Katharina, Gegenwart
Sie hatte es nicht geschafft, mehr als einen Brief zu lesen, denn nachdem sie begonnen hatte, Onkel Giorgos lauthals zu beschimpfen, war das Bedürfnis nach mehr Alkohol gewachsen, und sie hatte den Champagner geleert und noch ein Glas Rotwein in großen Schlucken getrunken. Dann war sie wie erwartet volltrunken auf dem Sessel eingenickt und spät in der Nacht durch ihr schmerzendes Genick aufgewacht. Ohne sich abzuschminken oder gar Zähne zu putzen, war sie in das große Schlafzimmer mit dem exorbitant teuren Boxspringbett gewankt und hatte sich auf die Tagesdecke fallen lassen. Ihr Hirn war nicht mehr dazu in der Lage gewesen einzuordnen, dass die Putzfrau das Bett frisch bezogen hatte, bevor Katharina angereist war, und sie wollte sich nicht unter eine Decke kuscheln, unter der ihr Onkel mit einer seiner Gespielinnen aktiv gewesen war. Igitt!
Als sie aufwachte, stand die Sonne bereits hoch, ihr Kopf dröhnte, als spielte eine Band auf dunklen Trommeln darin ein Konzert ohne Noten, und sie umklammerte der Übelkeit nahe ein Dekokissen. Die ganze Situation war verwirrend, und sie brauchte einen Augenblick, um zu realisieren, wo sie sich befand und was sie gestern erlebt hatte. Sie schaute auf die Uhr und stellte erschrocken fest, dass es schon elf war. Selbst an den Wochenenden, an denen Lambros die Kinder hatte, war sie nicht in der Lage, so lange zu schlafen, denn es gab immer etwas zu tun, und die Unruhe trieb sie aus dem Bett. Rasch wollte sie sich erheben, denn auch hier hatte sie eine Aufgabe, obwohl sie ja nur Giorgos’ persönliche Sachen ausräumen würde. Die Möbel waren hochwertig, wirkten wie neu und gehörten einfach zum Ambiente des Hauses. Da war kein Homestaging nötig – so nannte man einen neuen Geschäftszweig, bei dem Fachleute wie sie Villen, die zum Verkauf standen, bewusst einrichteten und dekorierten, um höhere Verkaufspreise zu erzielen. Sie hatte hier einen guten Job gemacht, und da war nichts, was zum Nachbessern aufforderte.
In ihrem Kopf tauchten zu den Trommlern nun auch noch Feuerwerkskörper auf, die mit Getöse und jeder Menge explosiven Lichtern vor ihrem inneren Auge zerbarsten. Vorsichtig ließ sie ihn wieder auf das Bett sinken, und ein kellertiefes Stöhnen entrang sich ihrer Kehle. »Du hast es gewusst«, führte sie das Selbstgespräch vom Vortag fort, »und die Schmerztabletten liegen sehr weit weg. Da musst du jetzt durch!«
Sie rappelte sich auf – diesmal in Zeitlupe – und schlurfte ins Bad. Ihre Haare standen zerzaust in alle Richtungen, auf der Wange zeichnete sich das Muster der Tagesdecke deutlich ab und in ihren Augenwinkeln klebte weißlicher Schmodder vermischt mit schwarzen Krümeln der Wimperntusche.
»Buh«, entkam es ihr, und sie versuchte ein schräges Lächeln. Dann zog sie den Blister mit den Schmerzmitteln aus ihrem Necessaire, stopfte sich gleich zwei Tabletten in den Mund und spülte sie mit Wasser aus dem Zahnputzglas herunter. »Unvernünftig«, kommentierte sie ihr Verhalten, bürstete sich das Haar, band es im Nacken zusammen, wusch sich mit reichlich kaltem Wasser das Gesicht, putzte die Zähne, bis der pelzige Geschmack des Alkohols etwas weniger wurde, cremte sich rasch ein und ging in die Küche, um sich einen Kaffee zu machen.
Erst als sie die Tasse mit dem duftenden Gebräu in der Hand hielt, schaute sie sich im Raum um, um eine Bestandsaufnahme zu machen, doch es war gar nicht so schlimm. Lediglich die Chipstüte lag auf dem kleinen Tisch, und das leere Rotweinglas stand auf dem Boden neben dem Sessel, wo sie auch die Kiste mit den Briefen stehen gelassen hatte. Ihr Alles muss immer ordentlich sein-Gen funktionierte selbst im alkoholisierten Zustand noch recht gut. Oder war sie einfach nur ein Kontrollfreak und ihr Ex-Mann hatte recht?
