19. Kapitel

Katharina, Gegenwart

»Es ist gerade alles sehr sonderbar.« Katharina kaute nachdenklich an einem Apfelstück.

»Ich kann mir vorstellen, dass es nicht leicht für dich ist, mein Kind.«

Die Stimme ihrer Großmutter klang nicht so fest wie sonst. Für ihr hohes Alter hatte immer eine beachtliche Kraft darin mitgeschwungen. Doch jetzt war es anders, denn jeder Moment in ihrer aller Leben schien mit dem Verlust, den sie erlebt hatten, an Vitalität verloren zu haben, und stattdessen hatte sich Bitterkeit eingenistet wie ein böses Virus, gegen das es kein Mittel gab.

»Du wolltest mir etwas erzählen.« Katharina bemerkte, dass sie sich nicht erneut von dem Sog herabziehen lassen wollte, den ihre aktuelle Lebenssituation auf sie ausübte, und lenkte das Gespräch auf das ursprüngliche Thema.

»Ja, das wollte ich. Es ist eigentlich eine sehr umfangreiche Geschichte, und gleichzeitig ist sie wie vieles andere auch mit wenigen Worten erzählt: Das Unglück hat unsere Familie schon sehr lange im Griff – vielleicht weil wir über besondere Fähigkeiten verfügen und uns Gott deshalb immer strafen muss, um uns unseren Platz zuzuweisen. Er ist ein Mann. Und Männer können es nicht dulden, dass wir Frauen mehr wissen.«

Katharina war erstaunt, von ihrer Großmutter so etwas zu hören, denn schließlich ging die alte Dame jeden Sonntag in die Kirche. »Wir verfügen über besondere Fähigkeiten?« Sie bemerkte selbst, dass ihre Stimme eine Oktave höher rutschte und quietschig wurde. Sie hatte mit ihren Jungs Harry Potter gelesen und Zauberei auch als Teenager schon irgendwie cool gefunden, doch Magie oder irgendeinen anderen Hokuspokus gab es eben nur in Büchern und Filmen, auch wenn man hier auf Kreta oft noch diversem Aberglauben nachhing. Katharinas Generation versuchte, sich davon freizumachen und sich gegen daraus resultierende Verhaltensregeln zur Wehr zu setzen. Oftmals war das nicht leicht. Ihre Schwiegermutter hatte nach der Geburt der Jungen regelmäßig mit erhobenem Zeigefinger vor ihr gestanden und sie darauf hingewiesen, dass sie vierzig Tage lang Haus und Grundstück nicht verlassen dürfe – der böse Blick anderer Menschen konnte nämlich angeblich dafür sorgen, dass der Milchfluss zum Erliegen käme. Katharina hatte sich dem nicht fügen wollen und sich von Lambros Hilfe erhofft, doch der hatte seine Mutter angesehen, als hätte sie den Heiligen Gral gefunden, und dann den Zeigefinger erhoben, um seiner Frau mitzuteilen, dass die Älteren sehr genau wüssten, wo die Risiken nach der Geburt versteckt lägen. Seine Empfehlung lautete daher, sich daran zu halten. Katharina war sich vorgekommen, als wäre sie im falschen Film gelandet.

Die Aussage ihrer Großmutter sorgte dafür, dass sie sich plötzlich unwohl fühlte und den Impuls in sich spürte, diese Thematik zu meiden. Sie wollte jetzt keine Geschichte über kretische Mythen hören und was Zeus oder der Minotaurus einst gemacht hatten.

»Ich weiß, was du jetzt denkst, und es ging mir lange Zeit genauso. Ich hatte auch lange keine Möglichkeit, das Ritual auf Herz und Nieren zu überprüfen, denn mein Leben war wirklich hart und bis … also bis ich nach Deutschland gegangen bin, habe ich die Gegend um Anogia so gut wie nie verlassen. Ich hatte Kinder, ich … ich hatte eine Aufgabe. Da blieb keine Zeit für mich oder Ammenmärchen.« Hera schwieg unvermittelt, als hätte sie bereits zu viel gesagt.

