Maria, 1979
Ihr Schwiegervater war tot, und Giorgos war nicht zu bewegen, mit Andreas und Olympia zu dessen Beerdigung nach Deutschland zu fliegen.
»Der Flug ist schon für die beiden teuer genug, und einer muss schließlich hierbleiben und die Baustelle beaufsichtigen«, hatte er gesagt und sich dabei äußerst kontrolliert angehört. Doch sie wusste, wie es hinter der beherrschten Fassade in ihm aussah. Er kannte seinen Vater nicht und hatte es nie verarbeitet, dass er von den Toten auferstanden war und ihm sodann seine Familie gestohlen hatte – so war es nämlich aus seinem Blickwinkel gewesen: Elonidas hatte ihm Bruder und Mutter genommen, und er war allein auf Kreta zurückgeblieben. Maria hatte es einmal gewagt, ihm zu sagen, dass es doch seine eigene Entscheidung gewesen sei zu bleiben, und er hatte sehr leise und mit zusammengebissenen Zähnen geantwortet, sodass sie nie mehr davon angefangen hatte – denn Giorgos war laut und leidenschaftlich, wenn er für etwas brannte und wenn ihm etwas nicht passte. Eine andere Art der Reaktion war daher etwas Beunruhigendes, und letztendlich hatte er recht, wenn er sagte, dass sie das nichts angehe, denn es waren seine Geschichte und seine Gefühle. Verzeihen war ihm nie leichtgefallen, gleichzeitig war es etwas, was er von anderen erwartete. Sie liebte ihn sehr, doch manchmal war es eben kompliziert. Sie hatte sich so viele Dinge angeeignet in den vergangenen Jahren, um mit ihm, Andreas und Olympia gemeinsam den Traum der Hotelbesitzer zu leben, und sie würden es schaffen! Jeder von ihnen hatte besondere Eigenschaften, die dazu führten, dass sie zielstrebig an ihrem Traum arbeiteten und schon bald Gäste würden bewirten können. Sie hoffte von ganzem Herzen, dass ihre Schwiegermutter nun zurückkommen würde. Sie kannte Hera zwar noch nicht, aber unterm Strich war es auch egal. Hauptsache, sie würde sich um die Kleinen kümmern, denn auch Olympia und Andreas hatten ja bereits ein Kind.
Es war wirklich verrückt, wie alles verlief. Sie brauchten Unterstützung. Ihre Mutter hatte zwar zugesagt, eine gewisse Zeit zu helfen, doch von Rodia bis Agios Nikolaos waren es mehr als siebzig Kilometer, und ihre Mutter hatte keinen Führerschein. Sie konnte also kommen und für einige Zeit bleiben, aber die junge Familie nicht dauerhaft unterstützen. Hera hatte kein Zuhause mehr auf der Insel, daher würde sie sicher nach Agios Nikolaos ziehen und wäre somit greifbar. Ohne familiäre Unterstützung würde es schwerer als nötig werden. Manchmal spürte sie eine alles dominierende Ungeduld in Giorgos, dann war er unzugänglich und fordernd und gab sich so, als schuldete ihm das Leben etwas. So, als hinge ihr Erfolg nicht von der Leistung ab, die sie erbrachten und zu der sie alle beitrugen, sondern allein von dem Faktor, dass das Schicksal etwas bei ihm gutzumachen hatte. Sie hatte versucht, ihn zu ermutigen, seinem Vater Lebewohl zu sagen und seiner Mutter damit auch gleichzeitig zu zeigen, dass er ihr verzeihen würde, doch er war, was das anging, halsstarrig geblieben.
»Wenn sie wieder nach Hause kommt, ist für mich alles vergeben und vergessen«, hatte er gesagt, doch seine Miene war dabei so grimmig gewesen, dass es ihr ausgenommen schwergefallen war, ihm zu glauben.
