13. Kapitel

Hera, Gegenwart

Hera hatte nur wenige Stunden geschlafen. Nicht nur ihr Körper erschwerte ihr die erholsame Nachtruhe, sondern auch das Gedankenkarussell trug dazu bei, dass sie im Bett lag und an die Decke starrte. Bilder sammelten sich und wurden zu Szenen, die wie zitternde Schwarz-Weiß-Filme vor ihren Augen abliefen.

Als sie 1926 geboren wurde, hatte sich das Land nach vielen politischen Irrungen und Wirrungen auf einem guten Weg befunden. Ihre Eltern hatten sich Mühe gegeben, ihren Kindern ein Leben ohne Hunger und Unterdrückung zu bieten, doch erst waren es Klüngelwirtschaft und Parteiengerangel gewesen, die dieses Bestreben erschwert hatten, und dann waren die Deutschen gekommen, hatten sich das Land genommen und auch seine Menschen. Das war für sie eine der prägendsten Erfahrungen gewesen: dass es tatsächlich Leute gegeben hatte, die sich massiv gegen ihre Mitbürger gewandt und sich auf brutalste Art und Weise mit dem Feind verbrüdert hatten.

Elonidas war einer von den Guten gewesen, und nur deshalb hatte sie der Eheschließung mit dem jungen Mann zugestimmt. Sie hatte ihn gemocht, es war keine leidenschaftliche, romantische Liebe gewesen, sondern eher eine pragmatische Entscheidung. Er sah gut aus, war kräftig, seine Eltern hatten genug Land, um all ihre Kinder mit einem angemessenen Stück Boden in ihre Zukunft zu entlassen, und auch Heras Eltern waren nicht ganz mittellos dahergekommen, sodass auch ihre Mitgift recht passabel gewesen war. Mit Elonidas an ihrer Seite war eine gesunde Familie umsetzbar gewesen, und die Kinder würden nicht hungern müssen. So weit der Plan.

Der Krieg der Deutschen war zu weit weg gewesen, und es gab keinen Fernseher, über den man Informationen erhielt. Bis zu ihnen nach Anogia kamen die Nachrichten nur mit Verzögerung, und sie hatten sich nicht wirklich so sehr gesorgt, dass sie das Kinderkriegen als gänzlich unmöglich einstuften. Sie war fünfzehn gewesen und Elonidas einundzwanzig, als sie die Ehe miteinander eingingen. Damals war das vollkommen normal gewesen, und auch jetzt gab es noch Bergdörfer, in denen die Mädchen so jung verheiratet wurden. Heute hatte sie eine andere Meinung zu diesem Thema, denn mit fünfzehn war man beinahe selbst noch ein Kind, und es war wichtig, die Schule zu besuchen, etwas zu lernen und dann einen Beruf zu ergreifen, mit dem man auch eigenverantwortlich für sich Sorge tragen konnte. Sie hatte sich während des Wiederaufbaus nach dem Krieg das Spinnen beigebracht sowie die Weiterverwertung der Wolle. Damit hatten sie und die anderen Frauen sich über Wasser gehalten. Zudem hatten sie Schafzucht betrieben und die Felle verarbeitet. Die Frauen von Anogia waren irgendwann bekannt gewesen für ihre hervorragenden Handarbeiten, aber ob man das einen Beruf nennen konnte? Aus heutiger Sicht verstand sie das anders und wusste, wie wichtig Bildung war. Voller Stolz betrachtete sie ihre Enkelkinder, die im Ausland studiert hatten und hervorragende Arbeit leisteten. Doch damals – damals hatte man eben in dem Alter geheiratet und eine Familie gegründet.

