Hannelore, 1968
Sabine war immer eine gute Schülerin gewesen, und Hannelore hatte es sich von ganzem Herzen gewünscht, dass das Mädchen an die Universität gehen würde, um Medizin zu studieren. Doch Sabine wollte nicht. Ihre Argumente waren nachvollziehbar, denn sie hatte herausgefunden, dass auf einhundert Studentenungefähr fünf Frauen kamen. Es konnte also durchaus sein, an der gewählten Universität die einzige Frau im Studiengang zu sein.
»Ich will mich nicht immer wie ein dummes, zartbesaitetes Weibchen behandeln lassen«, hatte sie aufgeregt hervorgestoßen und darauf beharrt, dass die Männer sie schrecklich behandeln würden.
Damit lag sie sicher auch nicht vollkommen verkehrt, doch Hannelore sah ihre Tochter in ihren Träumen mit einem wehenden weißen Kittel und einem Stethoskop um den Hals durch die Gänge eines Klinikums eilen, während ihr eine Gruppe Assistenten ehrfürchtig und mit Abstand folgte.
»Wenn keine Frau sich traut, dann wird es für immer so bleiben.« Hannelore hatte von ihrer Mutter gelernt, dass man sich seine Träume erfüllen musste. Schließlich war diese mit ihrem zweiten Mann nach Amerika gegangen, und das war wohl eine sehr mutige und bewundernswerte Entscheidung gewesen – auch wenn Hannelore darunter gelitten hatte, ihre Mutter nicht mehr in ihrer Nähe zu haben. Amerika war unerreichbar für sie, denn Janni und sie verdienten zwar ein recht anständiges monatliches Salär, doch es reichte eben für die normalen Dinge und auch mal für einen kleinen Ausflug in den Odenwald, aber nicht für einen Flug nach Amerika für drei Personen. Janni sagte zwar immer, er würde sowieso nicht mitkommen und Sabine und sie sollten es nur allein machen, doch es war einfach nie genügend Geld da, um tatsächlich in die Staaten zu reisen. Sabine brauchte regelmäßig anständige Kleidung, da die Mädchen heutzutage jede Menge modischer Ansprüche hatten, und es war ihnen wichtig, dass ihre Tochter mit den anderen mithalten konnte. Hannelore hatte zudem den Führerschein gemacht und immer wieder Geld beiseitegelegt, damit auch Sabine ihn machen konnte – und der VW Käfer hatte ebenfalls eine Stange Geld gekostet. Sabine war wirklich ihr ganzer Stolz, aber direkt danach kam der dunkelblaue Wagen. Sie fühlte sich großartig, wenn sie mit ihm zum Einkaufen fuhr oder auf dem Parkplatz vor der Fabrik auf Janni wartete, wenn sie ihn von der Spätschicht abholte. Es war nicht vielen Frauen vergönnt, Auto zu fahren und sogar ein eigenes zu haben. Martha – mit ihr war Hannelore nach wie vor befreundet – hatte es bei Weitem nicht so gut getroffen. Sie hatte einen Kriegsheimkehrer geheiratet, der mittlerweile mehr Korn als Wasser trank, da er häufig nachts aufwachte und glaubte, wieder auf dem Schlachtfeld zu sein. Das machte ihn zu einem sehr kranken Mann, und das sah man auch. Er wirkte alt und verhärmt, obwohl er sogar noch zwei Jahre jünger als Janni war.
Ihr Janni hingegen war ein wirklich stattlicher Mann, und jetzt mit fünfzig durchzogen an manchen Stellen silberne Fäden sein dunkles, welliges Haar, was ihn sogar noch attraktiver machte. Die Frauen schauten ihm gern nach, doch Janni hatte nach wie vor nur Augen für sie. Hannelore war sehr zufrieden damit, auch wenn sie noch immer ein wenig damit haderte, dass sie weiterhin in wilder Ehe zusammenlebten. Die Zeiten waren zwar lockerer geworden, doch im Randbezirk von Offenbach war es nach wie vor noch vollkommen normal, dass Paare sich trauen ließen, um das Zusammenleben auch von offizieller Seite bestätigt zu haben. Sie hatte es hie und da angesprochen, doch er blieb, was das anging, unnachgiebig. Er war ein liebevoller Vater und ein aufmerksamer Ehemann, sie konnte sich nicht beklagen. Also gab sie immer wieder nach und beharrte nicht auf der Heirat, auch wenn sie dem Argument nicht folgen konnte, dass seine erste Ehe ja mit dem grauenvollen Tod seiner Frau geendet habe und ihn dies immer noch belaste. Das musste doch irgendwann verarbeitet sein … Schließlich waren sie bereits rund zwei Jahrzehnte ein Paar. Ebenso kategorisch lehnte er es ab, herauszufinden, wie es den Menschen in der Heimat ging, die er noch kannte und von denen einige gewiss noch lebten.
