Carsten, Gegenwart
Er hatte sich dafür entschieden, vor dem Abendessen noch ein wenig auf Erkundungstour zu gehen. Sein erster Impuls war gewesen, sich ins Auto zu setzen und ein wenig umherzufahren, denn so bekam er oft einen guten Eindruck von den Gebieten, in denen er sich bewegte. Doch dann war er einfach zu träge gewesen, und so schlenderte er lieber in Flipflops, Badehose und offenem Hemd durch den verwinkelten Ort.
Einige Ecken wirkten nett, andere erschienen ihm eher weniger ansprechend, und alles in allem fand man das Flair von Lygaria wohl hauptsächlich an der kurzen Promenade. Was jedoch wirklich interessant war, war die Tatsache, dass ihn überall freundliche Gesichter grüßten, sodass er sich willkommen vorkam. Das war in seinem Job nicht immer der Fall. Natürlich gab es stets Menschen, denen es wichtig war, dass über das, was in ihrer Region – in ihrem Land – vorging, berichtet wurde, doch meist begegnete man ihm mit Vorbehalt oder gar offen gezeigter Ablehnung. Es lag an seinen Kontaktpersonen, wie es am Ende tatsächlich lief, denn ohne einen ortskundigen Fahrer und einen vertrauenswürdigen Übersetzer war im Regelfall nichts zu machen. War der Fahrer gut vernetzt, dann war das schon mehr als die halbe Miete.
Es war nicht immer leicht, jemanden zu finden, der sich auf dieses Vabanquespiel einließ, denn es war gefährlich, ihn zu transportieren. Er wollte nah ans Geschehen ran, und wenn man ihn in die rote Zone ließ, dann ging er eben auch dorthin. Wenn er länger vor Ort war oder auch regelmäßig berichtete, hatte er möglichst immer dieselben Personen um sich. Er gab sein Leben in die Hände dieser Leute, und gleichzeitig war er auch verantwortlich für die Dienstleister, die er bezahlte. Das war das, was ihn am Ende seine innere Stärke gekostet hatte: Er hatte hilflos mit ansehen müssen, wie man erst seinen Wagen unter Beschuss nahm und dann seinen Fahrer entführte. Ihn hatte man zurückgelassen – man hatte wohl keine internationalen Verwicklungen provozieren wollen. Der Mann war nicht mehr aufgetaucht, und nach einigen Monaten hatte er akzeptieren müssen, dass die Rebellen ihn wohl getötet hatten.
Seit der Entführung schlief er nicht mehr richtig, und das permanente Grübeln, was er hätte anders machen können, hatte ihn immer tiefer in eine dysfunktionale Trauer gestürzt. Er hatte sich noch aufraffen können, eine Initiative zu starten, die Familie des Fahrers nach Deutschland zu holen und in Sicherheit zu bringen, doch das war das letzte bisschen Kraft gewesen, das er noch hatte mobilisieren können, und der Absturz hatte ihn umso tiefer ins Nichts gerissen. Viele Kollegen hatten ihm gesagt, er solle sich nicht so haben – sein Idealismus sei der eines Fünfzehnjährigen, und als erwachsener Mann und Krisenreporter sei es beinahe albern, sich so anzustellen. Na klar – als würde er sich absichtlich so fühlen und so verhalten und hätte eine freie Wahl …
Leider war es kein bisschen lustig, mit solchen Aussagen konfrontiert zu werden, denn er hatte es sich nicht ausgesucht und verdammt noch mal oft genug versucht, sich dagegen zu wehren. Doch je mehr er sich zu befreien versucht hatte, umso schlimmer war es geworden – als wäre die Krankheit ein Sumpf, in dem man immer schneller versank, sobald man sich irgendwie bewegte. Man zahlte für alles einen Preis. Seine Oma hatte das immer gesagt, und er hatte nicht verstanden, was sie damit meinte, denn es lag so nah, diesen Preis nur für die schwierigen Momente im Leben anzunehmen, doch sie hatte es auf alles bezogen. Und langsam hatte er begonnen zu begreifen: Man bezahlte für jeden guten und jeden schlechten Moment im Leben etwas, und immer, wenn man glaubte, die Zügel gerade in der Hand zu halten, belehrte einen das Leben erneut eines Besseren!
»Mein Junge«, hatte sie mit ihrer zittrigen Stimme gesagt und ihn so durchdringend angeschaut, dass er gern geglaubt hätte, dass sie in diesem Augenblick auch wirklich wusste, wer er war, »du darfst nicht vergessen, dass am Ende dein Herz gegen eine Feder aufgewogen wird, und nur wenn es rein und leicht ist, kommt man in den Himmel. Ich glaube, meines …« Dann war sie noch weiter von ihm fortgedriftet, denn die Demenz hatte sie seit einigen Jahren im Griff gehalten, und ihre Momente im Jetzt waren immer weniger geworden, zumal er zu oft über längere Zeiträume gar nicht im Land war.
