Olympia, 2016
»Das ist wirklich eine Katastrophe, Andrea, und du weißt genau, dass mich so schnell nichts aus der Ruhe bringt!« Olympia spürte, wie sich Besorgnis und Ärger in ihr zu einem knotigen Klumpen formten, der ihr schwer im Magen lag. Ihr Herz stolperte vor Aufregung, und sie legte sich kurz die Hand auf die Brust, um sich durch die Geste ein wenig zu beruhigen, doch es funktionierte nicht. Sie versuchte, etwas bewusster zu atmen, und ertastete ihren Puls am Handgelenk. Er raste holpernd, und das sorgte nicht gerade dafür, dass sie sich besser fühlte. Sie war froh, dass ihr Mann gerade nicht im selben Raum war, sondern nur am Telefon, denn hätte er ihre Gesten gesehen, wäre er aufmerksam geworden, und sie wollte ihm keinesfalls Sorgen bereiten.
Aus dem schönen Hotel am Meer war eine Luxusanlage geworden, die jede Menge Geld abwarf, und das führte dazu, dass sie immer wieder darüber nachdenken mussten, wann welche Neuinvestition erfolgen sollte oder gar musste. Sie hatten sich und den Kindern schöne Häuser finanzieren können, ohne sich darüber Gedanken machen zu müssen. Dann hatte Giorgos die Idee gehabt, aus den guten Kundenbewertungen zu ihren Restaurants in der Anlage Profit zu schlagen und weitere Restaurants zu eröffnen. So waren die beiden Lokale in Agios Nikolaos und Rethymno entstanden, und der Name Oneiro stand seither nicht mehr nur für tolle, besondere Zimmer und Topservice, sondern auch für moderne Fine-Dining-Konzepte. Lange war das auf der Insel undenkbar gewesen, denn die kretische Hausmannskost stand im Vordergrund der Gästeverpflegung in Tavernen. Das Vorhaben hatte sich rasch etabliert, und viele waren ihnen gefolgt. Kurz nach der Eröffnung in Rethymno war der Gebäudeeigentümer auf sie zugekommen und hatte ihnen das Haus angeboten, sodass der großen Anlage in Agios ein schickes kleines Boutiquehotel in Rethymno gefolgt war. Katharina hatte bei der Inneneinrichtung ganze Arbeit geleistet und mit den Mottozimmern etwas Einzigartiges erschaffen. Nicht umsonst hieß die Unternehmensgruppe Oneiro: Traum.
Giorgos hatte sich im Obergeschoss ein modernes exquisites Penthouse gebaut, und dort residierte er, wenn er sich nicht in seinen Glaspalast in den Bergen zurückzog. Das war ein wirklicher Streitpunkt in der Familie gewesen. Natürlich hatten sie Auseinandersetzungen und Herausforderungen zu bewältigen, das blieb nicht aus, wenn zwei starke Brüder etwas gemeinsam aufbauten. Auch Maria und sie hatten oft die Messer wetzen müssen, um sich durchzusetzen, doch dann war die Schwägerin einfach gegangen, und Olympia hatte diese Kämpfe ganz allein bestreiten müssen. Es war kräftezehrend, denn auch wenn Andreas und sie eine von Liebe und Respekt getragene Beziehung pflegten, so konnten sie sich im geschäftlichen Bereich durchaus in die Haare bekommen. Sie fanden stets eine Einigung – keine Frage –, doch oft benötigte es viele Stunden eifriger Diskussionen, und dann galt es ja meist, Giorgos mit ins Boot zu holen. Der Schwager hatte sich immer mehr verändert, je erfolgreicher sie geworden waren. Als müsste er etwas unter Beweis stellen und jedem auf der Insel zeigen, wer er war: dass sich ein armer Junge aus den Bergen zu einem der erfolgreichsten Unternehmer auf der Insel entwickelt hatte. Er war regelrecht süchtig nach dieser Anerkennung. Es war oft schwer, mit ihm zu reden, ohne dem Bedürfnis zu folgen, ihn verprügeln zu wollen. Olympia hatte keines ihrer Kinder je geschlagen, aber bei ihrem Schwager spürte sie diesen Impuls häufig, und zu gern hätte sie ihn zumindest an den Schultern gepackt und kräftig geschüttelt, in der Hoffnung, dass sich dann hinter der statusbezogenen hochnäsigen Maske der Mann von früher zeigte.
»Was können wir tun?«, wollte Andreas wissen, und seine Stimme klang angespannt und müde.
