24. Kapitel

Hera, Gegenwart

Sie hatte erneut um eine kurze Pause bitten müssen, denn die Erzählungen ermüdeten sie rasch. Ein kurzes Nickerchen hatte es werden sollen, doch sie war tatsächlich erst nach anderthalb Stunden wieder wach geworden und fühlte sich trotz der langen Zeit nicht ausgeruhter. Es war doch anstrengender als gedacht, über all das zu reden, denn es hörte sich immer so an, als erzählte man ein Märchen oder eine der Göttersagen, von denen es auf der Insel so viele gab. Es konnte auch sein, dass alles nur zufällig geschehen war und ihre Vorfahrinnen aus Schuldgefühlen heraus eine Verbindung zwischen dem Ritual und den darauf folgenden Geschehnissen hergestellt hatten. Doch es waren nicht nur schlimme Dinge passiert. Wobei es auf den Blickwinkel ankam. Dies galt vor allem für ihre eigene Geschichte.

War es falsch gewesen, ihrer Enkelin davon zu erzählen? Hätte sie ihr Wissen besser mit ins Grab nehmen sollen, und so wäre ein für alle Mal Schluss damit gewesen? Ihre Absicht war gut, denn wenn Katharina es richtig machte, würde sie vielleicht ihr Leben in glücklichere Bahnen lenken können. Doch wie Hera es auch drehte und wendete: Am Ende war immer etwas Schlechtes herausgekommen, auch wenn manche daraus resultierende Entwicklung Jahrzehnte gebraucht hatte. Oder sie zog einfach nur die falschen Schlüsse und konnte das Gute in allem nicht mehr sehen. Schließlich war so auch das Unglück über ihre Söhne gekommen, vor allem über Giorgos.

Sie musste Kathi wieder anrufen und weitermachen. Sie hatte damit begonnen und würde es zu Ende führen. Sie hatte auch nie verstanden, warum ihre Söhne und deren Frauen entschieden hatten, die Familiengeschichte nur in Ansätzen weiterzugeben. Sie hatte sich an diese Weisung gehalten und es respektiert, vielleicht auch, weil sie selbst nach dem Tod ihres Mannes eine Form von Erleichterung verspürt hatte. Nicht, dass sie ihn nicht geliebt hatte – denn das hatte sie durchaus. Zumindest hielt sie das, was sie dazu gebracht hatte, mit einem gebrochenen Menschen in einem fremden Land zu leben und ihn bis zu seinem Tod zu begleiten, für Liebe. Wenn sie es aus heutiger Sicht betrachtete, war ihre Entscheidung vollkommen verrückt gewesen, und sie war aufgewühlt, wenn sie daran dachte, was Katharina wohl dazu sagen würde. Giorgos hatte ihr mehr als einmal zu verstehen gegeben, dass sie als Mutter bei ihm durch dieses Handeln an Respekt eingebüßt hatte. Dabei machte die Ehrerbietung den Eltern gegenüber den Zusammenhalt auf Kreta aus und stellte einen wichtigen Teil von Filotimo dar: Der Philosoph Thales von Milet hatte irgendwann – sie erinnerte sich nicht mehr, wann genau, vor 1400 Jahren oder waren es 2400? – gesagt: Filotimo ist für die Griechen wie das Atmen, und ohne Filotimo kann ein Grieche nicht leben. Filotimo war gleichbedeutend mit Stolz, Würde, Mut, Pflicht und Opferbereitschaft, aber auch mit Respekt den Eltern und dem Land gegenüber – und vor allem mit dem Stolz auf das Griechische. Und die Ehre! Darum ging es nur allzu oft. Dann war es nicht etwas, was man für sich allein tat, sondern für die Familie und die Gesellschaft. Deshalb wurden in den Dörfern in den Bergen und in der Sfakia noch heute die Waffen gezückt, denn man konnte es nicht zulassen, dass die Ehre verletzt wurde. Es war nie ihre Absicht gewesen, etwas zu tun, was ihr als ehrlos ausgelegt werden konnte, denn sie hatte für die Heimat und die Gemeinschaft alles geopfert, und dann war Anfang der Sechzigerjahre ihre zweite Chance gekommen. Wenn sie den Ruf ihres Mannes einfach ignoriert hätte und in Anogia geblieben wäre …

»Ach, du dumme alte Frau! Hätte, könnte, würde … Es ist vorbei. Nichts ist mehr zu ändern. Du wolltest eine zweite Chance, hast sie bekommen, und das ist nun das Ergebnis.« Sie schalt sich selbst eine Närrin: Konnte man Ereignisse, die fünfzig Jahre später erfolgt waren, wirklich auf eine einzige Entscheidung zurückführen? Sie drehte sich im Kreis, denn eigentlich hatte alles doch schon viel früher begonnen.