Sie war mit ihrem Umfeld mittlerweile stark verbunden, dazu hatte auch die ehrenamtliche Hilfe, die sie lange Zeit geleistet hatte, beigetragen. Sie war ein Teil der Gemeinschaft, hatte damit aufgehört, sich immer wieder vorzustellen, was die Leute über sie denken könnten, und die Menschen schätzten sie tatsächlich sehr, denn sie wurde überall eingeladen und auch gern um Rat gefragt. Janni war ebenfalls durchaus beliebt, doch er zog sich oft zurück, war eher still und beobachtend und nicht der Partytyp. Aber wenn er mal aus sich herauskam, hatte er eine wundervolle Singstimme und ein ansteckendes Lachen.
»Mama?«
Sabines Stimme klang fragend, und Hannelore rief: »Ja, ich bin in der Waschküche.«
Das langbeinige Mädchen kam in den Raum, in dem eine Badewanne stand und in dem die Wäsche gewaschen und auf den Leinen getrocknet wurde. Sie lehnte sich in den Türrahmen und schaute ihre Mutter mit einem Lächeln an. »Darf ich mit Marion und Käthe am Samstag nach Frankfurt fahren? Wir wollen auf der Zeil ins Kaufhaus gehen.«
»Hat das denn wieder offen?« Hannelore war kurz irritiert, denn im Frühjahr hatten der Kaufhof und ein weiteres Kaufhaus gebrannt. Die Brände waren zwar schnell gelöscht worden, aber das Wasser hatte den Waren und Gebäuden doch sehr geschadet.
»Der Kaufhof eröffnet wieder, deshalb wollen wir ja gern hin. Die haben bestimmt tolle Angebote und Schnäppchen. Ich wünsche mir eine geblümte Bluse und … Darf ich mir Schuhe mit Absatz kaufen?«
Hannelore schaute zu ihrer hübschen Tochter. Das braune Haar hatte sie von Janni, die Locken von ihr, und auch seine dunklen Augen leuchteten aus ihrem Gesicht. Sie war schlank und hatte lange Beine. Wären hohe Schuhe da das Richtige? Sie wollte dem Mädchen Selbstbewusstsein mitgeben und ihr auch Freiheiten gewähren, gleichzeitig aber ein Auge auf sie haben. Janni legte ebenfalls Wert darauf, dass Sabine nicht zu sexy gekleidet war und nicht zu spät am Abend nach Hause kam. Sie war sein Augenstern, und er machte das immer wieder mit vielen Aussagen deutlich. »Mein Mädchen muss gesund und munter bleiben. Meinem Mädchen darf nichts passieren, das würde ich nicht verkraften. Mein Mädchen …!« Das war sie wirklich: sein Mädchen. Er sprach mittlerweile hervorragend Deutsch und konnte seine Empfindungen gut ausdrücken. Er hatte eine tiefe Bindung zu Sabine – das konnte jeder sehen, und er machte nie einen Hehl daraus. Hannelore kannte auch andere Familiengeschichten und Vater-Tochter-Beziehungen. Viele davon waren ausgesprochen kompliziert und mit jeder Menge Ärger verbunden. Natürlich gab es auch bei ihnen mal Streit, aber der ging stets rasch vorbei. Janni hatte Temperament und Sabine ebenfalls, da war es vollkommen normal, dass man auch einmal aneinandergeriet. Doch ihr Papa konnte ihr nie lange böse sein, und Sabine ertrug es ebenfalls nur kurze Zeit, mit ihm zu grollen – dann waren sie wieder ein Herz und eine Seele.