»Sie ist deine Mutter und die Yaya unseres Kindes und auch deines Neffen. Die Kinder brauchen eine Großmutter.« Im Stillen hatte sie hinzugefügt: Denn wenn uns niemand bei den Kindern entlastet, dann sind Olympia und ich demnächst nur noch Schatten unserer selbst. Olympias Mutter war einige Wochen da gewesen – ihr Vater hatte wegen der Schule nicht weggekonnt –, aber dann hatte auch sie wieder zurückgemusst, und seitdem war ihre Schwägerin eine blasse Gestalt mit tiefen Ringen unter den Augen. Der kleine Elonidas hatte beschlossen, zu jeder Tages- und Nachtzeit sehr hungrig zu sein. Andreas war ein aufopfernder Vater und half seiner Frau, wo er konnte. Maria hoffte sehr, dass Giorgos diese Qualitäten ebenfalls an den Tag legen würde, doch das Stillen konnten ihnen die Männer eben nicht abnehmen. Erst trug man die Kinder unter dem Herzen, wurde immer runder und schwerfälliger, konnte sich am Ende nicht einmal mehr die Schuhe zubinden, und dann raubten sie einem den Schlaf und die Spannkraft der Haut. Auch wenn sie die Schwangerschaft als Wunder empfand und die kleinen Finger und Zehen ihres Neffen – die perfekt geformt waren – schon mehrfach bewundert hatte, so richtig gerecht waren die Aufgaben nicht verteilt.
Giorgos konnte mit unverrückbarer Massivität auf seinem Standpunkt beharren – damit hatten sie bereits alle ihre Erfahrungen gesammelt: Hatte er eine Idee im Kopf, zum Beispiel wie ein Teil der Hotelanlage gestaltet werden sollte oder wen er als Partner gewinnen wollte, war er davon nicht mehr abzubringen. Egal, wie sehr sie auch versuchten, ihn mit Argumenten zu überzeugen oder seine Begründungen zu widerlegen – er blieb beharrlich. So hatte er beinahe jede Auseinandersetzung für sich entschieden. Sie wusste, sie würde ihn nicht dazu bringen, an der Beerdigung teilzunehmen, doch mit seiner Mutter hatte er Frieden zu schließen. Punkt! Sie war nicht bereit, auch nur einen Zentimeter von ihrer Position abzurücken. Es ging nicht nur um sein dahergesagtes Vergeben und Vergessen, sondern um ein echtes familiäres Verhältnis. Sie wurde für das gemeinsame Unternehmen gebraucht, und ganz unabhängig davon würde sie nicht einfach so in die zweite Reihe zurücktreten, nur weil sie ein Kind zu versorgen hatte. Olympia und Andreas würden ihren Sohn für die Zeit der Beerdigung bei Olympias Eltern auf dem Festland lassen.
»Andreas hilft seiner Mutter noch bei den Formalitäten und auch bei allem, was nötig ist, um ihren Umzug vorzubereiten«, hatte Olympia mit müder Stimme erklärt. »Ich hoffe, ich kann mal zwei oder drei Nächte durchschlafen, dann bin ich auch wieder ein Mensch und dazu in der Lage, mein Gehirn richtig zu benutzen. Da liegt so viel Schriftkram, der zu erledigen ist.« Die gelernte Sekretärin hatte sich all dessen angenommen, was mit Papieren zu tun hatte, und es hatte sich zudem herausgestellt, dass sie mit ihrer charmanten Art bei vielen Geschäftspartnern gut ankam und die Männer ihr nach kurzer Zeit zustimmten. Da sie kein kleines Dummchen war, hatte sie dann sofort die nötigen Unterlagen zur Hand, um alles hieb- und stichfest zu machen. Giorgos half zur Not mit dem ein oder anderen prall gefüllten Umschlag nach. Sie waren zu viert einfach unschlagbar.
Das Baby in ihrem Bauch regte sich, und für einen Moment vergaß sie die komplexen Herausforderungen des Alltags – da wuchs ein kleiner Mensch in ihr heran. Sie legte ihre Hände auf die gespannte Haut, streichelte das Kind, dessen Gliedmaßen sie zu ertasten glaubte, und summte eine Melodie dabei. Es würde ein glückliches Kind werden. Es hatte Eltern, die einander liebten, ein ordentliches Zuhause, und es würde zudem einen Reichtum erleben, den keiner von ihnen so kennengelernt hatte.
