemanden dabei Rücksicht nehmen müssen.
»Dann los. Ich habe nämlich Hunger.« Olympia mochte die leckeren Meze in der kleinen Taverne um die Ecke, in der eine zahnlose Alte kochte und so viel Liebe in das Essen packte, dass man von den Gerichten zu träumen begann. Ihre Mutter kochte auch gut, aber es war nicht zu vergleichen mit den Gerichten, die sie hier bekamen. Es war eine einfache Alltagsküche, aber alles schmeckte so intensiv, und man bekam das Bedürfnis, den Teller abzulecken, um auch ja keinen Tropfen einer Soße übrig zu lassen.
Ria hakte sich bei ihr unter, und sie verließen beschwingt die Unterkunft. Draußen roch die Luft nach Sonne und Salz, und durch die Gassen zogen die Düfte von Zwiebeln, Knoblauch, Oregano und Frittiertem. »Am Strand gibt es doch diesen Kiosk. Lass uns dort rasch noch einen Saft trinken. Mir geht der Geschmack einfach nicht mehr von der Zunge«, schlug Ria vor.
Sie hatte recht. Der frisch gepresste Orangensaft war unvergleichlich: Man glaubte, bei jedem Schluck die Sonne zu schmecken. Olympia nickte leicht. Ein Glas Saft konnte nicht schaden. Sie trank nicht viel Alkohol, mal ein Glas Wein, aber keinen Schnaps. Sie mochte den scharfen Geschmack nicht und wie er rau in der Kehle kratzte. Ria hingegen kippte das klare Gebräu wie Wasser hinunter und blieb trotzdem auf eine sonderbare Art nüchtern, denn sie wurde nie vulgär oder machte gar Dummheiten.
Olympia sah ihn schon, als sie auf die kleine Promenade abbogen. Er stand vor dem Kiosk und unterhielt sich mit dem Inhaber, den sie schon an den Tagen zuvor kennengelernt hatten. Er war ein gut aussehender Mann, etwas älter als sie – das konnte sie erkennen. Seine Kleidung war irgendwie anders als die der Inselbewohner – weltmännischer. Auf jeden Fall war er ein Hingucker.
Auch Ria schien ihn bemerkt zu haben und schubste sie kurz an: »Wer ist das denn? Der sieht klasse aus. Fast ein bisschen wie Sean Connery in Goldfinger. Findest du nicht auch?«
Olympia löste ihren Blick von dem Mann und spürte ein sonderbares Gefühl in der Magengegend. Es war kribbelig, und sie war plötzlich nervös.
Ria schubste sie erneut. »Erde an den Olymp! Bist du noch da?«
»Ent…entschuldige«, stotterte Olympia und fühlte, dass ihre Wangen sich zu röten begannen.
»Ah, du hast ihn schon längst gesehen«, schlussfolgerte die Freundin clever und warf ihr einen prüfenden Blick zu, »und er gefällt dir!«
Olympia schüttelte den Kopf, nicht unbedingt, um das zu verneinen, was Ria sagte, sondern weil sie irritiert war über das, was in ihr vorging. Sie hätte gern auf der Stelle die lockere Stimmung von vor zwei Sekunden zurückgehabt. Dann hob der smarte Mann den Kopf, und ihre Blicke trafen sich. Gab es das wirklich? Konnte man einen Menschen einfach nur sehen und wissen, dass die Moiren hier ihre Finger im Spiel und die Schicksalsfäden bereits gesponnen hatten?
Ihr erster Impuls war, sich umzudrehen und fortzulaufen, denn sie hatte doch Hunger. Aber dann siegte die Neugier, und sie ließ sich von Ria weiterziehen. Auch sie trug Schuhe mit einem hohen Keilabsatz aus Kork und ein weißes Kleid mit eng anliegendem ärmellosen Oberteil nebst einem weit ausgestellten Rock, der eine Handbreit unter dem Knie endete. Ihre Haut war von den Sonnentagen bereits gebräunt, und sie hatte so gut wie kein Make-up aufgelegt, nur eine Spur Rouge und einen leichten rosafarbenen Glanz auf ihren Lippen.
Sie traten an die kleine Bude heran, und Giorgos, der Inhaber, lächelte und begrüßte sie wie alte Bekannte. Maria, seine Verlobte, wie sie erfahren hatten, gesellte sich zu ihnen, und plötzlich, ohne dass sie wusste, wie ihr geschah, hielt der attraktive Mann in den Dreißigern ihre Hand in der seinen.
»Das ist mein Bruder Andreas«, stellte Giorgos ihn vor, und tatsächlich hatte er sich sogar ihre Namen gemerkt. »Und das sind Olympia und Ria aus Athen. Sie machen Urlaub hier in Agios Nikolaos.«
Das nervöse Gefühl kehrte zurück, und es war, als würde eine Art Strom durch ihren Arm fließen und sie direkt ins Herz treffen. Sie sah ihn an, und auch in seinen Augen spiegelte sich Erstaunen: Spürte er das Besondere ebenfalls?