»Wir müssen deeskalieren und verdeutlichen, dass wir zwar für unsere Mitarbeiter verantwortlich sind und bewusst Regeln aufstellen, aber nicht dazu in der Lage sind, sie wirklich von Fehlverhalten abzuhalten. Ich sollte mit der Polizei sprechen. Ich halte das für besser.«
»Ich bin ganz deiner Meinung. Giorgos ist für so ein Gespräch nicht diplomatisch genug, und du kannst das eben sehr gut. Ich glaube, mir fehlen auch die richtigen Worte.«
Andreas klang resigniert. Das konnte sie heraushören. Es war aber auch eine wirklich heikle Geschichte.
»Wir müssen eine Einheit darstellen und von denselben Grundwerten sprechen. Das muss er ebenfalls hinbekommen – auch bei all seinen Angebereien und vor allem seinem … Privatleben.« Sie hüstelte leise, denn seine ständig wechselnden jungen Begleiterinnen waren ihnen allen ein Dorn im Auge. Es ging dabei um Prestige, nicht um Liebe. Sie kannte ihn zu gut und wusste, was ihn mit Maria verbunden hatte. Die wunderschönen Frauen, mit denen er sich nun umgab, hatten Besseres verdient, als einem alternden Reichen als Aushängeschild zu dienen. Auf eine gewisse Art war es peinlich, ihn so zu sehen: dringend bestrebt, zu demonstrieren, wie einflussreich und begehrenswert er noch immer war, obwohl er die siebzig bereits überschritten hatte. Die Brüder waren so unterschiedlich, und das hatte sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten immer deutlicher herausgestellt. Andreas waren Ruhm und Erfolg eher gleichgültig, und sie sorgte dafür, dass er sich neue Bekleidung kaufte, zum Friseur ging und sich immer mal wieder etwas gönnte. Was Giorgos zu viel machte, tat sein Bruder zu wenig. Ähnlich waren auch die Interaktionen im Unternehmen: Andreas krempelte die Ärmel in der Winterzeit hoch, schleppte Eimer durch die Anlage, hievte Gestein auf Schubkarren und arbeitete gern körperlich, hielt sich dafür aber bei allem, was mit Personal oder Verwaltungsaufgaben zu tun hatte, zurück – während Giorgos nur unter Androhung von Katastrophen seine schicken Designerklamotten auszog, um irgendwo Hand anzulegen.
Auch in der aktuellen Situation war zu befürchten, dass er mit diesem sonderbaren Charakterzug, sich irgendwie zu fein für die profanen Dinge zu sein, anecken würde. Sie war zwar nicht von der Insel, lebte nun aber schon fast vierzig Jahre auf Kreta und hatte durch ihre einfühlsame Art rasch verstanden, wie die Menschen hier tickten. Giorgos hatte den Dalaras-Bonus! Denn genauso wie Geschichten über böse Wesenszüge nicht vergessen wurden, so eben auch nicht über die guten Dinge. Die Heldentaten von Elonidas Dalaras wurden nach wie vor erzählt.
»Ich mache mir Sorgen, welches Licht das auf uns wirft.« Andreas fasste in Worte, was auch ihr durch den Kopf ging.
»Es ist nie gut, die Kriminalpolizei im Haus zu haben«, gab sie ihm recht, »aber ich werde mich darum kümmern. Wir haben nichts zu verbergen. Er ist verschwunden, und damit haben wir nichts weiter zu tun, außer dass er hier gearbeitet hat.«
»Seine Frau sieht das anders.«
»Das ist ihr gutes Recht, Andrea. Wenn ich an ihrer Stelle wäre, würde ich auch nach jedem Strohhalm greifen und vor allem jeden Stein umdrehen.« Olympia spürte wieder, wie eng es ihr ums Herz wurde.
»Das würdest du ganz sicher, ja. Du würdest mich auch nicht so einfach aufgeben.«
»Je mehr Giorgos sich hinstellt und überheblich behauptet, der Mann sei einfach ein Schürzenjäger – gerade er sollte das nicht so herauströten –, umso mehr bringt er die Frau gegen uns auf. Er muss jetzt still sein. Dafür musst du sorgen, Andrea! Und mit der Polizei rede ich.« Olympia hatte sich schon über den Kommissar informiert, der um einen Termin gebeten hatte. Hyeronimos Galavakis war durch die Presse und seine Fälle auf der Insel bekannt. Er war wohl irgendwie skurril und eckte leicht an, doch das änderte nichts daran, dass er gut in dem war, was er tat. Sie hatten nichts zu verbergen, aber dass die Mordkommission bei ihnen auf der Matte stand, war aus ihrer Sicht keine gute Publicity für das Oneiro. Es war verzwickt, hierbei alles richtig zu machen.