Die Tür öffnete sich, und ihr Mann trat ein. Sie hob den Kopf, und ihre Blicke trafen sich – seiner war wild und dunkel. Er sah so attraktiv aus, dass Liebe und Begehren in ihr aufwallten und sie vollkommen zu überfluten drohten. Doch sie kannte ihn zu gut und wusste genau, dass etwas vorgefallen war, wenn in seinen Augen die Dunkelheit auf diese Art brannte.
»Maria«, sagte er und in seiner Stimme schwangen Atemlosigkeit und Ärger mit.
Sie ließ die Hände sinken, denn der Moment des Zaubers war vorbei. »Was ist passiert?«, fragte sie, erhob sich und ging zu ihm. Es fühlte sich zwar eher wie ein Watscheln an, doch als sie vor ihm stand, nahm sie seine Hand und legte sie auf ihren Bauch, in dem das Kind noch immer munter strampelte. Sie hoffte, Giorgos damit etwas zu beruhigen, denn wenn er sich über etwas aufregte, dann konnte er laut und ungestüm sein. Sie war sich heute vollkommen bewusst, dass dieser Wesenszug von Anfang an unter seiner Haut gelauert und sie ihn in ihrer rosaroten Verliebtheit nur nicht gleich wahrgenommen hatte – oder vielleicht auch nicht hatte wahrnehmen wollen. Sein Zwiespalt war sichtbar: Er fühlte sein Kind, und das war gut so, doch gleichzeitig wollte er seine Hände bewegen – sich möglicherweise die Haare raufen oder auch etwas an die Wand werfen. Wenn ihm etwas misslang, konnte das eine mögliche Reaktion sein. Sie war sehr erschrocken gewesen, als er das zum ersten Mal getan hatte, und war im Anschluss selbst ausgeflippt. Sie hatten sich in einem langen Gespräch darauf geeinigt, dass er Dinge werfen durfte, die nicht zerbrechlich waren und keine Schäden in der Wohnung anrichteten – damit waren auch Früchte und Gemüse raus gewesen. Also hatte sie einige stabile Plastikbecher besorgt und diese auf das alte Buffet, das rechts neben der Tür im Esszimmer stand, gestellt. Anfangs war er sich albern dabei vorgekommen. Doch mit der Zeit hatte er verstanden, dass es so besser war, als wenn man im Anschluss winzige Scherben aufkehren oder gar irgendwelche Saftreste von Wand und Fußboden wischen musste.
Vorsichtig entzog er ihr seine Hand. Das Baby hatte ihn nicht beruhigen können. Er raufte sich die Haare, und die dunklen Locken standen wild zu Berge. Er sah aus wie einer jener Freiheitskämpfer, die man auf Büchern sah: ein moderner Zorro.
Das war ihr Mann! Sie liebte ihn – auch wenn er wild und ungezähmt war und hin und wieder unter der angelernten gesellschaftlich angepassten Verhaltensweise der Junge aus dem Bergdorf hervorkam. Er hatte ihr erzählt, dass Andreas und er regelmäßig dazu verdonnert worden waren, große Steine zu suchen, die dann auf der Nida-Hochebene abgelegt wurden, im Gedenken daran, dass die Andartis und die Bewohner und Bewohnerinnen der Bergdörfer dies getan hatten, um die Flugzeuge der deutschen Wehrmacht an der Landung zu hindern. Sie hatten sich körperlich verausgaben müssen, um die berstende Wut, die regelmäßig in den Jahren nach dem Krieg in ihnen hochgekrochen kam, zu verarbeiten. Sie hatten ihren Vater auf brutale Weise verloren und zusehen müssen, wie ihre Mutter zur Anführerin mutierte, sich dabei aber eine Schutzschicht aus Härte und Unnahbarkeit zulegte. Hera hatte ihren Söhnen gegeben, was unter diesen Umständen möglich gewesen war, und wenn Maria den Geschichten der Menschen lauschte, die den Krieg erlebt hatten, dann waren es furchtbare Zeiten gewesen. Sie selbst war erst sieben Jahre nach Ende des Krieges geboren.