Sie stellte das Glas in die Spülmaschine, warf die leere Tüte in den Müll und wischte mit einem Lappen die Fingerabdrücke von der glatt polierten grauen Oberfläche des Tischchens. Dann trat sie mit der Tasse in der Hand hinaus auf die schwebende Terrasse. Der erste Schritt kostete, wie am Vortag auch, wieder Überwindung, doch der Ausblick machte das alles wett. Sie ging langsam bis zur Brüstung, nippte an ihrem Kaffee und wartete auf die Wirkung der Tabletten. Alkohol und sie waren definitiv keine Freunde.
Sie versuchte, ihre Gedanken zu sortieren, denn sowohl das Telefonat mit ihrer Yaya am gestrigen Tag als auch der erste Brief aus der Feder ihres Vaters hatten sie verwirrt und tief berührt. In ihrem Herz machte sich ein Ziehen breit, das sie nach kurzer Zeit als Sehnsucht definierte – Sehnsucht nach Geborgenheit. Nicht nur nach der in einer partnerschaftlichen Beziehung, sondern auch nach der, die sie als Kind bei ihren Eltern empfunden hatte. Andreas und Olympia waren ein sicherer Ort gewesen. Ihr sicherer Ort. Doch nur als Paar, denn nach dem Tod ihrer Mutter war der Vater nicht mehr fähig gewesen, ihr diese Geborgenheit zu vermitteln. Er war mit Olympia gestorben, und sie hatten es nicht bemerkt, waren gefangen gewesen in ihrer eigenen Trauer und ihren eigenen Geschichten. Ihr Bruder hatte sich zwar regelmäßig über den alten Herrn echauffiert, aber es war ihr eher so erschienen, als trügen die beiden einen Generationskonflikt aus, der mit der Übernahme des Unternehmens zu tun hatte. Doch am Ende war es unverzeihlich, den Vater mit seinem Kummer allein gelassen zu haben.
Tränen lösten sich aus ihren Augen, ohne dass sie es wollte, und flossen einfach über ihr Gesicht, tropften über die Brüstung hinab in die Tiefe der ruhigen Bergwelt. Sie gestattete ihrem Körper diese Gefühle, denn da war so viel, das sich aufgestaut hatte und irgendwo unter ihrer Haut lauerte. Vielleicht war sie auch genau deshalb hier, um alles rauszulassen und zu verarbeiten – nicht nur um das Haus, sondern auch um ihre Seele aufzuräumen. Niemand sah sie, und während sie dies dachte, beschloss sie, sich nicht weiter zu kontrollieren, sondern zuzulassen, was nötig erschien. Vor ihren Jungs versuchte sie immer, das Gesicht zu wahren, denn die beiden brauchten Stabilität. Schließlich hatten auch sie geliebte Menschen verloren, und die Reaktionen der Öffentlichkeit hatten Narben in ihre kleinen Seelen gefräst. Daher hatte Katharina es sich verboten, schreiend auf dem Boden zusammenzubrechen und mit ihren Fäusten auf diesen einzuschlagen. Sie hatte innerlich gebrüllt und gewütet, aber auch das war auf Dauer nicht gut, dessen war sie sich vollkommen bewusst. Manchmal bewunderte sie die Menschen, die vor Wut Dinge an die Wand warfen oder gar den Fernseher aus dem Fenster schleuderten. Das war nichts, was sie gern tun würde und auch nicht gutheißen konnte, aber höchstwahrscheinlich baute das jede Menge der inneren Ladung ab, die sich durch Verluste oder auch Demütigungen in einem aufstaute.
Sie schaute nicht auf die Uhr und wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als die stummen Tränen endlich versiegten. Kurz kam es ihr so vor, als wäre sie nun leer geweint, doch es war ihr vollkommen klar, dass sie den Kummer der letzten Jahre nicht in wenigen Minuten loswerden konnte. Hatte sie sich wirklich so sehr in die eigene Tasche gelogen, dass sie sich eingebildet hatte, Lambros sei ihre verdammte zweite Hälfte und sie könne nur mit ihm an ihrer Seite ganz sein?