Seine Mutter hatte sich anfangs noch um sie gekümmert, doch dann war sie eines Tages auf der Treppe ihres Hauses gestürzt und hatte sich die Hüfte gebrochen. Es hatte wie ein dummer Unfall ausgesehen, aber es war keiner gewesen. Bei den Untersuchungen war einem Arzt ein erhöhter Marker im Blut aufgefallen, und bei einer genaueren Untersuchung hatten sie den inoperablen riesigen Tumor an ihrem Hirnstamm gefunden. Es war eine Art Wunder gewesen, dass sie bis zu dem Tag ihres Sturzes keinerlei Beschwerden oder gar Ausfälle hatte.
Sie war so schnell gestorben, dass er es gerade noch so nach Hause geschafft hatte, um sie ein letztes Mal zu umarmen. Die Beerdigung war grauenvoll gewesen. Seine Oma hatte dauernd gefragt, warum sie auf dem Friedhof sei, wo sie die zu beerdigende Person doch gar nicht kenne, sein Vater hatte am Grab gestanden und vergessen, wie man sich bewegte. Er war wie eingefroren gewesen. Carsten hatte seinen Vater gemeinsam mit einem von dessen Schulfreunden fast wegtragen müssen. Er hatte die Oma anschließend im Heim untergebracht, denn sein Vater hatte die Verantwortung für die verwirrte Frau rigoros abgelehnt. Carsten hatte es einerseits verstanden, denn es war eine schlimme Belastung, sie so zu sehen, andererseits hatte sie immer für ihre Familie gesorgt und war stets da gewesen, wenn es die Situation verlangt hatte. Er hatte eine schöne Einrichtung am Stadtrand ausgesucht – mit Blick ins Grüne – und auch aus eigener Tasche jeden Monat etwas dazugelegt, damit sie ein ruhiges Einzelzimmer bewohnen konnte. Sie war schon so viele Jahre allein, sein Großvater war vor über zwanzig Jahren gestorben.
Er schüttelte sich. Alles war so absurd. Das ganze Leben war absurd. Seine kleine, runzlige Oma hatte er dann im vergangenen Jahr zu Grabe getragen. Sie hatte ihre Tochter zwar überlebt, aber nur um vier Jahre. Vier Jahre, in denen sie die meiste Zeit gar nicht mehr wusste, dass sie eine Tochter gehabt hatte, und glaubte, der »Junge«, der sie regelmäßig besuchte, sei ein Jugendfreund aus der Schule. Sein Vater hatte nach dem Tod der Mutter einige Wochen unter Schock gestanden, dann ihre Sachen in Kartons gepackt, diese an das Rote Kreuz gegeben und sich auf einem Datingportal angemeldet. Carsten war geschockt und irritiert gewesen – seine Eltern hatten fünfundvierzig Jahre als Paar zusammengelebt, und nur wenige Monate nach dem Ableben seiner Mutter hatte der Vater bereits eine neue Partnerin gehabt. Mittlerweile wohnte diese auch bei ihm.
Alles in Carstens Leben hatte sich auf einen Punkt zubewegt – dem Zenit, in dem sein Leben unter einem Schwall glühender Lava begraben wurde, als der Vulkan ausgebrochen war und einen Ascheregen ausgespien hatte. Je mehr er darüber nachdachte, umso klarer wurde ihm, dass alles darauf hinausgelaufen war, ihn aus seinem Leben zu katapultieren. Als er die Sachen seiner Oma aus dem Zimmer geräumt hatte – ein ganzes Leben in wenige Kartons verpackt –, war er im freien Fall gewesen, ohne sich vorstellen zu können, je wieder zu landen. Kein Wunder also, dass er nach der Beerdigung eine sehr lange Zeit gebraucht hatte, um zu entscheiden, ob er weiterleben wollte oder nicht.
Während er mit festen Schritten – die das typisch klatschende Geräusch von Flipflops auf der holprig geteerten Straße hinterließen – Lygaria erkundete und sich über lächelnde Gesichter freute, überkam ihn erneut diese tiefe innere Ruhe. Als wollte das Schicksal ihm wieder und wieder mitteilen, dass er trotz all der Bedenken, die er im Vorfeld dieser Reise gehabt hatte, am richtigen Ort war. Fotini kam ihm erneut in den Sinn: Sie war ihm so vorbehaltlos zugewandt. Niemand hier wusste, wer er war. Was wäre, wenn sie es wüssten? Er musste kurz innehalten. Es war nicht seine Schuld. Er hatte immer nur das Beste im Sinn gehabt und nie jemandem schaden wollen, aber vielleicht war man doch einfach, wer man war, und hatte keine Chance, das zu ändern – egal, wie sehr man sich auch anstrengte.
Er bog ab und lief nun auf einer Parallelstraße oberhalb der Promenade. Nach einer kleinen Kurve bemerkte er den Eingang zum Scirocco – dem Restaurant, das Fotini ihm empfohlen hatte. Neugierig blickte er die geflieste Treppe hinab, sah das Meer, jede Menge hölzerne Tische und mit Korb bespannte Stühle, auf denen Gäste saßen und aßen. Er roch den verführerischen Duft der Speisen und bekam Appetit. Vielleicht sollte er heute Abend doch hier dinieren? Es war nicht mehr lange bis zur Essenszeit. Nicht, dass er immer zu einer bestimmten Zeit seine Mahlzeiten einnahm, er wollte sich nur vorher duschen und anziehen und vielleicht noch einmal seine Unterlagen kurz sichten, er hatte ja schließlich eine Aufgabe zu erledigen.