Der Personalchef der Anlage war verschwunden. Im Unternehmen gab es jede Menge Gerüchte, dass er ein Verhältnis mit einer sehr reichen Ukrainerin angefangen hatte, die rund zwei Wochen zu Gast gewesen war. Sie hatte eine der teuersten Suiten gemietet, fürstlich gespeist und stets extrem hohe Trinkgelder an das Personal verteilt. Zudem hatte sie wohl in vielen Gesprächen einigen Mitarbeitern Angebote gemacht, zu ihr nach Dubai zu kommen – dort lebte sie und betrieb ein florierendes Wellnesszentrum. Dem Masseur Alexandros hatte sie ein Monatsgehalt in Aussicht gestellt, für das er auf Kreta fast vier Monate arbeiten musste. Und sie zahlten im Oneiro schon weit über dem Durchschnitt. Das war sicher verführerisch gewesen – keine Frage. Trotzdem erschien es ihr als sehr respektlos, einem Hotel die Leute abwerben zu wollen. Giorgos hatte den Mann gefeuert, obwohl das nicht in seinen Aufgabenbereich fiel, sondern in ihren. Auf jeden Fall war der Personalchef einige Tage nach der Abreise der Frau nicht mehr zur Arbeit aufgetaucht, und da sie Affären mit Gästen nicht duldeten, erst recht nicht auf der Führungsebene, war ein Rauswurf unumgänglich. Sie hatten sich sehr gestritten, und es waren böse Worte gefallen. Ihr Herz hatte sich dabei angefühlt, als wollte es aus der Brust springen. Sie hatte sich unwohl in ihrer Haut gefühlt, denn sie wollte ihn nicht beschimpfen und auch nicht von ihm beschimpft werden. Sie waren eine Familie und mussten zusammenhalten. Er konnte nicht so schnell wieder zu einem friedlichen Miteinander zurückkehren und war aus ihrer Sicht dabei, sie aus ihrem Verantwortungsbereich zu drängen, denn immer öfter traf er Entscheidungen für sie, ohne sie vorher zu fragen, und versuchte, ihre Aufgaben zu beschneiden. Das hatte auch zu Streit zwischen den Brüdern geführt, und in den letzten Wochen war jede Kommunikation kräftezehrend gewesen.
»Ich dachte, wir kennen Dimitris Zacharakis. Er war so viele Jahre bei uns – da glaubt man zu wissen, mit wem man es zu tun hat. Ich weiß, er hat gern geflirtet, aber dass er Frau und Kinder sitzen lässt und einer Urlaubsromanze hinterherläuft – das hätte ich nicht gedacht.« Andreas drückte sein Unverständnis aus und hörte sich grimmig an.
»Ja, und da nutzt es auch nichts, uns irgendwie den Schwarzen Peter in die Schuhe schieben zu wollen. Wir haben ihn nicht in die Arme einer anderen getrieben. Das war seine ganz persönliche Entscheidung, und wenn ich Alexandros und einigen anderen guten Leuten zuhöre, dann ist die Ukrainerin sehr, sehr reich und Dubai das Paradies auf Erden. Und ein kleines Häuschen auf der Südseite von Kreta mit zwei Kindern und einer Frau, die sich um alles allein kümmern muss, ist im Vergleich dazu vielleicht nicht so attraktiv.« Olympia versuchte, sich in die Verlassene hineinzuversetzen, und es fühlte sich beklemmend an. Die Frau hatte ihren Gatten nach seinem Verschwinden als vermisst gemeldet, und nichts hatte sie davon überzeugen können, dass er einfach abgehauen war. Es musste etwas anderes geschehen sein. Dieses erbitterte Festhalten an einer idealisierten Vorstellung ihres Ehemannes hatte nun die Kriminalpolizei zu ihnen ins Oneiro geführt.
»Ich will Giorgos nicht in der Nähe haben, wenn Galavakis und sein Kollege hier sind. Wenn möglich sollte er nur hinzukommen, wenn die Polizei es für unbedingt erforderlich hält, weil Giorgos derjenige war, der ihn gefeuert hat.« Olympia hatte sich jede Menge Gedanken gemacht, wie es am sinnvollsten war, das ganze Drama aus der Welt zu schaffen, damit wieder Ruhe im Hotelbetrieb einkehren konnte. Die Saison war fast zu Ende, und die Mitarbeiter sollten mit einem guten Gefühl in die Winterpause gehen, um im kommenden Jahr wieder motiviert bei ihnen zu erscheinen. Alles stand und fiel mit dem Personal, und viele Gäste kamen genau deshalb regelmäßig wieder – sie fühlten sich im Oneiro hervorragend betreut, und man sorgte für einen unvergesslichen Aufenthalt. Sie wollte niemandem aus dem Team wegen einer solchen Sache verlieren.