Sie nahm das Telefon zur Hand, setzte sich auf einen Stuhl auf der Terrasse, denn die Luft, die nun schon in Richtung Abend wies, war mild und erfrischend – nicht so brütend und feucht wie noch am Mittag.

»Bist du bereit?«, fragte sie, als Katharina das Gespräch nach dem zweiten Klingeln annahm, und die junge Frau bestätigte die Frage mit einer Stimme, die sich anhörte, als hätte sie gerade geschlafen und wäre durch das Läuten aufgewacht.

»Litsa und Theodoris sind also von ihrem Ausflug wohlbehalten zurückgekommen?«, nahm Katharina den Faden wieder auf.

»Das sind sie. Als sie dort unten waren und Litsa ihrem Traum gefolgt war … Es ist ein einfaches Ritual, und ich werde es dir genauer erklären, doch nun erzähle ich erst einmal, und du hörst zu, als wäre es eine Geschichte, ein Roman. Also Litsa hatte diesen Traum, der immer wiederkehrte: Damit sich ein sehnlicher Herzenswunsch erfüllen konnte, musste sie auf das Meer fahren und einen Stein hineinwerfen.«

»Einen Stein ins Wasser werfen wie in einen Wunschbrunnen?«, unterbrach Katharina ihre Erzählung.

»Ich sagte doch, ich erkläre es dir noch.« Hera war bewusst, dass sie nun leicht genervt klang, doch es war wichtig, erst einmal die Botschaft zu vermitteln, bevor sie genauer ins Erzählen kam. Sie hatte, nachdem sie genügend Deutsch gelernt hatte, begonnen, viele Bücher zu lesen, die solche Mythen und Wunder beleuchteten und zu erklären versuchten. Es gab in fast jeder Kultur den Glauben daran, dass Geschenke die Götter milde stimmten und sich dadurch Wünsche erfüllen konnten. Die Römer hatten ihre Fontana di Trevi. Die Überlieferung besagte, dass jeder, der eine Münze in den Brunnen warf, wieder gesund nach Rom zurückkehrte, wer zwei warf, verliebte sich in einen Römer oder eine Römerin, und warf man drei, standen die Chance auf eine Hochzeit mit ebendieser Person sehr gut. Es war also nicht absurd, an die Erfüllung von Wünschen zu glauben, denn täglich warfen Tausende Menschen weltweit Geld in Brunnen. Mimirs Brunnen aus den nordischen Mythen verlangte von den Suchenden ein Opfer, um ihnen sodann ewige Weisheit zu gewähren. Odin – ein nordischer Gott – hatte sogar ein Auge dafür hergegeben, um eben jene Weisheit zu erhalten, die Zukunft sehen und sogar verstehen zu können, warum Dinge sein mussten. Der Brunnen Mimir sollte sich an den Wurzeln des Weltenbaums Yggdrasil befinden, die ihr Wasser aus ihm zogen.

Menschen und Götter glaubten daran, dass Wasser Magie in sich trug. Litsas Traum war daher nicht vollkommen unerklärlich, auch wenn die junge Frau damals gewiss nichts von anderen Mythen dieser Art gewusst hatte. Wie auch?

Hera erzählte Katharina von diesen Erkenntnissen, und da ihre Enkelin während ihres Studiums in London Ausflüge über die Insel gemacht hatte, hatte sie auch Stonehenge besucht. Der gewaltige Steinkreis im Süden Englands wurde auf 2300 vor Christus datiert und seit jeher als magischer Ort angesehen.

»Stonehenge hat mich damals wirklich sehr nachdenklich gemacht«, gab ihre Enkeltochter zu. »Außerdem war auch ich an der Fontana di Trevi und habe Münzen hineingeworfen.«

»Was hast du dir gewünscht?«, wollte Hera wissen.

