20. Kapitel

Olympia, 1999

Andreas und sie hatten sich nicht einfach nur treiben lassen, sondern das, was sie vom ersten Augenblick an gespürt hatten, als die Liebe begriffen, die nur wenigen Menschen zuteilwurde. Sie hatten 1978 geheiratet – recht kurze Zeit nach ihrem ersten Treffen am Strand von Agios Nikolaos, auch wenn ihre Eltern anfangs sehr kritisch waren. Andreas war älter, hatte ein Leben gelebt, das fremd für Mutter und Vater erschien, und sie wollten ihre Tochter nicht an die Insel verlieren, sondern sie bei sich auf dem Festland halten. Der Verlust, den die beiden erlitten hatten – ja, eigentlich sie alle – hatte ihre Psyche porös gemacht, und Olympia verstand plötzlich, warum sie nach Kreta hatte kommen müssen, um nicht nur sich, sondern auch die Liebe zu finden: Sie musste den Schatten abstreifen, den der verstorbene Bruder wie einen unsichtbaren Stempel auf ihrer Seele hinterlassen hatte.

Eleftheria hatte sich damals wieder einmal als wirkliche Freundin erwiesen und sie in ihrer Entscheidung bestärkt, nach Kreta zu ziehen und den Sohn eines Freiheitskämpfers – eines Andarten – zu heiraten, denn das hatten Andreas, Giorgos und Maria ihnen beiden recht schnell erzählt. Es war keine der üblichen Heldengeschichten gewesen, denn Andreas hatte auch über die schweren Zeiten berichtet, die seine Eltern in Deutschland erlebt hatten, als sie versuchten, einander in den Sechzigerjahren wiederzufinden. Der Vater war ein gebrochener Mann gewesen, und Hera hatte sich so viele Jahre allein behaupten und ihre Söhne durch Krieg und Hunger bringen müssen, dass ihre harte Schale nur mühsam wieder aufbrach.

Olympia kannte ihre Schwiegereltern kaum. Sie waren nicht zur Hochzeit gekommen, und das sorgte vor allem bei ihren Eltern für ein nagendes Unwohlsein, denn sie glaubten, das sei kein gutes Zeichen für die bevorstehende Ehe. Doch sowohl Andreas als auch sie hatten Verständnis: Elonidas hatte eine Entscheidung getroffen, und sie war unumstößlich für ihn, obwohl sie von außen betrachtet sonderbar wirkte, denn er war doch bereit gewesen, für seine Heimat zu sterben – wieso wollte er dann nicht mehr nach Kreta zurückkehren, nachdem er das Grauen des Konzentrationslagers in Deutschland überlebt hatte? Es war vielmehr unverständlich, warum er im Land des Feindes von damals leben wollte. Das war es auch, was Giorgos nicht verstand und was ihn emotional von seinen Eltern entfernte.

Andreas’ Bruder machte von Anfang an keinen Hehl aus seiner Auffassung, und für Olympia war es sehr interessant, dass die Brüder es trotzdem schafften, einen Konsens zu finden und produktiv zusammenarbeiteten.

Im Laufe der Jahre jedoch hatte sich Giorgos auffallend verändert, und sie kamen oft an ihre Grenzen im Umgang mit ihm. Auch Maria hatte damit zu kämpfen, denn aus dem einst romantischen jungen Mann war jemand geworden, der hauptsächlich Statussymbolen nachjagte. Zudem waren sie sich alle nicht mehr sicher, ob er es mit seinem Eheversprechen und dem Treuegelübde wirklich ernst nahm. Maria war eine hingebungsvolle Mutter und kümmerte sich liebevoll um die Angestellten in dem prosperierenden Betrieb. Von außen betrachtet war sie Giorgos auch immer eine gute Ehefrau, doch niemand konnte hinter die verschlossene Schlafzimmertür eines Paares blicken.

Die vergangenen zwei Jahrzehnte waren harte Jahre gewesen, in denen Olympia und Andreas viel zu wenig Zeit für sich als Paar und auch ihre beiden Kinder gehabt hatten, doch das Hotel und auch das Restaurant verdeutlichte ihnen, dass sich die Anstrengungen gelohnt hatten, denn vor allem die Hotelanlage in Agios Nikolas war ein absolutes Kleinod geworden, und die Besucherströme gaben ihnen ebenfalls recht. Die Leute waren begeistert von der gepflegten Anlage direkt am Meer, den komfortablen Zimmern und dem guten, frischen Essen.

Olympia trug das Haar etwas kürzer als früher und fasste es oft zu einem dicken Knoten im Nacken zusammen, denn es war noch immer dicht und glänzend. Sie war noch lange keine alte Frau, und die Vierziger hatten ihr eine aristokratische Reife in den Gesichtszügen verliehen, während Maria irgendwie traurig und verhärmt wirkte.

»Ich glaube nicht, dass das noch lange gut geht.« Sie nahm einen Schluck Kaffee.

Andreas hob fragend den Blick. »Du meinst Maria?« Obwohl sie die Aussage ohne erklärende Einleitung gemacht hatte, verstand er sie. Das war über die Jahre immer intensiver geworden – sie warfen einander einen Blick zu und wussten genau, was der andere dachte.

