Carsten, Gegenwart
Er war weit hinausgeschwommen – bis zu der Boje, die als Begrenzung zu dienen schien, um nicht von umherfahrenden Booten erwischt zu werden. Das Wasser war so klar, dass er überall auf den Boden schauen konnte, und er beschloss, sich demnächst eine einfache Taucherausrüstung zu leihen, um die sanfte Tiefe zu erforschen. Wie konnte ein Meer nur so gut schmecken? Er hatte seine Zunge vorsichtig hineingestreckt, um es zu probieren, und der köstliche Salzgehalt hatte ihm gefallen.
Die Bucht war überschaubar, und die Häuser schmiegten sich an den Hügel, der sie umgab: Manche waren villenartig und prunkten mit Säulen und ausladenden Balkonen, andere waren Rohbauten, die aber nicht so wirkten, als arbeitete man daran, denn Grünzeug rankte am Mauerwerk hoch und die Armierungseisen reckten sich rostig an den Steinen hinauf. Mehrere solcher Häuser waren ihm schon aufgefallen, und er beschloss, Fotini nach den Hintergründen zu fragen. Einmal Journalist, immer Journalist: Er konnte nicht aufhören, Dinge ergründen zu wollen.
Er hatte sich auf den Rücken gedreht, sich ein wenig treiben lassen – einfach so – und sich zu erinnern versucht, wann er das zum letzten Mal ganz bewusst getan hatte. Natürlich gab es in den Ländern, die er aufsuchte, auch Regionen, in denen der Krieg weit fort war, und man konnte dort ein Bad im Ozean, in einem See oder einem Fluss nehmen. Doch so richtig zur Ruhe war er dort nie gekommen, denn das Adrenalin hatte während eines Jobs immerzu in seinen Adern gepulst. Die Energie des Meeres hier in der Bucht von Lygaria schien ihm etwas Besonderes zu sein, und sie drang durch die Poren seiner Haut in ihn. Was war das nur mit dieser Insel, dass er sich bereits nach wenigen Stunden gut zu fühlen begann, obwohl er diese furchtbare Last im Gepäck hatte? Bis vor Kurzem hatte er sich zwar für einen Abenteuerjunkie gehalten, der nicht mehr merkte, wann die Gefahr, die die eigene Psyche zu fressen begann, zu viel wurde – aber doch für einen ganz normalen Deutschen. Dann hatte sich von einem Tag auf den anderen alles für ihn geändert, und er war ganz kurz davor gewesen, vor dieser Reise zu fliehen – selbstverständlich in ein hochbrisantes Gebiet. Doch sein Körper war zu kaputt gewesen, um dem Trieb zu folgen, und er hatte kapituliert, dann aber auch die Möglichkeit gesehen, Klarheit zu erlangen über sich, wer er wirklich war und was er wirklich wollte. Es war alles vollkommen verrückt. Sein Leben war verrückt.
An jenen Tagen, als er vor sich hatte fortlaufen wollen, hatte er so viele Augenblicke seines Lebens aus einem anderen Blickwinkel betrachtet und war schonungslos mit sich ins Gericht gegangen. Vielleicht auch zu schonungslos – denn er war kein böser Mensch. Oder lauerte das Böse doch in jedem, und manche hatten es eben nur besser im Griff als andere? Er hatte jede Facette des Grauens gesehen, hatte erlebt, zu was Menschen fähig waren und was kriegerische Auseinandersetzungen bewirkten: Wann Leute, die bis dahin vollkommen normal erschienen waren, austickten und Gräueltaten begingen, die man kaum in Worte fassen konnte. Doch es gab auch jene, die in die Fänge der Bösen gerieten, überlebten und verziehen. Jene, die nicht nach dem Auge um Auge, Zahn um Zahn-Prinzip lebten. Waren sie die rühmlichen Ausnahmen, die zu jeder Regel gehörten, oder entschied man sich immer wieder ganz bewusst, welchen Wolf man fütterte – den weißen oder den schwarzen?
Die Geschichte der amerikanischen Ureinwohner hatte ihn immer beschäftigt, wenn er auf Reisen war und seine Berichte verfasste, die tief in die menschlichen Abgründe blicken ließen. Diese Menschen glaubten, dass jeder Mensch zwei Wölfe in sich beherbergte und immer wieder aufs Neue entschied, welcher Wolf gefüttert wurde: der weiße, der für all die guten Taten im Leben verantwortlich war, der Liebe und Harmonie förderte und Beziehung und Gemeinschaft über alles stellte, oder der schwarze, der sich am Bösen nährte, bereit war zu brandschatzen, zu töten und zu verraten in dem festen Glauben, davon stärker zu werden und eines Tages alles beherrschen zu können. Jede einzelne Tat an jedem Tag war eine Fütterung, jede Entscheidung ließ entweder die dunkle oder die helle Macht wachsen.
