29. Kapitel

Olympia, 2016

Galavakis war anstrengend. Dieser Kommissar hatte eine sonderbare Art an sich, und sein Blick wirkte so, als könnte er in sie hineinschauen. Sie hatte alle Fragen wahrheitsgemäß beantwortet, und damit war von ihrer Seite aus alles getan, um einen Beitrag zur Aufklärung des Verbleibs von Dimitris Zacharakis zu leisten. Sie verstand durchaus, dass die Polizei Hinweisen nachgehen musste, doch sie als Arbeitgeber hatten regelkonform gehandelt und den Mann zu Recht entlassen. Ein Personalchef musste nun einmal mit gutem Beispiel vorangehen. Tat er dies nicht, würden auch die Mitarbeiter bald in den Zimmern der Gäste zu finden sein. Das war nicht tolerabel.

»Sind Sie sicher, dass die Beziehung zwischen Ihrem Mitarbeiter und dem weiblichen Gast so intensiv war, dass er für diese Frau das Land verlassen würde?«, wollte er nun noch wissen.

»Herr Galavaki …« Sie fühlte sich plötzlich unwohl in ihrem Körper. »…ich kann nicht sagen, wie intim die beiden miteinander waren. Wie ich Ihnen bereits erklärt habe, war die Dame nicht zum ersten Mal hier, und die beiden wurden in seinem Auto gesehen, wie sie einander intensiv küssten.« Sie wurde müde und verspürte das Bedürfnis, aufzustehen, den Raum zu verlassen und sich hinzulegen. Doch es war ihre Aufgabe, »den Esel aus dem Dickicht zu befreien« und die Situation zu deeskalieren.

»Giorgos Dalaras … Ihr Schwager«, wieder dieser durchdringende Blick des Kommissars gepaart mit einer sonderbar anmutenden kühlen Distanz, »soll sehr wütend geworden sein. Ist das richtig?«

»Wir sind alle nicht erfreut über Vorfälle dieser Art mitten in der Saison, und gerade Managementpositionen sind in diesem Zeitraum sehr schwer nachzubesetzen.« Sie blieb weiterhin diplomatisch, auch wenn ihr vollkommen klar war, dass Giorgos regelmäßig die Grenzen überschritt und es nicht zu entschuldigen war, wenn er zum Beispiel mit einem Stuhl nach dem Küchenchef warf, weil dieser sich wie eine Diva benahm.

»Es stimmt also nicht, dass er …« Der Kommissar dachte einen Augenblick nach. »…stinksauer Verwünschungen ausgestoßen hat, die auch Prügel nicht ausgeschlossen haben?«

»Mein Schwager ist ein Mann mit Temperament, und er kommt ebenso schnell wieder auf den Boden der Tatsachen zurück, wie er sie verlässt.« Das war eine sehr freie Interpretation der Wahrheit, denn wenn Giorgos sauer war, hatten sie alle jede Menge damit zu tun, hinter ihm aufzuräumen und die Wogen wieder zu glätten, doch das ging die Polizei nichts an. Das war Familiensache!

Es ging noch eine Weile so hin und her, bis Galavakis zufrieden schien und sich höflich von ihr verabschiedete. Er war kein unangenehmer Zeitgenosse, aber ein sonderbarer.

Sie fühlte sich so geschafft, als hätte sie einen langen Marsch hinter sich, und auf der Fahrt vom Hotel nach Hause war sie derartig langsam unterwegs, dass sogar ein Fahrradfahrer sie überholte.

Sie hatte sich ein Glas Wasser eingeschenkt, es durstig getrunken, doch es war, als läge ein Druck auf ihrer Speiseröhre, und der Brustkorb schmerzte beim Trinken. Sie legte die Hand auf das Dekolleté, um eine Art Gegendruck zu erwirken, fühlte sich aber weiterhin schwach. Was war nur los mit ihr – war sie mittlerweile einfach zu alt für den ganzen Stress, den es bedeutete, ein Unternehmen dieser Größe durch gute und schlechte Zeiten zu geleiten?

Nachdem Maria ihren Mann verlassen hatte, hatte sie das Gefühl gehabt, dass Giorgos sich gegen sie wandte, und es war nicht nur beim Gefühl geblieben. Auch Andreas war es aufgefallen, doch sie hatten anfangs beide noch gehofft, dass er sich wieder einkriegen würde, aber stattdessen war er ganz offiziell zu einer Art Lebemann und Sugardaddy mutiert. Sie hatte sich für ihn geschämt, das hatte er bemerkt und von da an ganz offen gegen sie geschossen. Er hatte jede ihrer Entscheidungen hinterfragt und sie teilweise sogar revidiert. Das hatte überall für Unruhe gesorgt, und die Mitarbeiter hatten begonnen, sich unsicher zu fühlen. Es hatte vieler Gespräche bedurft, ihn dazu zu bringen, ihre Position im Unternehmen weiterhin zu respektieren. Er hatte sich einfach verändert – oder er war schon immer so gewesen, und sie hatten es nicht gesehen oder gar wahrhaben wollen. Maria hatte ihr furchtbar gefehlt, und es hatte Jahre gedauert, bis sie einander wieder das geworden waren, was sie vor der Trennung gewesen waren: Herzensschwestern.