»Ich war damals in den Semesterferien in Rom. Ich habe mich dort mit Mama getroffen … Es war … ein schöner Ausflug.« Katharinas Stimme klang mit einem Mal belegt. »Sie hat mich fotografiert, wie ich die Münze werfe, und ich wollte nur das Studium gut bestehen und meine Eltern stolz machen. Dieser Wunsch ist in Erfüllung gegangen.«

Hera erinnerte sich daran, wie Andreas beinahe geplatzt war vor Freude über das gute Prüfungsergebnis seiner Tochter … und mit welcher Begeisterung er und Olympia zu Katharinas Abschlussfeier geflogen waren.

»Es war ein guter Wunsch, mein Kind. Er hat niemandem Schaden zugefügt und war sicher auch klar formuliert. Zudem hast du daran gedacht, den Menschen, die du liebst, damit etwas Gutes zu tun. Besser kann ein Wunsch nicht ausgedrückt werden. Wünsche sollten nämlich nichts Böses in die Welt bringen!«

»Okay«, kam es etwas zögerlich von Katharina.

»Laut den Überlieferungen war Litsas Wunsch damals wohl nicht so klar konzipiert, und so entstand ein Schaden. Ein Unglück. Oder alles war Zufall … Wer weiß das schon!«

»Wie meinst du das? Was hat sie sich gewünscht, und was ist passiert?«

»Wir müssen immer bedenken, dass die Geschichte über Generationen hinweg erzählt wurde, daher ist davon auszugehen, dass vielleicht einiges hinzugedichtet oder auch weggelassen wurde – und wenn es um unglückliche Geschehnisse geht, wird gern übertrieben. Die Familie erzählte sich, dass sie zum Meer gegangen sei, um sich zu wünschen, nicht mehr schwanger zu werden, aber trotzdem weiterhin das intime Zusammensein mit Theodoris genießen zu können.«

»Und sie ist wieder schwanger geworden? War das das Unglück?«

»Nein, mein Kind. Sie wurde wohl erneut schwanger, aber ihr geliebter Mann kam bei einem Jagdunfall ums Leben, und sie verlor das Kind vor Kummer. Sie hat nie mehr geheiratet, obwohl sie noch nicht einmal dreißig war, als sie Witwe wurde. Von dem Kummer hat sie sich auch nicht mehr erholt und blieb bis zu ihrem Tod schwermütig. Sie hat ihrer Tochter Aelia die magische Geschichte erst auf dem Totenbett berichtet – wie eine Art Beichte, denn sie war der Ansicht, den Tod ihres Mannes und des ungeborenen Kindes zu verantworten zu haben.«

»Warum hat sie es dann überhaupt erzählt? Also … wäre es nicht besser gewesen, das Ritual einfach nicht an die nächste Generation weiterzugeben?« Katharina war spürbar irritiert.

Hera rieb sich müde durchs Gesicht. Das Alter machte ihr heute ganz besonders zu schaffen, und sie war viel schneller müde als sonst. Stand Gevatter Tod vielleicht schon vor der Tür und war bereit anzuklopfen? Sie atmete tief durch und unterdrückte ein Seufzen. »Vielleicht hat sie die Macht der Möglichkeiten erkannt und wollte sie ihrer Tochter nicht vorenthalten. Es kann doch sein, dass sie hoffte, Aelia mache keine Fehler und habe dadurch die Chance, sehr glücklich zu werden.«

»Und … wurde sie es?«

»Meine Urgroßmutter Aelia hat auch bis kurz vor ihrem Tod damit gewartet, es ihrer Tochter Garyfallia – meiner Yaya – zu erzählen.«