Sie nickte und spürte eine leise Trauer in sich. Sie waren so viele Jahre ein unschlagbares Quartett gewesen, und nun gerieten die Dinge aus den Fugen. Erste Zeichen hatte es schon damals gegeben, als der Vater in Deutschland an Krebs erkrankt war, doch danach hatte Giorgos sich irgendwie wieder gefangen, und Maria hatte seine unbeirrbare Härte irgendwie ignoriert, so, als würde das sein Handeln ungeschehen machen. »Sie verkümmert an seiner Seite, und er will es nicht wahrhaben, oder er sieht es vielleicht auch gar nicht. Seit die Jungs auf dem Absprung sind …« Sie beendete den Satz nicht.

Doch Andreas tat es für sie. »… sieht sie keine Notwendigkeit mehr, den Schein aufrechtzuerhalten.«

»Er versteht es nicht, oder?« Sie kannte die Antwort bereits, denn Giorgos ähnelte seinem sturen Vater viel mehr als Andreas und vor allem mehr, als er selbst es wahrhaben wollte. So, wie beider Vater seinem Schwur immer treu geblieben war, nicht mehr in die Heimat zurückzukehren, so war auch sein dickköpfiger Sohn Giorgos dem seinen treu geblieben, niemals einen Fuß auf den Boden des ehemaligen Feindes zu setzen.

Er hatte seine Gefühle den Touristen gegenüber in all den Jahren gut in den Griff bekommen und auch dem Impuls widerstanden, die Preise für sie um fünfzig Prozent anzuheben – als eine Art Schmerzensgeld. Doch er hatte den Vater nach dessen Abtransport 1944 nie mehr gesehen, und damals war er ein Säugling gewesen. Somit hatte er keinerlei Erinnerungen an den Mann, der sich Vater nannte, und nur Heras Schilderungen und die Geschichten, die sich die Bewohner im Dorf erzählt hatten, hatten sein Bild geprägt.

Andreas hatte Olympia oft berichtet, dass er regelmäßig versucht hatte, die beiden Männer zusammenzubringen, doch es war ihm nicht gelungen, ihre Schutzschichten zu durchdringen. Obwohl sie sonst in allem Andreas’ Vertraute war, so hatte sie sich aus diesem Thema immer herausgehalten und auch darum gebeten, die Kinder nicht mit alldem zu belasten. Tolstoi hatte am Anfang seines Jahrhundertromans Anna Karenina die richtigen Worte gefunden, um zu beschreiben, wie Familien tickten: »Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise.«

Jeder in der Familie ihres Mannes hatte seine ganz eigenen Beweggründe, und wem oblag es, diese zu bewerten und zu beurteilen – ihr ganz gewiss nicht. Sie ergriff Partei für Maria in beinahe allen Belangen, doch Giorgos’ Beziehung zu seinem Vater hielt sie immer außen vor, auch wenn Maria die alte Geschichte jedes Mal zum Thema machte, um zu erläutern, warum sie ihre Ehe für gescheitert erklärte und ihre Sachen packen würde, sobald Panagiotis auf eigenen Füßen stand.

»Ich weiß nicht mehr, was ich dazu noch sagen soll.« Andreas hob seine Schultern kurz an, und ein trauriger Ausdruck glitt über sein braun gebranntes Gesicht. Sein Haar war mittlerweile von vielen silbernen Fäden durchzogen, doch das machte ihn nur noch attraktiver. Sie hatte sich in den vergangenen zweiundzwanzig Jahren nicht an ihm sattsehen können, und ihre Liebe war wie ein nie versiegender Quell. Viele andere Paare verloren sich, wenn es Herausforderungen zu bewältigen gab und nicht alles rundlief, doch bei ihnen hatte all das immer nur zum Gegenteil geführt: Sie waren noch enger zusammengewachsen, und ihre Tochter Katharina sagte regelmäßig, sie seien eine Seele, die in zwei Körpern lebe. Das traf es ziemlich genau. Sie beugte sich über den Tisch, legte ihre Hand auf seine Wange und sagte: »Wir können nichts daran ändern, denn es ist nicht unser Leben. Auch wenn es mich traurig macht, zu sehen, wie Giorgos sich verändert, und dass das, was uns einst unumstößlich erschien, nun vor unseren Augen zerbricht.«

»Ich hoffe nur, dass wir das finanziell verkraften. Maria wird sicher nicht in eine Zukunft gehen, in der sie schauen muss, woher sie das Geld zum Leben bekommt, und in allem, was wir haben, steckt ihre Mitarbeit, daher ist es ihr gutes Recht, ausgezahlt zu werden.« Er seufzte.