Zwei der zehn Tage waren nun schon fast um, und sie hatte im Haus noch nichts geschafft, denn gewiss konnte man es nicht als Ausräumen bezeichnen, wenn sie zwei Flaschen Alkohol trank. Vielleicht sollten sie auch den Weinkeller einfach gefüllt mit zum Verkauf anbieten – also wirklich alles, was zur Einrichtung gehörte. Niemand von ihnen brauchte Teller, egal, wie schön und teuer diese waren – oder irgendwelche Küchengeräte. Es ging ihnen allen gut, und sie hatten bereits mehr als genug. Ihre Cousins lebten als Jetsetter im Überfluss, und auch Elonidas und ihr mangelte es an nichts: wunderschöne Möbel, teure Markengeräte und abgestimmte Accessoires schmückten ihre Häuser. Panagiotis und Athanasios hatten ihr freie Hand gegeben – zumindest interpretierte sie so die Aussage »Mach, was du willst mit dem Zeug, und schaff uns den Palast vom Hals!«. Es war wahrscheinlich wie so oft ihr eigener Anspruch, alles hundertprozentig und richtig zu machen, der sie unter Druck setzte, alles auszuräumen und ein leeres Haus zu hinterlassen, das keine Spuren seines Besitzers mehr aufwies. So, als würden damit die Taten ihres Onkels ebenfalls verschwinden. Sie war jedoch keine Tatortreinigerin und bestimmt hatte er hier auch niemanden umgebracht. Zumindest hoffte sie das.
»Jetzt reicht es aber«, tadelte sie sich selbst. Er hatte etwas wirklich Schlimmes getan, aber er war ja nicht über die Insel gefahren und hatte sich Opfer gesucht, sondern einen Mann geschlagen, der ihm und der Familie schaden wollte. Nicht dass sie das zu entschuldigen versuchte, aber egal, welche Probleme sie mit Giorgos gehabt hatte, sein Blut floss auch in ihren Adern, und er war ein anstrengender Mensch gewesen, aber kein richtiger Mörder. Oder vielleicht doch? Mord verlangte nach Vorsatz. Er hatte den Mann in die Samaria-Schlucht bestellt. Das bedeutete, dass man einen langen Abstieg oder Aufstieg hinter sich hatte – je nachdem, von wo man gekommen war. Hatte er vielleicht doch von Anfang an vorgehabt, ihn dort loszuwerden? Im Herbst war die Schlucht gesperrt für Besucher. Nur die Ranger schauten hie und da nach dem Rechten. Man konnte also davon ausgehen, dass man unbeobachtet blieb. Die Medien hatten den erfolgreichen Hotelier von Beginn an auf dem Kieker gehabt und des Mordes bezichtigt. Ihre Familie hatte sich eines hochkarätigen Anwalts bedienen müssen, um dem einen Riegel vorzuschieben. Giorgos hatte bei dem Kommissar, der damals in dem Fall ermittelt hatte, Totschlag zugegeben – mehr nicht. Und besagter Polizist, Hyeronimos Galavakis, hatte nicht weiter nachgeforscht. Also war wohl auch die Polizei mit dem Geständnis und dem überführten Komplizen, der die Drecksarbeit für ihren Onkel übernommen hatte, zufrieden gewesen und hatte die Akte geschlossen. Sie hatte das alles als schrecklich empfunden und sich mehr als einmal gewünscht, von der Insel fliehen zu können, um keinen Spießrutenlauf mehr absolvieren zu müssen. Der Name Dalaras war befleckt, und sie würden ihn nicht mehr reinwaschen können, ganz egal, wie sehr sie sich auch anstrengten.
Es dauerte lange, bis Menschen etwas vergaßen, und auf Kreta noch länger: Der Name des Komplizen, der den Leichnam hatte verschwinden lassen, war schon seit vielen Jahrzehnten beschmutzt gewesen und wurde nun im gleichen Atemzug mit Dalaras genannt. Nikos Brokalakis war der Sohn eines verurteilten Kriegsverräters und Mörders, und die Familie des Mannes stammte aus demselben Dorf wie ihre Großeltern. Sie hatte ihren Großvater Elonidas niemals kennengelernt, denn er war 1979 in Deutschland an Krebs gestorben und sie erst 1980 geboren, doch sie wusste, dass er ein Held und bereit gewesen war, sein Leben für die Menschen seiner Gemeinschaft zu opfern. Dass sein Name nun mit dem eines verurteilten Mörders untrennbar verknüpft war … Gewiss würde er sich im Grabe umdrehen.
Und ihre Yaya? Wie sehr musste es Hera schmerzen, all dies mitzuerleben – nicht nur den Verlust ihrer Söhne, sondern auch ihren guten Namen durch den Dreck gezogen zu sehen.