»Yara, du machst mir irgendwie Angst, und einerseits möchte ich gerade gar nichts wissen, andererseits bin ich total neugierig. Wie wäre es, wenn du einfach ganz von vorn anfängst. Wir haben doch Zeit, und wenn du müde wirst, machen wir eine Pause. Ich habe hier ja auch noch einiges zu tun.«

»Von ganz vorn? Das ist lange her. Sehr lange. Du kennst die furchtbare Geschichte der Gerontospilios – der Höhle von Melidoni?«

»Mh«, bestätigte Katharina kurz, damit ihre Großmutter weiterreden konnte.

»Etwa dreihundertsiebzig Menschen sind darin auf grausame Art durch Feuer umgekommen. Es muss schrecklich gewesen sein. Doch sie sind nicht verbrannt worden – nur erstickt.« Hera lachte bitter auf. »Als würde das das Sterben irgendwie relativieren. Sie waren tot. Punkt. Auch wir hatten Vorfahren, die dieser bittere Tod getroffen hat. Meine Ururgroßmutter Litsa hat den Schrecken durch einen Zufall überlebt. Die Familiengeschichten berichten davon, dass sie sich verbotenerweise aus der Höhle geschlichen habe und so entkommen sei. Sie wurde gefunden und von liebevollen Pflegeeltern großgezogen. Alle anderen Familienmitglieder sind in der Höhle gestorben oder bei Kämpfen mit den Osmanen ums Leben gekommen.«

Hera machte wieder eine Pause, und Katharina konnte hören, wie die alte Dame etwas trank. Sie sagte nichts, denn ihre Neugier war entfacht, und sie wollte wissen, wo die Geschichten ihre Großmutter hinführten.

»Viele Familien haben ähnliche Schicksale erlebt, denn die Besatzer – egal welche – empfanden uns wohl als Menschen niederster Klasse, und hat man uns nicht getötet, so hat man uns ausgebeutet. Das scheint ja etwas zu sein, das unsere Spezies gut kann. Wir lernen nichts dazu. Unterdrückung, Gewalt und Grausamkeit – mehr bleibt nicht übrig. Auch unsere Männer haben mit allen Mitteln gekämpft, und am Ende hieß es immer: Leben gegen Leben. Ich bin so froh, dass ihr in einer Zeit lebt, in der Frieden hier auf der Insel herrscht.«

Hera räusperte sich, bevor sie fortfuhr, und Katharina bemerkte, dass diese Worte ihrer Yaya wirklich zu schaffen machten. Sie hatte die alte Dame nie so wahrgenommen – sie war immer stark gewesen, war ihren Söhnen gehörig auf die Nerven gefallen, hatte die Schwiegertöchter oft kritisiert und angetrieben, aber als Großmutter war sie die beste und liebevollste Person, die man sich nur wünschen konnte.

»Aber zurück zur Geschichte, die meine Mutter mir nach den Überlieferungen ihrer Mutter und wiederum deren Mutter und so weiter erzählt hat, Kleines: Meine Ururgroßmutter wuchs also bei einer guten Familie auf und war, so erzählte man sich, eine ausnehmend hübsche, mutige und starke Frau. Sie hat wohl sogar aus Liebe geheiratet. Das war damals nicht üblich, denn die Ehepartner wurden von den Eltern ausgewählt, und dabei ging es meist um die Mitgift oder Arbeitskraft. Doch sie hat sich verliebt, und diese Liebe wurde mit drei Kindern gesegnet – zwei Jungen und einem Mädchen: Aelia – meine Urgroßmutter. Es fühlt sich seltsam an, darüber zu reden, doch jede Mutter hat ihrer Tochter die Geschichte quasi auf dem Sterbebett überliefert. Ich habe keine Tochter. Ich habe eine Enkeltochter. Ich bin die Erste in der Reihe, die kein Mädchen geboren hat.«