Hannelore war dankbar für einen Mann an ihrer Seite, der ein guter Vater war. Sie hatte so lange gehofft, ihr eigener Papa würde eines Tages doch noch vor der Tür stehen und sie in die Arme schließen. Man hatte viele Geschichten über die Spätheimkehrer gehört, und Josef Martin Bauer hatte sogar ein Buch darüber geschrieben. Hannelore hatte So weit die Füße tragen geradezu verschlungen und den Glauben erst vor ein paar Jahren verloren, ihren Vater lebend wiederzusehen. Es war schwer für sie gewesen, seinen Tod zu akzeptieren, ohne einen Beweis dafür in der Hand zu haben – und auch kein Grab, zu dem sie gehen konnte, um um ihn zu trauern. Er war einfach weg. Niemanden kümmerte es so viele Jahre nach Kriegsende mehr, was aus den Verschollenen geworden war. Man sprach von geheimen Massengräbern, in die die Russen die Deutschen geworfen hätten, um sie dort mit Maschinengewehren hinzurichten, und angeblich wusste niemand, wo sich diese befanden. Sie hatte oft bei den Behörden angeklopft, denn schließlich kannte sie ja viele persönlich durch ihre ehrenamtliche Arbeit, doch man hatte nur hohle Worte für sie gehabt, und all das konnte ihr keinen Trost spenden. Auch wenn sie heute geneigt war, seinen Tod als gegeben hinzunehmen, so gab es doch noch immer das Kind in ihr, das sich seinen Papa zurückwünschte.
Sie stellte den Wäschekorb zwischen sich und Sabine, reichte ihr die Klammern und hielt eine frisch gewaschene Hose an die Leine. Ihre Tochter ging ihr rasch zur Hand, und sie arbeiteten lächelnd miteinander. »Über die Schuhe reden wir noch; wenn sie nicht zu hoch sind und einen durchgehenden Korkabsatz haben, dann können Papa und ich uns bestimmt mit dir einigen … Eine Bluse mit Blumenmuster finde ich wunderbar, und ich würde es noch wunderbarer finden, wenn du dein Licht nicht unter den Scheffel stellst und studierst, Biene.«
»Och, Mami, bitte fang nicht wieder damit an!« Sabine zog eine Schnute und klippte Jannis Hemd fest, das sie ihr hinhielt.
Hannelore legte ihr die Hand auf die Wange. »Du bist so klug und kannst alles werden, was du willst. Die Zeiten ändern sich, und ihr Mädchen von heute müsst euch durchsetzen.«
Sabine wiegte den Kopf zögerlich hin und her. »Ich verstehe deinen Standpunkt, doch es wird ein jahrelanger Kampf für mich. Willst du das wirklich? Und die Frage ist doch: Bekomme ich nachher auch sicher eine gute Anstellung, und wenn ja, wird es immer so sein, dass ich mich doppelt beweisen muss, weil ich eine Frau bin?!«
»Das mag sein. Aber Krankenschwester, Biene? Wirklich? Ist das die Alternative? Gewiss ärgerst du dich eines Tages über die vergebene Chance.«
»Ich will mal eine Familie haben und so glücklich sein wie du und Papa« – das Mädchen blickte ihr dabei offen in die Augen –, »und dann kann ich bestimmt nicht als Ärztin arbeiten, aber stundenweise als Krankenschwester wird sicher gehen.«
Hannelore nickte, obwohl sie keineswegs überzeugt war. Zudem wusste sie, wie schwer es war, eine gute Beziehung zu führen, und wie viel Glück sie hatte. Wenn Marthas Mann einen seiner Wutanfälle hatte oder zu viel trank, war es möglich, dass er sie auch mal schlug. Im Nachhinein war er stets voller Reue, doch das änderte ja nichts an der Tatsache, dass sich die Freundin an die Gewalt gewöhnt hatte, weil ihr klar war, dass es derzeit keinen Ausweg für sie gab. Martha war katholisch, und eine Scheidung kam nicht infrage, gleichzeitig war am Ende immer die Frau schuld, und einen Kriegsheimkehrer anzuschwärzen war sicher keine Lösung. Auch wenn man immer mehr versuchte, sich von den grauenvollen Taten des NS-Regimes zu distanzieren, so waren die Männer, die man an die Front geschickt hatte, meist ebenfalls nur Opfer. Einen Mann zu finden, der nicht die Hand gegen seine Frau erhob, ihr erlaubte zu arbeiten – und der ein liebevoller Vater war –, schien wie die Suche nach dem Heiligen Gral. Wenn man nicht verheiratet war, konnte der Mann einem nichts verbieten. Hannelore empfand diese Regelung als vollkommen widersinnig. Es war doch gut, wenn beide Geld verdienten und man sich dadurch mehr leisten konnte. Doch so viele Männer bestanden darauf, dass die Frau zu Hause blieb, die Kinder versorgte und den Haushalt erledigte. Selbst dann, wenn die Kinder bereits zur Schule gingen oder schon groß waren. Sie hatte von ihrer Mutter gelernt, wie wichtig es war, eine Aufgabe außerhalb der Hausarbeit zu haben, und Janni hatte das tatsächlich nie gestört oder es gar verboten. Er war ein ganz besonderes Exemplar Mann, und Sabine würde es gewiss nicht leichtfallen, jemanden wie ihn zu finden.