»Sie wird keine Schmutzwäsche in der Öffentlichkeit waschen. Das weißt du ebenso gut wie ich. Egal, wie verletzt sie ist – es ist das Erbe ihrer Kinder, und Giorgos ist deren Vater. Sie wird niemals etwas tun, was Athanasios und Panagiotis Schaden zufügt.«

Andreas nickte. »Ich weiß das, aber unsere liquiden Mittel sind überschaubar, da verrate ich dir kein Geheimnis. Wir haben sicher viel Geld, aber es steckt eben im Unternehmen.«

»Giorgos muss aufhören, sich wie ein Idiot zu benehmen, dann muss Maria nicht hart auf ihrem Standpunkt beharren, sondern kann offen sein für eine gute Lösung. Doch solange er sie immer wieder dumm dastehen lässt und sie am Ende des Tages sogar demütigt, wird sie nicht einlenken.«

»Ich versuche, mit ihm zu reden, aber es ist …« Er machte eine lange Pause.

»Es ist nicht mehr wie früher, als wir uns einfach alle nah waren und jede Entscheidung gemeinsam trafen«, vervollständigte sie seinen Satz, und er nickte. Sie hatten einander verloren, und sie konnte sehen, wie sehr es Andreas schmerzte, dass sein Bruder fast zu einem Fremden für ihn geworden war. Sie schauten sich an, und es war ihnen vollkommen bewusst, dass sie eine besondere Verbindung hatten, und … dass das nicht üblich war. Sie waren zwar in die Aufgaben hineingewachsen, die mit dem prosperierenden Hotel zu tun hatten, und doch waren sie einfach eine Familie, die Glück gehabt hatte. Obwohl sie das Heranwachsen ihrer Kinder nicht so intensiv, wie gewünscht hatten begleiten und erleben können, waren Katharina und Elonidas gut gelungen. Der Junge träumte bei allem irgendwie groß, und er sprudelte am Telefon geradezu über vor Ideen, die er im Austausch mit Professoren und Kommilitonen bekam. Katharina war ein idealistisches Mädchen, und Olympia war oft erstaunt darüber, dass ihre Tochter sich nicht wie andere Teenager ständig in jemand anderen verliebte und dadurch zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt schwankte. Sie waren einander nah, und die junge Frau ließ sie immer mal wieder an ihrer Vorstellung vom Leben und in diesem Zusammenhang auch von Beziehung teilhaben. »Das, was Papa und du haben, Mama, das möchte ich auch. Ich brauche kein Abenteuer und all die tränenreichen Momente, die meine Freundinnen erleben, sondern einfach nur eine tiefe Verbundenheit und Liebe. Ich sehe doch, wie ihr euch anschaut. Das ist, als würdet ihr mit Blicken miteinander reden oder euch Gedanken zuwerfen. Und so wünsche ich es mir auch für mein Leben.«

Olympia nahm das Mädchen dann immer in den Arm, drückte ihr einen Kuss auf den Scheitel und sagte: »Du hast so viel Liebe verdient, mein Kind!«

Es gab nichts, was sie versprechen konnte, denn sie war realistisch genug, um zu wissen, dass es das nicht an jeder Ecke gab und dass das Universum es mit Andreas und ihr ganz besonders gut gemeint hatte. Früher hatte Olympia fest daran geglaubt, dass nicht nur ihren Mann und sie dieses besondere magische Band verknüpfte, sondern auch Maria und Giorgos, aber es war anders gekommen als erhofft. Es schmerzte sie, zu sehen, wie diese beiden Menschen so sehr auseinanderdrifteten – und dass am Ende nach all den verletzten Gefühlen nur noch Gleichgültigkeit übrig geblieben war.

Andreas nahm ihre Hand und sagte: »Es tut weh, Beziehungen scheitern zu sehen, und es macht mir immer wieder klar, welches Glück wir beiden erleben, dass wir uns gefunden haben. Dafür bin ich jede Minute meines Lebens dankbar. Ach, was sage ich, jede Sekunde.« Er stand auf, kam um den Tisch herum und küsste sie liebevoll. Er schmeckte nach Tee mit Zitrone und trug diesen wunderbar herben Geruch von dunklem Holz und Sonne an sich. Er war ihr Mann.

»Fahren wir zusammen?«, wollte er wissen, und sie nickte.

Heute hatte sie jede Menge zu tun, denn die Saison lief auf vollen Touren, und das Personal war kurz vor dem ersten Tief. Sie konnte es immer schon kommen sehen, wenn der Anfangshype vorüberging und die Arbeit zu einer anstrengenden Routine wurde, jeder Gast der wichtigste sein wollte und sich Fehler einschlichen. Sie musste die Leute auf ihre Aufgaben einschwören und darauf achten, dass die Löhne korrekt ausgezahlt wurden – das machten sie aktuell wochenweise in bar. Die Buchungen mussten überprüft werden, damit es an den An- und Abreisetagen nicht zu einem heillosen Chaos kam.

Sie brachen auf, und Olympia dachte daran, wie es gewesen war, als sie alle vier an einem Strang gezogen hatten – es stimmte wohl, dass die einzige Konstante im Leben die Veränderungen waren, und manche konnte man nicht so leicht hinnehmen.

Leise Musik füllte den Innenraum des Wagens, und vollkommen unvermittelt fragte Andreas: »Wir müssen Maria über kurz oder lang im Hotel ersetzen – was denkst du, schaffen wir das?«