Katharina wusste nichts zu sagen und schwieg wieder abwartend. Sie war froh, als Hera erneut zu sprechen begann: »Wie gesagt, Litsa hatte in Theodoris einen netten Mann, den sie sehr liebte, und für die damalige Zeit ein recht stabiles Leben, denn sie hatten ein Dach über dem Kopf und hungerten wohl nicht. Auch blieben sie in ihrem Dorf weitestgehend von Übergriffen der Türken verschont. Das war schon viel wert, wenn der Aggressor dich in Ruhe ließ. Sie bekam jedoch irgendwann einen immer wiederkehrenden Traum, der ihr keine Ruhe ließ und sie aufforderte, ans Meer zu reisen, um dem Meer ihren größten Wunsch anzuvertrauen, damit er in Erfüllung gehen konnte. Damals war das alles nicht so einfach oder gar normal. Der Feind war im Land, man ging nicht mal eben so zig Kilometer und machte einen Ausflug ans Wasser. Die Tage waren angefüllt mit Tätigkeiten für die eigene Familie und die Gemeinschaft, in der man lebte. Sie hat also sehr lange gebraucht, bis sie vom Traum zur Umsetzung gekommen ist.«

»Wie weit war es denn bis zum Meer?«, fragte Katharina interessiert, denn aus heutiger Sicht waren viele Strecken ja zu einem Katzensprung geworden, und sie wollte ein Gefühl dafür bekommen, was damals bereits als große Herausforderung angesehen wurde.

»Vielleicht zwanzig Kilometer oder so. Es ging durch unwegsames Gelände, und man musste ja auch achtgeben, nicht in die Hände der Feinde zu geraten. Wirklich, Kathi, das ist heutzutage unvorstellbar …«

»Aber du weißt, wie sich das anfühlt, Yara?«, fügte Katharina verständnisvoll an.

»Natürlich, Kindchen. Wir haben aus Lammfell Schuhe gemacht. Leder hatten wir nicht genug, denn wir haben nicht oft ein Tier getötet. Wir brauchten die Milch und die Wolle … Ich denke, es ging uns nicht großartig anders. Die hundert Jahre, die dazwischenlagen, haben nicht viel verändert. Wir haben in Steinhäusern gelebt, die wir mit offenen Feuern beheizt haben, haben uns von dem ernährt, was die Erde uns gegeben hat, und unsere Tiere wie Schätze gehütet. Dein Vater und dein Onkel waren teilweise in Stofffetzen gekleidet und sind oft einfach nur barfuß gegangen, um die Behelfsschuhe zu schonen. Krieg ist für niemanden gut, und wenn du zu denen gehörst, deren Land okkupiert wird, dann klammerst du dich irgendwann ans nackte Überleben.«

»Krieg ist etwas Furchtbares, und mir tun alle Menschen leid, die damit konfrontiert werden. Es ist schwer für mich, mir das vorzustellen, und der bloße Gedanke, in eine solche Situation zu geraten, lässt mich nur daran denken, die Kinder zu packen und zu fliehen.«

»Du fragst dich gewiss, warum wir geblieben sind, Kathi«, nahm Hera ihre Aussage auf, um daran anzuknüpfen.

»Schon irgendwie«, gestand Katharina.

»Ich hatte einen Säugling und war schwanger, und es war nicht so leicht wie heute, von der Insel herunterzukommen. Es gab keine Flugzeuge, mit denen wir hätten davonfliegen können, und die Häfen waren streng bewacht. Wenn du in den Bergen lebtest – so wie wir –, hattest du logischerweise auch kein Boot irgendwo in einer kleinen Bucht liegen, und selbst wenn … Der Feind hatte die Gewässer unter Kontrolle, und man wäre wahrscheinlich schneller auf dem Meeresgrund gelandet, als man ›Hilfe‹ hätte rufen können. Es war unmöglich für uns Einheimische. Unmöglich …«

»Und du hättest sicher auch deine Angehörigen nicht einfach so zurückgelassen.«

»Zu dieser Zeit nicht. Diesen Fehler habe ich Jahre später gemacht und bereue ihn heute bitter.«

»Yara, es ist nicht deine Schuld!«

»Ach wirklich, Katharina? Ist es nicht immer die Schuld der Mutter?« Die alte Dame regte sich merklich auf und begann zu schnaufen.