Jetzt, nach der ersten Tasse Kaffee, wandte sie sich dem abgegriffenen Pappkarton zu, den sie bereits am Vorabend hervorgezogen hatte. So viele Dinge waren in den vergangenen vierzig Jahren einfach in den Hintergrund getreten. Sie hatte sich erst wieder auf der Insel eingewöhnen müssen, der Tod ihres Mannes hatte eine Mischung aus Trauer und Erleichterung – für die sie sich geschämt hatte – in ihr hinterlassen, und bereits nach wenigen Wochen hatte sie schon die Enkelkinder beaufsichtigt, während deren Mütter und Väter sich um den Bau der luxuriösen Hotelanlage kümmerten.

Sollte sie Katharina wirklich alles erzählen? Das Ritual hatte so oft für Kummer gesorgt. Doch sie hatte die Wirkung am eigenen Leib gespürt. Ihre Enkelin hatte es verdient, etwas so Magisches in die Hände zu bekommen, um dann selbst zu entscheiden, was sie tun würde. Sie hatte es verdient, in ihrem Leben wirkliche Erfüllung zu finden, denn eins war vollkommen sicher: Lambros war nie der Richtige für sie gewesen. Lambros war ein Lackaffe und ein Idiot, aber verliebte Menschen wollten solche Dinge einfach nicht hören. Hera hatte es damals versucht. Sie war nie gut darin gewesen, um den heißen Brei herumzureden, und im Alter hatte sie auch die Lust an diplomatischem Geplänkel verloren, wenn es um etwas ging, was ihr wichtig war. Deshalb hatte sie auch oft mit Giorgos diskutiert und versucht, Andreas ebenfalls in die richtige Richtung zu schubsen. Doch so wenig, wie ihre Söhne auf sie gehört hatten, hatte es auch Katharina getan.

Die Augen ihrer Enkelin waren groß wie Teller gewesen, als Hera ihr ihre Meinung kundgetan hatte: »Er wird dich nicht glücklich machen, mein Mädchen, und er ist nicht das, was du suchst. Denn für Lambros gibt es nur Lambros, und dann kommt erst einmal lange nichts. Vielleicht kommst dann irgendwann du, aber wenn ich ehrlich bin, glaube ich nicht einmal das.« Die junge Frau hatte vor Empörung nach Luft geschnappt und mit knirschenden Zähnen gesagt: »Das verstehst du nicht, Yara. Ich liebe ihn, und er liebt mich, und nur darauf kommt es an. Das zwischen uns ist eben anders als zwischen dir und Papous…«

»Na, Gott sei Dank!«, hatte Hera trocken geantwortet, denn eine Beziehung wie die zwischen Elonidas und ihr wünschte sie ihrer geliebten Enkeltochter gewiss nicht, aber die junge Frau hatte nichts mehr hören wollen. Menschen mussten eben ihre Erfahrungen machen und den Schmerz am eigenen Leib spüren, sie wollten nicht glauben, wenn andere ihnen sagten: »Tu das nicht, das tut weh!«

Vielleicht hätte das Ritual diese Ehe verhindern können? Aber manchmal war der Preis zu hoch, denn Worte wurden oft zu leichtfertig ausgestoßen und richteten dann schlimmes Unheil an. Sie war eine Frau, die auf sehr harte Weise erfahren hatte, was es bedeutete, in der bitteren Realität zu überleben, und gleichzeitig hatte sie nie daran gezweifelt, dass es mehr gab. Da waren die Energie von Erde und Wasser, die Kraft der Sonne, die Stärke des Mondes – das alles gab es, und die griechischen Götter hatten es gekannt und genutzt. Warum also sollte das mit dem einen Gott plötzlich alles nicht mehr existent sein?

Sie öffnete den Karton und nahm einen glatten Stein heraus. Es war an der Zeit, über alles zu reden und nichts auszulassen – so lange sie noch dazu in der Lage war. Sie erhob sich vorsichtig und brachte die Tasse zur Spüle, den Stein hielt sie fest. Der Vormittag war über all ihre Gedankengänge hinweg schon weit fortgeschritten. Sie würde gleich etwas essen, sich ausruhen und dann ihre Kathi anrufen, denn es war nun an Hera, die Initiative zu ergreifen.