»Das lief dann wohl nicht so gut, mutmaße ich …«

»Nicht ganz so tragisch wie bei Litsa, aber ja, es lief, wie du es formulierst, nicht so gut. Es war auf eine andere Art verheerend. Litsas Tochter Aelia hat sehr lange gewartet, bis sie die Reise ans Meer angetreten hat. Sie ist 1838 geboren und fast achtzig geworden. Die Osmanen haben unsere Insel erst 1898 aus ihrem Klammergriff freigegeben, und 1889 gab es erneut schlimme bürgerkriegsähnliche Aufstände, denn das bisschen Mitverwaltung, das unseren Vorfahren ab circa 1840 zustand, war eine Farce. Aelia hatte wohl genug damit zu tun gehabt, am Leben zu bleiben und für die Sicherheit ihrer Familie zu sorgen. Sie hat sieben Kinder geboren, und nur drei davon haben überlebt – Garyfallia war ihre einzige lebende Tochter.« Hera musste erneut innehalten. Krieg war etwas Furchtbares, und wenn man um seine Freiheit kämpfen musste und dabei sein Leben ließ oder sah, wie die eigene Familie starb – das war einfach schlimm. Sie hatte jede Facette davon miterlebt und wusste im Gegensatz zu ihrer Enkelin, wie es sich anfühlte, Angst, Hass, Verzweiflung und nagende Schuld zu fühlen. Mal jedes Gefühl einzeln und mal alle zusammen. In so vielen Tagen und Nächten hatte sie mit ihrer Verzweiflung gerungen, ohne es den anderen zu zeigen, damit ihre Familie nicht auseinanderfiel und ihre Söhne nicht auch noch diesen letzten Halt verlieren würden.

»Yara, bist du noch da?«

»Ich bin noch da, Kathi, ich bin noch da.«

»Das strengt dich alles sehr an, oder? Ich weiß, du möchtest es erzählen, aber ich will nicht, dass es dir schlecht dabei geht. Du berichtest jetzt noch kurz weiter, und dann machen wir für heute Schluss. Du musst auf dich achtgeben!«

»So machen wir es. Ich bin tatsächlich … müde. Das Wetter macht mich müde.« Hera wollte nicht, dass die junge Frau sich zu viele Sorgen machte. »Also, zu Aelias Geschichte: Die Besatzer waren tatsächlich Ende des neunzehnten Jahrhunderts fort! Es war wohl so, dass niemand es so recht glauben konnte, denn sie waren rund zweihundertzwanzig Jahre auf der Insel gewesen. So viele Leben, so viel Zeit, so viel Gewalt. Irgendwie hatten die Leute sich im Laufe der Jahre mit der Präsenz des Feindes arrangiert und sie an den guten Tagen sogar beinahe vergessen, doch da die Angst ein immerwährender Begleiter war, war man nie frei. Ich kenne das gut.«

Katharina lauschte und machte hin und wieder zustimmende Geräusche wie »Mh« und »Ah«.

»Prinz Georg von Griechenland war als Hochkommissar für Kreta eingesetzt worden, nachdem die Osmanen weg waren«, fuhr Hera fort, »und er versprach den Menschen auf der Insel eine blühende Zukunft. Die hatten sie aus Sicht meiner Urgroßmutter verdient, auch wenn es in ihrem eigenen Leben mehr Unglück als Glück gab: Sie hatte ihren Mann bereits früh verloren. Er war bei Kämpfen gegen die Türken ums Leben gekommen. Er hatte immer nur die Freiheit Kretas im Sinn gehabt und dafür alles geopfert. Sie hatte einen Großteil ihrer Kinder durch Krankheiten und Hunger an den Tod geben müssen, als diese noch klein und hilflos gewesen waren. Geblieben waren ihr zwei Söhne und die eine Tochter. Garyfallia – meine Großmutter – war schon Ende zwanzig, und hatte es bisher nicht geschafft, länger als ein paar Wochen schwanger zu bleiben. Jedes Mal hatte sie schlimmer geblutet, wenn der Körper das Baby abgestoßen hatte, und beim letzten Verlust hätte Aelia ihre einzige Tochter Garyfallia beinahe verloren. Die junge Frau hatte sehr lange gebraucht, um sich von den Strapazen der erneuten Fehlgeburt zu erholen, und die Amme hatte ihr geraten, das Bett nicht mehr mit ihrem Mann zu teilen. Doch was nutzte es, wenn die Frau sich dazu entschied, der Mann aber sein Recht trotzdem einforderte? Sie wusste, dass er es sich einfach genommen hatte, kaum dass Garyfallia dem Tod von der Schippe gesprungen war. Ihre Tochter brauchte ihr nichts zu erzählen – Aelia konnte es wohl in ihren Augen lesen: So sah eine Frau aus, der Gewalt angetan wurde. Doch entgegen allen Warnungen und Erwartungen war Garyfallia erneut schwanger geworden, und das durch Schändung entstandene Kind blieb! Die Niederkunft stand kurz bevor.