Die Brüder waren ohne körperlichen Schaden davongekommen, doch der Geist hatte unter grausamen Erlebnissen gelitten. Welche Angst die Menschen zu jener Zeit wohl empfunden haben mussten? Die Jungen waren zwar noch klein gewesen, doch Babys spürten bereits im Mutterleib, wenn etwas nicht in Ordnung war. Das bemerkte sie selbst: War sie aufgeregt, wurde das Kind in ihr unruhig, und von Olympia wusste sie, dass Elonidas sehr feinfühlig war, und jedes ihrer Gefühle zeigte sich auch in dem kleinen rundlichen Gesichtchen.
Gewiss ging der Krieg an Kindern nicht spurlos vorüber – davon war sie überzeugt, egal, was andere behaupteten. Auch die Jahre nach Beendigung der Kampfhandlungen waren hart gewesen, denn im August 1944 hatte der Feind Anogia vollkommen zerstört – mit Granaten zerschlagen und alles niedergebrannt. Dabei war Heras Mutter umgekommen. Sie war krank gewesen, und die Deutschen hatten Alte und Kranke einfach in den Häusern bei lebendigem Leib verbrennen lassen. Sie hatten auf Kinder geschossen und alle Männer im Umkreis von einem Kilometer um das Dorf exekutiert. Mahnend fand man noch heute die Worte zu dem Massaker am Ortseingang auf einem Gedenkstein, denn der sechsjährige Stephanos Xylouris war durch eine Kugel gestorben, und die Familie hatte ihn erst nach Tagen beerdigen dürfen. So etwas ging an niemandem spurlos vorüber. Giorgos trug diesen Schmerz in sich wie einen Stachel, der sich nicht entfernen ließ.
»Was ist geschehen?«, fragte sie noch einmal und fing wieder seinen Blick mit dem ihren ein.
»Da war so ein Kerl – von früher aus Anogia – er macht keinen Ärger, das weiß ich, aber da ist etwas an ihm, das … Es ist … Er sieht gefährlich aus … und …« Giorgos stammelte, und das war unüblich für ihn, selbst wenn er wütend war.
»Hat er dich bedroht?«, wollte sie wissen, und Gänsehaut kroch ihr unvermittelt über den Rücken.
»Nein, nein … gar nicht, eher im Gegenteil. Aber es hat mich wirklich aufgeregt.«
Maria war verwirrt, denn ihr Mann war nicht so leicht zu erschüttern. Man konnte ihn aufbringen, wenn man sich ihm in den Weg stellte oder seine Werte verletzte, doch sie hatte es bisher nur sehr selten erlebt, dass er um Worte ringen musste. »Möchtest du darüber reden, Giorgo?«, bot sie ihm an, doch er schüttelte den Kopf, bewegte den Plastikbecher in den Händen hin und her, und es machte den Eindruck, als überlegte er, ob er ihn werfen sollte oder nicht. Sie wartete ab. Das Kind in ihrem Bauch schien nun um sich zu schlagen, denn es fühlte sich so an, als würde es ihre Organe mit den Fäusten traktieren. Giorgos straffte sich, ließ den Becher einfach fallen und hieb mit seinem Fuß darauf, sodass das Teil in mehrere Stücke zerbrach. Wortlos betrachtete er die Plastiktrümmer, bückte sich, las sie auf und verschwand so rasch und unvermittelt, wie er gekommen war.
Was hatte das zu bedeuten? Seine Reaktion war mehr als sonderbar gewesen. Sie nahm sich vor, ihn zu einem späteren Zeitpunkt erneut darauf anzusprechen: Der fremde Mann hatte ihn nicht bedroht, sondern das Gegenteil. Was war das Gegenteil von Bedrohung? Hatte der Besucher ihn beschützt oder verteidigt? Wovor? Und wieso empfand Giorgos ihn dann als gefährlich? Maria wollte darüber nachdenken, doch wie so oft in der Schwangerschaft verlor sie den Gedanken einfach aus dem Kopf. Er war sicher noch irgendwo in ihrem Gedächtnis vergraben, aber die täglichen Beschwerden innerhalb des letzten Schwangerschaftstrimesters sorgten dafür, dass sie sich in erster Linie mit dem Kind, dem Nestbau und der Zukunft ihrer Familie befasste, denn das hatte für sie absolute Priorität.