Litsa, 1845
Sie saß auf ihrem Bett und hörte die Stimmen der Kinder. Die drei spielten draußen und kreischten aufgeregt. Sie legte die Hand auf den Bauch und fürchtete, dass ihr Wunsch nicht Wirklichkeit geworden war, obwohl sie am Meer die Dinge so gemacht hatte, wie es ihr im Traum erschienen war.
Theodoris hatte mit dem Fischer alles geklärt, auch wenn der Mann mehrfach geknurrt hatte, dass das Meer da draußen nichts für eine Frau sei. Litsa hatte ihn angelächelt, obwohl sie ihm am liebsten gegen das Schienbein getreten hätte. Warum sagte er so etwas? Hatte Gott etwa verboten, dass Frauen auf das Meer hinausfuhren – nein, das hatte er ihres Wissens nach nicht getan. Sie wollte ein Ritual vollziehen, Steine, die sie mit ihren Wünschen beschriftet hatte, an den mächtigen Ozean geben, damit dieser sie mit seiner Kraft erfüllte. Sie wollte nicht über Bord springen und den Grund berühren oder andere verrückte Dinge tun. Es sollte doch auch für eine Frau möglich sein, ein paar Steine versinken zu lassen.
Sie musste sich nicht einsetzen und für sich kämpfen, denn ihr Mann legte den Arm beschützend um sie und nickte dem Fischer so bestätigend zu, dass dieser aufhörte zu knurren und sogar die Lippen zu einem Lächeln verzog. Er hatte beachtlich viele helle Zähne in seinem Mund. Die Ernährung mit Meerestieren schien gut für die Gesundheit zu sein.
So hatte sich ihr Wunsch erfüllt. Sie hatte einen Stein nach dem anderen hinab in die klare Tiefe des blau schimmernden Meeres sinken lassen und dabei »Es werde wahr, weil es wahr und gut ist!« geflüstert. Das war das Mantra, mit dem sie sich selbst verdeutlicht hatte, dass ihre Wünsche nicht böse waren oder gar etwas Schlechtes beinhalteten. Sie hatte drei gesunde Kinder geboren. Das musste ausreichen. Es war alles tatsächlich wie in ihrem Traum gewesen: Der Wind fuhr ihr durch das Haar, flatterte durch ihre Kleidung, und das Salz auf ihrer Haut schmeckte jedes Mal aufs Neue köstlich, wenn sie sich mit der Zunge über die Lippen fuhr.
Ihr Mann hatte anfangs noch bei ihr gestanden und darauf geachtet, dass das Seil um ihre Hüfte fest genug saß, falls sie über Bord gehen sollten, wenn sie nah an die Reling heranging, um ihr Ritual zu vollziehen. Dann hatte er sich zu dem Fischer gestellt und sich von ihm erzählen lassen, wie dessen Leben am und auf dem Wasser jeden Tag aussah. Die Menschen an den Küsten hatten mehr mit den osmanischen Teufeln zu kämpfen als sie in ihrem kleinen Dorf, in dem es nichts zu holen und keinen Widerstand gab. Sie forderten Teile der Fänge ein, und so konnte es sein, dass der Mann zwar mit vollen Netzen an Land kam, seiner Familie aber nur wenige Tiere blieben. Doch es gab wohl auch bessere Tage, an denen die Besatzer woanders ihr Unwesen trieben und er die reiche Beute nach Hause brachte. Sie konnte hören, dass er sich nicht beklagte, sondern sein Schicksal angenommen hatte. Das brachte die Zeit wohl mit sich, und sie hatte es im Dorf oft gehört: Jede Familie konnte Geschichten von früher erzählen, als andere kriegstreibende Nationen Kreta eingenommen hatten. Freiheit kannten die Menschen nicht mehr, also musste man sich arrangieren und mit dem Jammern und Aufbegehren aufhören. Konnte man das denn als Tochter eines Widerstandskämpfers und einer Mutter, die in einer Höhle erstickt oder gar verbrannt war, während sie ihr Baby in den Händen hielt?