Natürlich hatte Katharina diese Gedanken bereits das ein oder andere Mal zugelassen, jedoch nie in dieser emotionalen Tiefe. Sie war einfach nicht dazu in der Lage gewesen, das komplette Ausmaß der Tragödie zu betrachten und zu akzeptieren. Giorgos hatte vielleicht vorgehabt, den Namen Dalaras zu schützen und vor allem natürlich seinen Reichtum, aber zu welchem Preis? Ob er das je mitbedacht hatte? Und wie hatte er mit der Schuld leben können, dass ein Mensch durch seine Hand gestorben war und eine andere diesen Toten dann zerstückelt hatte? Vielleicht hatte er davon aber auch bis zum Fund des Torsos wirklich nichts gewusst und nur gedacht, dass sein Handlanger die Leiche im Meer versenken oder irgendwo vergraben würde. Er hatte Nikos Brokalakis zu Hilfe gerufen, und dieser hatte wohl – in einer Art Blutrausch – den Leichnam zerteilt. Ein Unwetter hatte dann viele Jahre später den Torso aus einer der vielen Felsspalten in der Samaria-Schlucht gespült und so die Ermittlungen ins Rollen gebracht. Auch Brokalakis war tot – hatte sich das Leben genommen und seine Frau ebenfalls mit in den Tod gerissen. Kurz vorher hatte er noch gestanden, seinen grausamen Vater vor vielen Jahren getötet und ebenfalls zerstückelt zu haben. Hatten Giorgos und Brokalakis das doch alles gemeinsam geplant, und das Geständnis ihres Onkels auf dem Totenbett war nur Augenwischerei gewesen? Niemand würde je die vollkommene Wahrheit erfahren.
Ein langer, kalter Schauer lief ihr über den Rücken, und sie schüttelte sich wie ein nasser Hund, um das Gefühl loszuwerden. Dabei bemerkte sie, dass die Kopfschmerzen nachgelassen hatten und auch der leichte Schwindel verblasst war. Sie ging zurück ins Haus, um sich einen zweiten Kaffee zuzubereiten und etwas zu essen. Ihr Magen knurrte auffordernd und verlangte nach etwas Fettigem. Fettig und salzig – vielleicht Rührei mit Speck oder Spiegelei mit Olivenöl und etwas Zitrone, dazu gebutterten Toast. Das Wasser lief ihr bei dem Gedanken im Mund zusammen, und sie öffnete einige Schränke, fand alles, was sie brauchte, und kurze Zeit später zog der Duft frisch gebackener Eier durch die offene Küche. Der Toaster spuckte zwei perfekt gebräunte Scheiben Brot aus, und die Butter tränkte sie schmelzend. Sie streute etwas Salz darüber und biss hungrig hinein. Konnte es sein, dass die Bergluft ihren Geschmackssinn beeinflusste? Sie glaubte plötzlich, nie zuvor etwas so Gutes gegessen zu haben, und das kross gebackene Spiegelei bekam durch Öl und Zitrone ebenfalls eine köstliche Note. In der Kombination schien ihr die einfache Speise wie eine Offenbarung, und sie stippte die letzten Tröpfchen Eigelb sogar noch mit dem Finger vom Teller.
Sie fühlte sich gestärkt und ging zurück ins Schlafzimmer, um Giorgos’ Sachen aus dem Kleiderschrank zu räumen. Sie würde sie spenden, denn ihr Onkel hatte nur Designerkleidung getragen, und es gab gewiss Menschen, die sich darüber auch aus zweiter Hand freuten. Die Schränke zu leeren war eine gute Aufgabe, denn darin war nichts, was für sie mit einer Erinnerung verknüpft war – anders als es mit den Habseligkeiten ihrer Mutter gewesen war. Ihr Vater hatte sich lange geweigert, etwas zu ändern, als könnte Olympia jederzeit zurückkommen und ärgerlich darüber sein, dass all ihre Sachen fortgebracht worden waren. Als er dann das Haus nicht mehr hatte bewohnen wollen, hatten Elonidas und sie ihm geholfen. Die Männer hatten es abgelehnt, Olympias Kleider und Wäsche zu begutachten, also hatte Katharina die Schränke geöffnet. Noch heute konnte sie sich daran erinnern, wie sehr sie sich erschrocken hatte, als der Duft ihrer Mutter hinter den Türen buchstäblich in sie gedrungen war. Mit jedem zweiten Kleidungsstück hatte sie eine Erinnerung verbunden, und es war eine Qual gewesen, sie vom Bügel zu ziehen und aus den Regalen und Schubladen zu holen.