Aelia muss ihren Schwiegersohn Heraklis sehr verabscheut haben. Es muss grauenvoll sein, all das als Mutter mit anzusehen, und doch hatte sie keine Stimme. Frauen durften zwar die Kinder gebären, nähren und großziehen, das Haus sauber halten, die Wäsche unter großen Strapazen reinigen, den Garten bestellen, beim Melken der Herden helfen, Käse machen, Wolle walken und dafür sorgen, dass der Mann im Bett auf seine Kosten kam – aber aufbegehren durften sie nicht.«

»Da hat sich bis heute auch nicht ganz so viel geändert«, unterbrach Katharina ihre Großmutter.

»Garyfallia war verheiratet und dadurch das Eigentum ihres Mannes. Du hast sicher recht, dass da noch viel Luft nach oben ist, aber ihr Frauen habt es heute schon besser als damals um 1900 herum. Und war man erst verheiratet, hörte man die Mutter des Ehemannes an, und Garyfallias Schwiegermutter muss besessen davon gewesen sein, Enkelkinder zu bekommen. Koste es, was es wolle. Aelia war sich sicher, dass diese Frau ihrem Sohn auch schon vorgeschlagen hatte, die nichtsnutzige Garyfallia einfach sterben zu lassen – dann konnte er problemlos eine jüngere, fruchtbarere Frau ehelichen, denn sich aus dem Ehegelübde zu befreien war damals kaum anders möglich.« Hera holte tief Luft und trank einen Schluck Tee. Die Geschichte war umfangreich, doch sie hatte sie begonnen und würde sie nun auch zu Ende erzählen.

»Yara, bitte. Wenn es dich zu sehr belas…«

»Ich erzähle weiter, Kathi. Aelia war sich wohl sicher, dass der Kerl es nach diesem gelungenen Übergriff gewiss nicht dabei belassen würde. Ein Mann musste Kinder zeugen, denn nur so konnte er wirklich seine Männlichkeit unter Beweis stellen. Es war gut, eine große Familie zu haben, um im Alter versorgt zu sein. Aelia hatte unter ihrem eigenen Mann nicht gelitten. Der Tod ihrer Kinder hatte sie jedoch zu jemandem gemacht, der einen tiefen inneren Groll auf Gott verspürte. Sie hatte ihre Mutter Litsa nach dem Tod ihres Vaters Theodoris dahinsiechen und leiden sehen und sich geschworen, nie so sehr zu lieben, dass es so wehtun konnte. Doch es war ihr nicht möglich gewesen, ihre Kinder nicht zu lieben. Ganz im Gegenteil – sie hatte die kleinen Wesen so sehr in ihr Herz geschlossen, dass mit jedem Tod ein Stück aus demselben herausgerissen worden war. Was wohl bedeutete, dass sie mit einem zerfledderten Herzen lebte und ihre ganz besondere Zuneigung dann ihrer einzigen Tochter galt, deren Leid sie nicht ändern konnte. In dieser Zeit muss ihr wohl der Gedanke gekommen sein, dass es da ja dieses verwunschene Ritual gab.

Ihre Mutter hatte ihr kurz vor ihrem Tod davon erzählt und dass die Erfüllung ihres Wunsches Theodoris’ Tod herbeigeführt habe. Aelia hatte wohl – genau wie wir alle – ihre Zweifel daran gehabt: Einerseits erschien es ihr übertrieben, dass eine Fahrt auf den Ozean hinaus mit einigen beschrifteten Steinen im Gepäck und einem Mantra im Kopf so mächtig sein sollte, und andererseits gab es so viele Dinge, die unglaublich und unerklärbar waren, warum dann nicht auch das? Sollte es wirklich möglich sein, sich alles zu wünschen, was einem gerade wichtig erschien, oder waren die Wünsche an etwas gebunden? Auf die passenden Worte kam und kommt es immer an, Kathi.«

Hera driftete in ihren Gedanken ab. Sie erzählte eine Geschichte, aber es war die Geschichte ihrer Vorfahrinnen, und auch wenn die Überlieferungen und die Zeit ganz gewiss einiges verfälscht hatten, so blieb der Kern doch wahr. So wie alles zwei Gesichter hatte, hatte auch dieses Ritual eine dunkle und eine helle Seite: Kopf und Zahl. Alles im Leben verlangte einen Preis – so, wie man dem Fährmann Charon für die Überfahrt in den Hades eine Münze darbieten musste, so musste man eben auch für alles andere zahlen. Mal gab man eine Münze, mal ein Versprechen, mal ein ganzes Leben.