Sie hatte keinen Streit heraufbeschwören wollen und sich auf ihre Aufgabe konzentriert, alles andere ausgeblendet und ihr Mantra immer wieder leise vor sich hin geflüstert, bis es gemeinsam mit dem Rauschen des Meeres, den leise keckernden Möwen und dem Wind zu einer Art Melodie geworden war, die sich in ihr Gehirn einbrannte.
Sie waren zufrieden zurückgekehrt und hatten eine wundervolle Nacht am Strand verbracht. Lange saßen sie einfach nur Arm in Arm da, lauschten den Wellen und betrachteten die Sterne am Firmament, während der Mond das Meer träumerisch glitzern ließ. Dann begann Theodoris, sie zu streicheln, so sanft und zart, dass es sich anfühlte wie Schmetterlingsflügel, die über ihre Haut glitten und sie empfindsam machten. Sein Atem streifte ihre Wange, und seine Lippen liebkosten plötzlich die ihren. Sie öffnete zufrieden den Mund, gewährte seiner Zunge Einlass und streichelte sie spielerisch mit ihrer. Alles war so intensiv, als küssten sie einander zum ersten Mal. Wohlig stöhnend ergriff sie mutig die Initiative und drückte ihn hinab auf den weichen Untergrund. Er schmeckte nach Sonne und Salz, seine Haut roch männlich, und sie legte sich auf ihn, nachdem sie ihre Röcke abgestreift und die Bänder ihres Mieders gelockert hatte. Wie so oft war sie es, die fordernd ihre Bewegungen schneller werden ließ, da Verlangen ihre Sinne benebelte. Seine Hände glitten wieder federgleich ihren Rücken hinauf, und die Berührungen machten sie vollkommen kribbelig. Sie liebte es, wenn er sie mit seinem dunklen wilden Blick fixierte – als wäre sie das begehrenswerteste Wesen auf der ganzen Welt und als gäbe es nur sie beide in ihrem ganz eigenen Paradies. Hitze überrollte sie, und sie spürte, wie ihre Haut zu brennen begann, wo seine Hände und Zunge sie berührten. Zärtlich und doch fordernd glitt er mit immer gieriger werdenden Küssen an ihr hinab, umkreiste ihren Bauchnabel, bis sie sich nicht mehr bremsen konnte und in seine Haare griff, um ihn tiefer zu schieben. Es schien ihn ebenfalls zu erregen, sie so zu ihrem Höhepunkt zu bringen, denn er rieb sich an ihr, und sie spürte, wie er sich ergoss und ihr Oberschenkel klebrig feucht wurde. Zuckend stöhnte auch er und legte sich dann so zu ihr, dass sie einander küssen konnten.
Es war wunderschön gewesen, und davon war sie gewiss nicht schwanger geworden, dessen war sie sich ganz sicher, denn sie wusste, dass er seinen Samen in sie pflanzen musste, damit daraus ein Kind erwachsen konnte. Sollte das Meer ihren Wunsch so schnell erhört haben? Sie war zufrieden, die Schwere des Höhepunkts machte sie schläfrig. Sie nickte leicht weg, während Theodoris ihr ins Ohr flüsterte, wie sehr er sie liebte und begehrte und – sie erschrak – dass er sich noch weitere Kinder mit ihr wünschte. Nein, so schnell war es wohl doch nicht gegangen, zudem würde es ihr schwerfallen, ihn nicht wirklich in sich spüren zu können. Das war ihr vollkommen bewusst. Sie musste einfach vertrauen.
Der Heimweg war beschwerlicher als der Hinweg, denn sie mussten viel bergauf gehen. Zweimal glaubten sie, sonderbare Laute zu hören, und versteckten sich hastig im Gebüsch, aus Angst, den Osmanen aus Versehen doch noch in die Hände zu fallen und ihre Familie nie wiederzusehen. Doch es war nichts gewesen, und sie kamen zwar müde und staubig, aber wohlbehalten zu Hause an. In ihren Beuteln hatten sie einige getrocknete Fische, die der Mann ihnen am Vorabend geschenkt hatte, obwohl sie ihm Wolle zum Tauschen angeboten hatten. Doch er hatte nur abgewinkt und grummelnd gemurmelt: »Füttert die hungrigen kleinen Mäuler eurer Kinder damit.«
Die drei Kinder taten sich schwer mit dem salzigen Geschmack, denn sie benutzten das Gewürz sonst nicht oft, und so waren ihre Gaumen es nicht gewohnt. Doch als Aelia sich todesmutig ein Stück in den Mund gestopft hatte, hatten es ihr die Brüder gleichgetan.