»Natürlich freue ich mich auch auf Enkelkinder, aber du bist noch so jung, und vielleicht kannst du – wenn ich es schaffe, genug zu sparen – zu deiner Oma in die USA fliegen und eine Zeit lang dortbleiben und dir anschauen, wie fortschrittlich die Medizin in Amerika ist.«
»Mami, wieso müssen eigentlich deine Träume auch meine sein?« Das Mädchen hörte sich nun leicht verärgert an.
»Weil es immer die Mütter sind, die sich mehr für ihre Töchter erträumen. Weil es immer die Eltern sind, die wollen, dass es ihren Kindern gut geht oder eben besser als ihnen selbst.«
»Aber es ist doch mein Leben«, begehrte Sabine nun auf.
Hannelore wollte nicht mit ihr streiten, sie hoffte immer wieder, dass ihr steter Tropfen den Stein höhlte und Sabine irgendwann begriff, dass sie recht hatte. »Natürlich ist es das, mein Schatz«, gab sie daher beschwichtigend nach und beließ es dabei.
Sabine lehnte sich wieder in die Tür. Der Trotz war ihr noch ins Gesicht geschrieben, das so oft eine Mischung aus Kind und Frau zeigte. Sie war so schnell herangewachsen, und nun wurde sie flügge. Wie viele Mütter hätten ihrer Tochter wohl verboten, mit einem Ausländer, über dessen Herkunft man kaum etwas wusste, in wilder Ehe zu leben und sogar ein Kind zu zeugen? Sie hatte es gut gehabt mit ihrer Mutter. Sicher auch, weil diese mit dem Amerikaner weggezogen war, ohne mit ihm verheiratet zu sein – da konnte sie das eigene Kind ja nicht für eine ähnliche Verhaltensweise verurteilen.
»Wir essen gleich. Ich hole Papa noch von der Fabrik ab. Der Auflauf ist bereits fertig, und den Salat müssen wir nur noch mit der Soße mischen. Willst du mitkommen oder lieber den Tisch decken, bis wir zurück sind?«
Sabine beruhigte sich so schnell, wie sie sauer geworden war, und sagte lächelnd: »Ich komme gern mit. Papa freut sich dann immer so.«
Hannelore hakte sich bei dem Mädchen unter, und gemeinsam gingen sie durchs Haus. Es war ein gutes Leben, und sie würde darauf achten, dass Sabine das Beste aus ihrem machte. Auch Janni wünschte sich insgeheim, sie als Ärztin zu sehen. »Mein Mädchen … eine Frau Doktor!« Aber bei diesem Wunsch blieb es auch, er war zu nachgiebig, um Forderungen zu stellen. Meist setzte sie sich bei drohenden Diskussionen einfach zu ihm auf die Sesselkante, legte den Arm um ihn, und er schmolz dahin wie ein Stück Butter in der Sonne.
So trug sie allein die Verantwortung, das Mädchen anzuspornen. Es war auf jeden Fall mehr drin, als als Krankenschwester Bettpfannen zu leeren – das war vollkommen klar. Und wenn es nicht das Medizinstudium sein sollte, würde sich gewiss ein anderer Studiengang finden, in dem es mehr Frauen gab. Sie würde sich in der Bibliothek einmal schlaumachen oder einen Ausflug an die Universität nach Frankfurt unternehmen, um dort mehr in Erfahrung zu bringen. Zufrieden saßen sie kurz darauf in dem hübschen Käfer, und die Unstimmigkeit verflog mehr und mehr, je näher sie der Fabrik kamen. Sie waren eben eine glückliche Familie, in der man Dinge offen ansprach.