»Ich rede mit ihm«, resignierte Andreas, »er kommt nachher, um mit dem Koch zu diskutieren. Du weißt, wie anstrengend das werden kann. Gott sei Dank sind wir noch im laufenden Betrieb, dann wird er wenigstens nichts nach ihm werfen …«
Sie wusste nur zu gut, wie ihr Schwager sich aufführen konnte, wenn er sich nicht als Herrscher dieses Reiches entsprechend gewürdigt fühlte. Doch der Küchenchef sah sich ebenfalls als eine Art Gott, und das sorgte regelmäßig für ein Kräftemessen. »Wir benötigen den Mann bis zum Ende der Saison. Es sind nur noch vierzehn Tage. Wenn er jetzt hinwirft, haben wir noch ein Problem, das wir nicht brauchen können. Bleib bei ihm und zähme ihn, Andrea. Bitte!«
So geschäftstüchtig Giorgos auch war, so stur und dumm konnte er sich auf der anderen Seite auch verhalten. Er hatte immer gute Ideen – keine Frage, doch auch der Mann mit der weißen Mütze verstand sein Metier hervorragend. Deshalb hatten sie ihn in einem nervenaufreibenden Prozess ausgewählt. In den vergangenen Monaten hatte der Koch bewiesen, wie gut er die Balance zwischen kretischer Tradition und moderner Küche herstellen konnte, indem er die Hausmannskost abwandelte und veredelte. Giorgos hatte auf einem Mitspracherecht an der Karte bestanden, und seitdem zofften die beiden sich regelmäßig. Das Personal tuschelte bereits über die unterschiedlichen Chefs, und jetzt, wo der Fall Zacharakis öffentlichkeitswirksam die Runde machte – denn die Presse hatte sich mit großer Freude auf das Verschwinden des Mannes gestürzt –, gab jeder weitere Skandal, egal, wie groß oder klein er war, neues Futter für die brodelnde Gerüchteküche.
»Ich tue, was ich kann, um ihn zu bremsen. Ich denke, es kann nicht schaden, Elonidas ebenfalls mit ins Boot zu holen.« Ihr gemeinsamer Sohn war nach seinem Studium in die Führung des Hotels in Agios eingestiegen. Rethymno wurde noch von einem Mitarbeiter, den Giorgos ausgesucht hatte, betreut, sollte aber auch über kurz oder lang hauptsächlich vom Familienmanagement geführt werden. Der Plan war, alle Teile der Unternehmensgruppe zentral zu führen, und Elonidas wuchs immer mehr in die Rolle hinein. Er war ein toller und verlässlicher Mann geworden, und darauf konnten sie als Eltern sehr stolz sein, auch wenn Vater und Sohn immer mal wieder aneinandergerieten. Sie hatten ihn auf die besten Unis geschickt, und selbstverständlich war er von dort mit jeder Menge Ideen und Inspirationen zurückgekehrt. Für Andreas war das oft zu abgedreht, und er pflegte dann zu sagen: »Kreta ist nicht Martha’s Vineyard!« Damit wollte er allen Beteiligten klarmachen, dass man trotz aller Entwicklungen mit dem Luxusressort bodenständig bleiben musste. Sein Sohn verzweifelte zwar an dieser Meinung, doch er war hartnäckig und bleib sich treu. Das hatte er von ihr.
Egal, was Giorgos bisher versucht hatte, um sie in die Schranken zu weisen oder ihr die Zügel aus der Hand zu nehmen, sie hatte sich erfolgreich durchgesetzt, weil sie unbeirrt blieb und nicht bereit war, sich zu verbiegen. Ihr lagen die Menschen am Herzen, und deshalb würde sie nun auch die Situation mit der Polizei in die Hand nehmen und deeskalieren, sodass die nächste Saison sauber starten konnte.
»So werden wir es handhaben, Liebster. Ich mache mich jetzt fertig und komme dann in die Anlage. Ich habe den kleinen Besprechungsraum für die Polizei und mich gebucht. Ich brauche in diesem Stadium keinen Anwalt. Da lasse ich nicht mit mir reden.«
»Wir machen es genau so, wie du es geplant hast, Olympia. Ich liebe dich!«
Sie beendeten das Telefonat, und ihr Herz beruhigte sich langsam wieder. Sie sollte dringend einen Termin beim Facharzt machen, aber irgendwie war nie der richtige Zeitpunkt dafür.
Ihr Telefon klingelte, und sie sah Katharinas Nummer. Ihre Tochter hatte Probleme, das war ihr vollkommen bewusst. Sie selbst hatte Lambros nie besonders gemocht, und nun waren zwei Kinder da. Sie unterstützte Katharina in allen Belangen und zu jeder Zeit. Doch jetzt hatte das Geschäftliche Vorrang. Wieder zuckte ihr Herz unangenehm in der Brust, als sie den Anruf ins Leere laufen ließ und Katharina eine kurze Standardnachricht schickte: Ich kann gerade nicht reden. Ein Blick auf die Uhr machte ihr klar, dass sie sich sputen musste, um pünktlich im Oneiro zu sein.