Der Ausflug war mittlerweile Monate her, und die Erinnerung begann zu verblassen, auch wenn sich das Ritual in Litsa eingebrannt hatte. Sie hatte zu glauben begonnen, dass es wirklich wirkte, denn Theodoris und sie schliefen oft miteinander, und bisher war keine neue Frucht in ihrem Leib entstanden. War er fort, vermisste sie ihn. Das war etwas, was sie oft irritierte, denn sie hörte aus den Gesprächen mit den anderen Frauen im Dorf heraus, dass diese froh waren, wenn ihre Männer auf die Jagd gingen. Denn dann hatten sie Ruhe und mussten nicht die Beine für sie breitmachen. Sie hielt sich bei diesen Schwätzereien immer zurück, denn sie empfand ganz anders. Mit Theodoris an ihrer Seite fühlte sie sich ganz, und ohne ihn fehlte eben etwas. Sicher lag es an ihrer Geschichte und deshalb verurteilten die Frauen sie auch nicht, sondern kicherten nur anzüglich, wenn sie bei diesen Themen rote Wangen bekam.
Sie spürte heute eine sonderbare Unruhe in sich und haderte mit dem Gedanken, dass sie eventuell noch ein Kind austragen musste. Sie hatte es sich doch anders gewünscht. Drei Kinder in diesen Zeiten war anstrengend genug, denn sie mussten gefüttert und gekleidet werden, eine Mitgift für die Zukunft haben und geschützt vor den räuberischen Besatzern sicher aufwachsen. Einerseits war sie wütend auf sich selbst, da sie oft genug die treibende Kraft für den kindermachenden Beischlaf war, und andererseits war sie enttäuscht, dass das Ritual doch nicht zu funktionieren schien. Hatte sie die Worte falsch gewählt? Oder waren ihre Träume einfach insgesamt nur Blödsinn gewesen, und sie war einer Illusion nachgelaufen? Sie legte die Hand auf ihren Bauch, als könnte sie dadurch etwas ändern. Noch war es an sich zu früh, um etwas verlässlich zu spüren, doch dieses eigenartige kribbelige Gefühl, das von ihr Besitz ergriffen hatte, machte sie trübsinnig und sorgenvoll zugleich.
Die Kinder verstummten plötzlich, und die Stille, die so entstand, war gespenstisch. Litsa sprang auf, strauchelte kurz, fing sich aber wieder und rannte nach draußen. Es musste etwas geschehen sein, oder die drei heckten etwas aus – ganz gleich, was es war, sie musste ihnen ihre mütterliche Autorität zeigen. Dann sah sie die Menschentraube auf der Straße, die einer Prozession gleich mit schweren Schritten auf sie zukam. Alle schwiegen, und sie konnte – als die Menschen näher kamen – den Schmerz auf ihren Gesichtern sehen. Sie trugen eine hölzerne Trage, auf der etwas lag – ein Körper unter Decken verborgen. Angst griff kalt nach ihr, und ihr Herzschlag begann zu stolpern. Was sollte das? Was bedeutete das? Warum schauten alle sie so an, und warum schwiegen selbst ihre sonst so lauten und quirligen Kinder? Sie suchte sie mit ihrem Blick und stellte fest, dass ihre Schwiegereltern die drei in den Armen hatten. In den Gesichtern der beiden Alten sah sie, was sie zu fühlen begann.
Dann löste sich ein Schrei aus ihrer Kehle, vor dem sie selbst und alle Anwesenden erschraken. Sie drehte sich um und begann zu rennen, suchte nach dem Kaninchen – denn es kannte den Weg in die Sicherheit, und es war flauschig. Sie musste es finden, denn es war ihre einzige Rettung und ihr einziger Trost. Während sie rannte, hörte sie das Schluchzen ihrer Kinder und ihre eigenen Gedanken: Was hast du getan? Was hast du dir gewünscht? Du wirst nun gewiss nie wieder in deinem Leben von Theodoris schwanger werden … nie wieder! Was hast du nur getan?