Er hielt ihre Hand länger als nötig fest, und erst als Ria sich laut räusperte, brach der Zauber, der sie beide umfangen hatte. »Nur zur Info: Ich bin Ria und Olympias beste Freundin!« Sie lächelte keck und obwohl sie sonst keinem Flirt abgeneigt war, konnte Olympia deutlich erkennen, dass sie eine gewisse Form von Distanz zwischen sich und Andreas herstellte, als wollte sie damit sagen: Der gehört dir, das sieht selbst ein Blinder.
Die Reaktion ihrer Freundin verwirrte Olympia fast noch mehr als die Schmetterlinge in ihrem Magen und ihr elektrisiertes Herz. Sie strich sich kurz das Haar über die Schulter, und eine sanfte Brise wehte die schwarze Pracht leicht flatternd auf ihren Rücken. Sie sah, wie Andreas den Kopf hob und den Duft einatmete, den der Wind zu ihm trug. Sie hatte das Rosenshampoo benutzt, das sie so sehr liebte. Es gab den Haaren nicht nur einen wundervollen Glanz, sondern sie dufteten im Anschluss auch wie ein ganzer Rosengarten. Es war teuer und gehörte zu den wenigen wirklich luxuriösen Dingen, die sie sich von ihrem Gehalt gönnte. Sie war zweiundzwanzig und sich zu pflegen und schön zu machen, lag ihr am Herzen. Es ging dabei nicht darum, einen Mann auf sich aufmerksam zu machen, sondern sich in der eigenen Haut wohlzufühlen. Sie war zufrieden mit sich, sie beide waren innen wie außen schön. Ria war einfach etwas Besonderes, und vielleicht stärkte genau dies ihre Verbindung. Sie ergänzten sich: Wo die Freundin beinahe draufgängerisch war, war Olympia besonnen, und wo Olympia sich zu sehr zurückhielt, gab Ria ihr Mut.
Sie bestellten den Saft, Maria verschwand im Inneren des kleinen Kiosks und kam wenig später mit den randvollen Gläsern zurück. Das kräftige Orange sah verlockend aus, und sie konnten das Fruchtfleisch darin sehen. Die Orangen auf Kreta waren unglaublich saftig und süß – eine verführerische Köstlichkeit. Olympia trank einen großen, vollkommen undamenhaften Schluck und leckte sich glückselig über die Lippen. Dann nahm sie Andreas’ Blick wahr, der auf ihrem Gesicht ruhte. Ein Leuchten ging von seinen dunklen Augen aus und ließ seine Miene strahlen.
»Giorgo, Maria sollten wir den beiden Damen nicht einmal zeigen, wie wir auf Kreta feiern?« Er wandte sich an Bruder und Schwägerin. Der rasche Blick, den das Pärchen wechselte, war kaum sichtbar, und dann nickten beide erfreut.
»Das machen wir, und ich weiß auch schon, wo«, sagte Giorgos fröhlich.
»Ich räume schnell die Gläser weg und bringe hier etwas Ordnung rein«, entgegnete Maria und machte sich auf den Weg zur Seitentür des Holzverschlages, der ihr wohl als Vorbereitungsplatz diente.
»Kann ich etwas helfen?« Ria trabte hinter ihr her. Olympia konnte das Gesicht der Freundin nicht sehen, hatte aber eine Vorstellung davon, wie sie neckend die Augenbrauen abwechselnd nach oben schnellen ließ, denn das konnte sie richtig gut.
Auch Giorgos wandte sich geschäftig ab, klappte den Sonnenschutz herunter, um so die Ausgabestelle zu verschließen, und ließ sie beide allein.
Olympia war nicht auf den Mund gefallen, und auch wenn ihr die forsche Art der Freundin etwas fehlte, so war sie doch schlagfertig und clever genug. Doch nun fühlte sich ihr Kopf vollkommen leicht und leer an, während ihr Herz so laut pumperte, dass sie sicher war, er müsste es hören.
»Ich bin erst kürzlich nach Kreta zurückgekehrt«, sagte er unvermittelt.
Sie schaute ihn an. »Wir haben diesen Urlaub lange geplant, mussten ihn aber spontan um ein paar Tage verschieben, da die Kanzlei, in der wir arbeiten, einen wichtigen Fall reinbekam.« Sie schwieg verwundert. Sie wären einander vielleicht unter anderen Umständen gar nicht begegnet.
Sie konnte nur nicken. Es war weder übergriffig noch plump, was er sagte und vor allem, wie er es sagte: strahlend und voller Respekt. Eine Welle des Glücks überkam sie, sie legte den Kopf spontan in den Nacken und lachte ihr lautes, glückliches Lachen.
Das war der Augenblick, in dem sein Herz ihr vollkommen gehörte. Er hatte nie versäumt, ihr dies immer wieder zu erzählen: »Ich war schon dein, als sich unsere Blicke trafen, der Strom durch unsere Körper sauste und unsere Herzen elektrisierte, der Duft deiner Haare mich entzückte – aber dein Lachen hat mir klargemacht, dass ich nicht mehr ohne dich sein möchte …«