Dagegen war das hier ein leichter Job, denn Giorgos’ Klamotten waren ihr egal. Sie schaute sich alles an und überschlug kurz die Menge: »Da brauche ich bestimmt sechs oder sieben Kartons. Warum hatte der Mann mitten im Nirgendwo so viele Anzüge im Schrank …« Sie schüttelte ungläubig den Kopf. Nun ja, so war es eben. Sie holte die Umzugskartons, die die Putzfrau schon bereitgestellt hatte, und begann, sie zu bestücken. Karton um Karton füllte sich, und sie horchte immer wieder in sich hinein – doch da war nichts: kein Bedauern, kein schlechtes Gewissen. Aus ihrer Sicht verpackte sie gerade für einen höheren fünfstelligen Betrag Besitztümer, aber es war nur ein Job, und das war gut so. Sie hatte wahrlich schon genug geheult, seitdem sie hier war.
Als ihr Handy fordernd zu läuten begann, stellte sie fest, dass sie vollkommen die Zeit vergessen hatte und es schon Nachmittag war. »Oh Gott, Yara«, schalt sie sich selbst, denn auch die Großmutter und das geplante Telefonat waren ihr entfallen. Auf dem Display sah sie den Namen der alten Dame, nahm das Gespräch an und sagte: »Yara, ich rufe dich sofort zurück. Ich … also …« Ihr fiel ein, dass es die Sachen eines Sohnes ihrer Oma waren, die sie hier so mir nichts, dir nichts in Kartons warf, und das Wort »wegschaffen« erschien ihr plötzlich gefühllos. »Ich trage noch etwas nach unten«, korrigierte sie sich daher schnell, »und mache mir rasch einen Kaffee und ein Marmeladenbrot.«
»In Ordnung, mein Kind. Ich werde nicht weglaufen«, versprach die Großmutter.
Katharina verschloss die prall gefüllten Kartons mit Klebeband und schleppte sie vorsichtig die Treppe hinunter, um sie neben der Tür zu stapeln. Sie würde sie nicht selbst zu den Spendestellen bringen, das übernahm die Putzfrau für sie, denn Katharina war zu besorgt darüber, wie die Leute auf die Sachen von Onkel Giorgos reagieren würden, wenn eine Dalara sie brachte.
Außer Atem kam sie nach getaner Arbeit in der Küche an, kippte ein Riesenglas Wasser durstig hinunter, während der Kaffee zischend und duftend in die Tasse lief. »Schon wieder Brot. Ich werde aufgehen wie ein Hefeteig«, schimpfte sie sich, als sie eine Scheibe dick mit Butter beschmierte und Orangenmarmelade darauf verteilte. Sie hatte sich ja schon irgendwie körperlich betätigt, und daher war es in Ordnung, Kohlenhydrate zu essen. Doch in ihrem Hinterkopf nagten die Bilder von Lambros’ gazellenbeinigen Freundinnen an ihrem Selbstbewusstsein und auch ihr Onkel hatte sich nur mit hyperschlanken Frauen umgeben. Hatten die jungen Leute alle wirklich einen so irren Grundumsatz oder aßen sie einfach so gut wie nichts?
Olympia war eine Frau mit einem weiblichen Körper gewesen: eine normale Konfektionsgröße, Busen, Po, rundliche Hüften, wohlgeformte Beine und ein Gesicht wie eine Göttin mit hohen Wangenknochen und aristokratischen Zügen. Andreas war in seinen jungen Jahren ebenfalls ein gut aussehender Mann gewesen und durch die viele Arbeit in den Hotelanlagen muskulös und drahtig geblieben. Bei ihr war das etwas anderes. Nach den Geburten hatte sich ihr Körper verändert, und die kleinen Pölsterchen an den Hüften, dem Bauch und den Oberschenkeln gingen nicht mehr weg – egal, wie viel Sport sie machte. Und sie genoss einfach zu gern, um sich ständig nur zu kasteien. Lambros hatte oft abschätzig gesagt, sie habe ihren Sex-Appeal verloren, und Spaß und Genuss mit ihr zu erleben wäre, wie mit einem Esel Schach zu spielen.
So viele Demütigungen. Es war ihr nie so recht bewusst gewesen, solange sie als Ehepaar gelebt hatten, doch immer, wenn ihr nun Erlebnisse mit ihm durch den Kopf schossen, bemerkte sie, dass ihr Selbstbewusstsein kaum noch vorhanden war.
Sie packte ihre Speisen auf ein Tablett, legte noch einen Apfel und ein paar Trauben dazu und balancierte alles auf die Terrasse. Es duftete nach Sonne und Kräutern und war angenehm warm, obwohl ein leichter Wind ging. Sie machte es sich gemütlich, steckte sich die Kopfhörer in die Ohren, um beim Telefonieren die Hände frei zu haben, und rief ihre Yaya zurück.