»Bitte, Yara, wenn dir das alles zu sehr zu Herzen geht, sollten wir die Vergangenheit vielleicht besser ruhen lassen.«

»Es wird mich immer belasten. Bis zum letzten Atemzug. Das ist eben so. Aber ich will dir all das erzählen, was wir euch … Na ja, wir haben euch nicht belogen, wir haben es verschwiegen und waren uns alle einig darüber, euch nicht mit all dem Grauen zu belasten. Ihr solltet unbeschwert aufwachsen, und in Agios Nikolaos wurde tatsächlich weitaus weniger getratscht als zum Beispiel in Agia Pelagia, wo viele aus Krousonas und Anogia hingezogen sind. Natürlich kennt man den Namen eures Großvaters auch hier, denn er war und ist für alle ein Held, aber die Leute hatten es eben nicht so nötig, das alles immer wieder durchzukauen, denn tatsächlich habe ich in Agios Nikolaos kaum jemanden von früher getroffen, der ihn noch kannte. Viele haben nicht verstanden, warum er nicht zurückgekommen ist und nun in fremder Erde begraben liegt – aber dazu kommen wir später. Wo war ich stehen geblieben?«

»Litsa und der beschwerliche Weg zum Meer … und was es damit auf sich hatte.«

»Ja … richtig. Sie hat es geschafft, die Unterstützung ihrer Familie und ihres Mannes zu bekommen, und ist mit ihm zum Meer gereist. Was dort geschehen ist, hat sie dann sehr viele Jahre später ihrer damals zweiunddreißig Jahre alten Tochter Aelia erzählt, diese dann irgendwann ihrer Tochter Garyfallia, die damals schon älter war. Garyfallia wollte es dann irgendwie anders machen, sie dachte vielleicht, es sei besser und schlauer, nicht zu warten, bis man sich zu müde für das Leben fühlt, und hat es ihrer Tochter, also meiner Mutter Aeliaki, um 1920 erzählt. Es war zwischen den Kriegen. Der erste hat Kreta nicht so sehr betroffen, aber die Zeiten waren trotz allem nicht leicht oder gar golden, wie man diese Jahre in Amerika bezeichnet. Beide Frauen haben also auf ihre Art Erfahrungen gesammelt. Meine Mutter Aelia hat mir die Geschichte erzählt, als sie krank wurde und … na ja … Es war Krieg. Ich habe ihr zwar zugehört, aber … ich wollte es gar nicht hören. Sie klang fiebrig und verwirrt. Ich war schwanger mit deinem Vater, und mein Mann hatte sich den Andartis angeschlossen. Er war sogar zu einem Anführer der Freiheitskämpfer geworden. Es war bei allem, was wir zu dieser Zeit mitgemacht haben, zu unglaublich für mich, und ich habe es nach ganz hinten in meinem Kopf geschoben.«

Katharina spürte, wie ihre Ungeduld wuchs. Sie wollte wissen, was das Geheimnis der Frauen ihrer Familie war. Waren sie Kräuterfrauen, Heilerinnen, Hexen gewesen? Ihre gläubige Großmutter war gewiss keine Zauberin, korrigierte sie ihre Gedanken sogleich. Irgendwie war es spannend, ihr zuzuhören, auch wenn sie viele Haken schlug und Schleifen drehte. Schließlich war es die Geschichte ihrer Familie, und sie wusste fast nichts über ihre Vorfahrinnen.

»Ich bin gespannt, wie es weitergeht«, bat sie ihre Yaya fortzufahren.

»Wir kehren zurück zu Litsa – also meiner Ururgroßmutter – die mit Theodoris ans Meer gewandert ist. Es muss trotz der Aufregung eine faszinierende Reise für die beiden gewesen sein, denn das Meer zum ersten Mal zu spüren, ist etwas Wunderschönes. Aber nun zu dem, was sie geträumt hat und was dann für uns Frauen der Familie zu einem ganz besonderen Erbe geworden ist. Mal Fluch, mal Segen.«

»Du machst es echt spannend. Ich muss mir kurz etwas zu trinken holen und bin sofort wieder konzentriert bei dir.«

Katharina erhob sich, nahm das Tablett mit in die Küche, packte eine große Wasserflasche und war kurz versucht, sich ein Glas Rotwein einzugießen, doch dann würde sie ihrer Großmutter nicht mehr mit voller Aufmerksamkeit zuhören können – daher verwarf sie den Gedanken rasch wieder. Sie nahm noch das Ladekabel für ihr Handy mit, kehrte zu dem bequemen Sessel zurück und machte es sich gemütlich.

»Da bin ich wieder. Was war das? Was meinst du mit Fluch und Segen?«, nahm sie den Faden wieder auf und hörte Hera seufzend durchatmen.