Carsten glaubte nicht daran, dass beide gleichberechtigt nebeneinanderher leben konnten – einer musste immer stärker sein. Und man musste auch selbst den Entschluss fassen, wer man sein wollte. Als er seine Wahl für den Journalismus getroffen hatte, war er sicher gewesen, seine Motivation resultiere aus seinem Bedürfnis, die Welt verändern zu wollen. Doch viele Jahre später war ihm bewusst geworden, dass er die Reportagen und Geschichten nur noch schrieb, weil es eben seine Arbeit war. Seine ursprüngliche Motivation war verloren gegangen in der rauen Wirklichkeit, denn obwohl er immer wieder den Finger in die Wunde legte, änderte sich nichts: Kein Krieg hörte auf, weil er darüber schrieb, und in Indien änderte sich auch nichts am Unrecht gegen die Frauen, weil seine Berichterstattung die Titelseiten schmückte und er Preise einheimste. Das war vielleicht sogar das Verlogenste an allem, dass er sich dafür auszeichnen ließ, über das Elend zu schreiben.
Alles hatte sich in ihm aufgestapelt und war zu einem Berg an Anforderungen an ihn selbst geworden, angefüllt mit jeder Menge Selbstanfeindung. Kein Wunder also, dass er über all dem krank geworden war, denn als er es nicht mehr ausgehalten hatte, stiller Zeuge täglichen Unrechts zu sein, war ihm beinahe alles entglitten. Er war kurz davor gewesen, sich und all seine Werte zu verlieren, obwohl seine ursächliche Motivation genau aus jenem Wertefundament heraus entstanden war. Er hatte unendliche Verachtung in sich gespürt, einen rot berstenden Schleier der Wut vor den Augen gehabt, und Ekel hatte ihm die Kehle zugeschnürt. Heute wusste er, dass dieser Emotionsmix die Grundlage von Feindseligkeit war, und wenn diese Gefühle erst einmal Besitz von einem Menschen ergriffen hatten, war man vielleicht sogar bereit, jede selbst gesetzte Grenze zu überschreiten.
Er hatte es geschafft, seine Werte nicht zu verraten, doch dabei sich selbst verloren. Seitdem war die Angst sein täglicher Begleiter, denn er fürchtete, sich nicht mehr wiederfinden zu können. Auch deshalb hatte er den Auftrag angenommen, der aus dem Blickwinkel eines ausgezeichneten Journalisten beinahe lächerlich erschien. Plötzlich sollte sein Fokus auf »Heiteitei« und »Trallala« liegen und »romantische Seelen« ansprechen – das war die Wortwahl des Verlegers gewesen, und Carsten hatte tatsächlich so etwas wie Zahnschmerzen gespürt bei der Süße, die in diesen Worten lag. Doch sein Bedürfnis, sich wieder zu spüren und wieder Kontakt zu dem Menschen, der er einst gewesen war, herzustellen, hatte alles andere überlagert.
Nachdem er das Bad mit allen Sinnen genossen hatte, sein Körper sich verrückterweise sogar weich und entspannt angefühlt hatte, während er auf der leichten Strömung sanft dahingetrieben war, war er im Anschluss auf eine Liege in der Sonne gesunken. Sieben Euro hatte er für das gut gepolsterte Ruhemöbel mit Schirm bezahlt. Er ließ sich gemächlich trocknen, während die Wärme ihn einlullte und ihm ein irritierendes Gefühl von Geborgenheit vermittelte. Das Stimmengemurmel der Leute um ihn herum vermischte sich mit dem Rauschen des Meeres und vereinzeltem Kinderlachen. Es war, als wäre dies der Soundtrack, den seine Seele brauchte, um einen Gang runterzuschalten und Entspannung zuzulassen, die sich auch spürbar auf seine Muskeln übertrug. Sein Masseur und Physiotherapeut in Deutschland hatte ihn mehr als einmal darauf hingewiesen, wie sehr er unter einer körperlichen Grundanspannung stehe. »Achte mal im Alltag darauf, wo sich deine Schultern befinden«, hatte ihm der Mann regelmäßig zu bedenken gegeben, und wenn er sich an die Worte erinnerte und seine Haltung geprüft hatte, war ihm jedes Mal aufgefallen, dass die Schultern immer etwas nach oben gezogen waren. Er hatte sie dann bewusst fallen lassen. Kein Wunder also, dass ihn der Rücken mit verhärteten Stellen plagte und sein Nacken oft derart schmerzte, dass er es bis in die Schläfen hinein spürte.