»Was hat sie sich gewünscht? Etwas Schlechtes?«, wollte Katharina ein wenig atemlos wissen.

»Je länger sie darüber nachdachte, umso klarer wurde ihr, was zu tun war. Sie war gewiss kein böser Mensch, doch sie war dazu in der Lage, böse Menschen zu erkennen, und sie hatte nur noch eine Aufgabe in ihrem Leben. Sie musste ihr eigen Fleisch und Blut beschützen«, nahm Hera den Faden wieder auf, obwohl die Müdigkeit in ihren Knochen langsam bleiern wurde. »Sie wusste, dass Garyfallia nicht geholfen sein würde, wenn sie ihren Mann einfach die Treppe hinabwarf. Doch das Ritual war ihr wohl einen Versuch wert. Sie wusste, dass sie genau überlegen musste, was sie sich wünschen wollte. Es durfte ja nichts Falsches sein. Sie besuchte ihre Tochter jeden Tag, und Aelia war klar, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb. Sie musste den Wunsch formulieren und aufmalen, das Mantra ableiten und zum Meer reisen. Dort musste sie dann ja auch noch einen Fischer finden, der sie mit hinausnahm. Und schließlich musste sie zurück sein, bevor die Geburt begann, denn ihr war klar, dass sie auf ihre Tochter und ihr Enkelkind aufpassen musste. Aelia war entschlossen, nicht zuzulassen, dass dieser Mann ihre Tochter zum Zuchttier machte, das er durch Schläge gefügig hielt, denn Garyfallia würde das nicht überleben. Als der Händler dann das nächste Mal ins Dorf kam, bot sie ihm einige Stoffe an, die sie selbst gewebt hatte, und er nahm sie tatsächlich mit hinunter ans Meer. Sie fand auch einen Fischer, der sie hinausfuhr. Weißt du, wie der Wortlaut des Mantras lautete?« Hera schüttelte kurz den Kopf über die Tatsache, wie sicher sich ihre Mutter bei ihrer Erzählung über den Wortlaut gewesen sein musste. »Nimm seine Hände und die Kraft hinweg, mit der er jeden Tag böse Taten verübt. Mein Kind sei beschützt. Das Kind meines Kindes sei beschützt, doch seinen Tod will ich nicht verantworten!« Aelia kehrte wohlbehalten vom Meer zurück. Garyfallia ging es nicht gut, und Aelia hasste ihren Schwiegersohn umso mehr, da auch die Schwangerschaft ihn nicht davon abzuhalten schien, seine Frau zu quälen. Dann geschah es, er stürzte bei einer Reparatur am Haus unglücklich vom Dach und war im Anschluss vollkommen gelähmt. Aelia war davon überzeugt, dass das auf ihren Wunsch zurückzuführen war, denn nun konnte der Mann ihrer Tochter nichts Böses mehr antun.

»Glaubst du wirklich daran, oder sind das alles nicht eher Zufälle und die Frauen schreiben es ihren Gedanken zu, weil … na ja … weil Frauen sich eben schnell für alles verantwortlich und schuldig fühlen?«

Katharina klang aufgebracht, und Hera war am Ende ihrer Kräfte angelangt.

»Ich weiß es nicht, Kathi, nicht wirklich. Es sind sonderbare Zufälle, die sich in unserer Vergangenheit gemehrt haben, und das stimmt mich nachdenklich. Aber … jetzt … jetzt muss ich mich wirklich hinlegen.«

»Entschuldige, Yara. Es tut mir leid. Bitte ruh dich aus und … Wir müssen das nicht fortführen, wenn es dich zu viel Kraft kostet.«

»Schon gut, mein Kind. Ich war es, die es erzählen wollte … Wir machen weiter. Doch erst muss ich Kraft tanken.« Hera beendete das Gespräch, strich sich müde durchs Gesicht und spürte erneut, wie sehr ihre Lebensenergie nach dem Tod ihrer Söhne gelitten hatte. Kathi hatte die Geschichte verdient, und vielleicht hatten die Frauen in ihrer Familie doch eine magische Macht, und sie saßen nicht nur einer wilden Ansammlung fantastischer Geschichten auf.