Langsam ging er weiter, schaute sich die Betongerippe, die er bereits vom Meer aus gesehen hatte, aus der Nähe an. Man hatte begonnen zu bauen, aber dann nicht mehr weitergemacht. Bei vielen Gebäuden war offensichtlich, dass es bereits viele Jahre her sein musste, denn Pflanzen hatten es sich in den Ritzen zwischen den Steinen gemütlich gemacht, und teilweise wurden Zweiräder darin geparkt oder Müll gelagert. Es wunderte ihn nicht, denn auf seinen Reisen hatte er in vielen Ländern miterlebt, wie sonderbar mit Müll umgegangen wurde und dass man von der idyllischen Pracht des blauen Meeres geblendet um die nächste Kurve kam und mit einem Haufen verrostetem Schrott, Kinderwagen, Matratzen und sich um Lebensmittelreste balgenden Katzen kollidierte. Hatte man gerade erst den Rahmen der »deutschen Gründlichkeit« verlassen, war die Diskrepanz noch mal größer, denn dann fiel die Aufmerksamkeit sofort darauf, und es brauchte etwas Zeit, sich daran zu gewöhnen. Ihm war das nie leichtgefallen. So erging es ihm nun auch hier auf der Insel: Er hatte in den wenigen Stunden seines Aufenthalts eine faszinierende Schönheit wahrgenommen, und jetzt sah er eben die Schattenseiten. Unter normalen Umständen wäre das etwas, was er für eine Reportage im Hinterkopf behalten würde, doch sein Auftrag sah anders aus – es ging rein um den romantischen Charme der Insel. Was ihm ebenfalls auffiel, waren die Katzen: Es schien sehr viele davon zu geben, und sie kramten in Gruppen in Mülltonnen, umschlichen die Restaurants und balgten sich um die Müllsäcke in dem leer stehenden Rohbau. Das führte dazu, dass sich das Zeug überall verteilte und den verlotterten Eindruck verstärkte.
Nachdenklich ging er weiter. Hier ging doch gewiss nicht nur er spazieren, sondern viele Touristen. Wieso sorgte man nicht dafür, dass der paradiesische Gesamteindruck erhalten blieb? Oder war das eben immer so, dass sich dort, wo Licht war, eben auch der Schatten befand?
Er schüttelte den Kopf über sich selbst. Konnte er denn diese Gedankenschleifen niemals mehr durchbrechen? Sollte er besser Philosoph werden mit tiefgründigen, kaum für andere verständlichen Sichtweisen? Vielleicht war es ja noch nicht zu spät, seine Geschichte oder besser eine Geschichte, für die die seine Modell stand, zu verfassen und daraus ein Buch zu machen. Doch war es wirklich von Interesse, wie ein Mann an seinem Leben scheiterte und was dazu geführt hatte, dass er plötzlich nicht mehr wusste, wer er war? Nicht etwa, dass er sein Gedächtnis verloren hatte – nein, das nicht! Viele Erschütterungen unterschiedlichster Ausprägung hatten dafür gesorgt, dass er sich verloren hatte. Er hatte schlicht keine Ahnung, ob er sich wiederfinden würde … oder es überhaupt wollte. Kreta war ihm wie der Fingerzeig des Schicksals erschienen. Es bestand aber auch die Möglichkeit, dass sich ebenjenes Schicksal damit laut lachend über ihn lustig machte. In all den Stunden des Grübelns war es ihm nicht in den Sinn gekommen, seine offenen Fragen über eine professionelle Recherche zu klären, was wieder einmal deutlich zeigte, dass der Schuster wie so oft die schlechtesten Leisten hatte.
Seine Spazierrunde neigte sich dem Ende zu. Er bog noch einmal nach rechts ab und befand sich dann in einer Straße mit vielen Häusern, deren Beschilderungen verdeutlichten, dass es sich um Ferienhäuser handelte. Lygaria schien beliebt zu sein, und er konnte es nachvollziehen, obwohl ihm das Dorf selbst nicht so gut gefiel wie die Promenade, die genau richtig für jemanden war, der sich erholen wollte. Es war keine Ballermann-Kopie mit jeder Menge Besoffener und lauter Musik, sondern ganz im Gegenteil durchdrungen von beschaulicher Ruhe. Er wusste, dass es Richtung Osten einige Ortschaften gab, in denen der Fokus auf dem Partyleben lag. Gewiss würde er auf seiner anstehenden Reise über die Insel dort vorbeikommen und sich umschauen.
Nach wenigen Metern hatte er hier jedoch genug gesehen und machte kehrt. Eine wichtige Frage stand zur Klärung an: Wo würde er heute Abend essen und was?