Den Übergang vom dämmrigen Entspannungszustand zum Schlaf hatte er schon nicht mehr bemerkt, und er wurde erst wieder wach, als er plötzlich eine Hand auf seiner Schulter spürte, die ihn sanft schüttelte. Erschrocken riss er die Augen auf, für einen Moment nicht wissend, wo er war und warum ihn jemand anfasste. Sein auf Gefahr getrimmter Organismus ließ ihn regelrecht hochfahren, und er spürte den schnellen Energieschub in sich, der ihn abwehrbereit machte.
Dann wurde er jedoch gewahr, dass er das Gesicht kannte und Tomas vor ihm stand. Nun erreichte auch dessen Stimme seinen Verstand: »Carsten, du verbrennst dich total. Mutter hat mich geschickt, sie hat gesehen, dass du hier in der prallen Sonne liegst. Ich soll dir ausrichten, dass es nicht gut für den Kopf ist, wenn er so heiß wird, und dir das hier bringen.« Erst jetzt sah Carsten das Tablett in der Hand des Mannes, auf dem ein leicht beschlagenes Glas mit einer dunklen Flüssigkeit stand. Fragend schaute er Tomas an, und dieser beeilte sich zu erklären: »Das ist ein Frappé, ein kalter Kaffee, den wir hier alle sehr gern trinken. Er tut gut und ist köstlich.« Mit diesen Worten drückte er ihm das Glas in die Hand. Tomas zuckte kurz mit den Schultern, und Carsten wurde bewusst, dass Fotini wohl beschlossen hatte, ihn unter ihre Fittiche zu nehmen. Verwundert stellte er fest, dass es ihm nicht unangenehm war, sondern dass er es gern annahm – nicht nur das Getränk, das wirklich gut schmeckte, sondern auch die Fürsorge.
»Das ist wirklich klasse von euch.« Er bemerkte, wie verschlafen er noch klang, stand kurz auf, nahm noch einen kräftigen Zug durch den Strohhalm, bildete sich ein, das Koffein schon in seinen Adern zu spüren, und wollte die Liege unter den Schirm drücken. Doch Tomas kam ihm zuvor. Der Grieche stellte das Tablett auf dem Polster ab, und Carsten erspähte einen Teller mit in Stücke geschnittenem Obst und einigen Gebäckstangen, die mit Sesam oder Käse bestreut waren. Er packte mit an und saß kurz darauf im Schatten, knabberte an einer Brotstange, schob ein Stück der süßen Wassermelone hinterher und lauschte in sich hinein. Tomas war mit einem Lächeln entschwunden, und Carsten hatte wahrgenommen, dass auch er lächelte – einfach so –, und es fühlte sich nicht sonderbar an. Gerade war sein Leben in Ordnung, also soweit eine vollkommen zertrümmerte Existenz in Ordnung sein konnte. Er ließ es zu, den Augenblick zu genießen, und drückte all die dunklen Gedanken, die ihn seit geraumer Zeit so sehr belasteten, beiseite.
Was hatte er gelesen, als er sich auf die Insel vorbereitet hatte? »Siga, siga« – das Synonym für »Immer mit der Ruhe!« Das war das Lebensmotto der Kriti. Vielleicht war es sogar mehr – eine Art mystischer Zauber, der sich über einen legte, sobald man kretischen Boden betrat, und der die vorhandenen Probleme irgendwie von unerträglich in aushaltbar verwandelte. Es machte nichts kleiner, nichts verschwand auf magische Weise, und doch hatte er einfach so hier am Strand schlafen können. Nun saß er hier und aß, während er sich nicht kontrolliert, sondern umsorgt fühlte. Hätte er Fotini nicht vom ersten Moment an ins Herz geschlossen, so wäre ihr Verhalten für den Krisenjournalisten Carsten Wegner vollkommen übergriffig gewesen. Doch war er das überhaupt noch? Würde er – nach dem, was er erfahren hatte – je wieder zu seiner alten Form zurückkehren können? Die Agentur, für die er früher hauptsächlich geschrieben hatte, hatte ihm mehrfach verdeutlicht, dass man jederzeit gern wieder auf seine Fachkompetenz zurückgreifen würde, sollte er in die Ukraine, nach Taiwan oder sonst wohin reisen wollen, wo es politische Brennpunkte gab.
Er leerte das Glas und freute sich darüber, dass er ein so einfaches Getränk so sehr hatte genießen können. Dann lehnte er sich zurück, balancierte den Teller auf seinen Oberschenkeln und mümmelte an Obst und Snacks, während er einfach nur die Schönheit des himmelblauen Meeres auf sich wirken ließ. Konnte es sein, dass vielleicht doch irgendwie alles gut werden würde?