Die unendlichen Diskussionen mit Giorgos, bei denen er sich despotisch und rechthaberisch aufführte, hatten auch die Brüder immer mehr voneinander entfernt. Selbst Hera hatte ihre Söhne regelmäßig wie Kleinkinder geschimpft. Olympia hatte nie vorgehabt, zu denen zu gehören, die immer zurückschauten und »Früher war alles besser« skandierten – doch es war tatsächlich so gewesen: In den Anfangsjahren hatte sie alle eine besondere Energie umgeben, und sie waren zu viert gänzlich unschlagbar gewesen. Sie hatten etwas Außergewöhnliches gemeinsam gewagt und … gewonnen.

Die Jahre waren dahingeflogen, und der Streit zwischen Maria und Giorgos hatte sie zu dritt zurückgelassen, ohne dass sie ein Trio hatten werden können. All das hatte an ihr gezehrt, zudem hatte es umso mehr zu beachten gegeben, je mehr das Unternehmen gewachsen war. Sie hatten zwar an jeder Stelle professionelle Manager und Berater eingesetzt, aber man sah ja, dass es immer etwas geben konnte, was sich der eigenen Wahrnehmung entzog – egal, wie gut sich der Lebenslauf der Mitarbeiter auch las.

Andreas und sie hatten bei aller harten Arbeit an ihrer Beziehung auch eine Portion Glück gehabt, denn immer, wenn sich einer von ihnen nicht wohlgefühlt oder etwas auf dem Herzen getragen hatte, hatte der andere es gespürt und dem Raum gegeben. So waren sie ein Paar geblieben, das einander in tiefer Liebe verbunden war und die Fehler des anderen tolerierte. Liebe war die Grundlage von allem. Nur deshalb hatte sie das, was Andreas ihr aus seinem Leben vor ihrer gemeinsamen Zeit berichtet hatte, verstehen können. Er war kein Waisenknabe gewesen, und seine Jahre als DJ in der heutigen Hauptstadt von Deutschland hatte ihm viele weibliche Fans eingebracht. Mit manchen hatte er Sex gehabt, manche hatten für eine gewisse Zeit sein Leben geteilt. Er war der glutäugige Grieche mit dem sexy Dialekt gewesen – sie verstand das alles gut, und doch waren ihm im Rausch dieser Lebensweise viele Dinge einfach entglitten, und er hatte diesen Rausch auch hin und wieder durch Substanzen vertieft, was er heute zutiefst bereute.

Die Brüder Dalaras hatten als Kinder zu Wutausbrüchen und Gewalt geneigt, was aber ihrer Lebenssituation zuzuschreiben war, denn in den Bergdörfern hatten die Menschen während des Zweiten Weltkriegs furchtbare Dinge durchlebt, und das war selbstverständlich auch an den Kindern nicht spurlos vorübergegangen. Dass der Vater der beiden ein von den Deutschen deportierter Freiheitskämpfer war, war erschwerend hinzugekommen. Der Feind hatte ihn nach dem Verrat eines Nachbarn aus seinem Versteck gezerrt, ihn übel zugerichtet und dann hinter einem Jeep an einem Seil durch das Dorf geschleift. Andreas war damals zwei gewesen, Giorgos noch ein Baby – doch wer konnte schon wissen, wie sie diese Situation erlebt hatten, denn schließlich war da ja ihre Mutter gewesen, die darunter gewiss furchtbar gelitten hatte. Hera hatte zudem ihre eigene Mutter unter grausamsten Bedingungen verloren – die Deutschen hatte sie bei lebendigem Leibe verbrannt.

Olympia mochte sich nicht vorstellen, wie es gewesen war, unter solchen Bedingungen zu existieren. Wie musste das Klima im Dorf auch in den Jahren des Wiederaufbaus gewesen sein, und über welche schier unmenschlichen Kräfte mussten die Frauen damals verfügt haben, um das alles leisten zu können? Da war es wohl nicht verwunderlich, dass sie sich eine Schutzschicht hatten zulegen müssen, um zu überleben. Doch für die Kinder, die in diesen Zeiten aufwuchsen, war das ebenfalls grausam gewesen – sie hätten umso mehr Liebe und Zuwendung gebraucht, um mit all dem Leid und Elend umgehen zu können. Stattdessen hatten sie versuchen müssen, selbst mit allem zurechtzukommen. Heutzutage gab es Psychologen, mit denen man sprechen konnte, hatte man etwas Furchtbares erlebt. Doch damals hatte jeder Mensch irgendwie versucht, zu vergessen und das Beste aus dem zu machen, was noch da war.

Sie presste sich erneut die Hand auf den Brustkorb, damit das Gefühl nicht mehr so druckvoll war. Sie ging langsam zum Sofa und legte sich hin. Rasch schickte sie Andreas eine Nachricht über den Verlauf des Gesprächs mit dem Kommissar und informierte ihn darüber, dass sie sich etwas ausruhte.

Sie hatte vor ein paar Jahren wieder begonnen, sich mit Maria zu treffen, und das tat ihr gut, denn egal, wie eng ihre Beziehung zu Andreas war, mit einer Freundin oder Schwester über manches zu reden, war doch anders. Anfangs war Giorgos oft noch Thema gewesen – aber auch nur, weil Maria es so gewollt hatte. Olympia hätte nie von sich aus damit angefangen. Auch wenn die beiden schon seit Beginn des neuen Jahrtausends getrennt waren, war Maria durch die Söhne und vielen gemeinsamen Bekannten doch immer wieder mit ihrem Ex-Mann konfrontiert worden. Die Leute redeten und hatten wenig Feingefühl – vielleicht auch, weil sie glaubten, Maria sollte das alles nicht mehr berühren. Doch Maria war regelmäßig erschüttert über die Leute in ihrem Umfeld und das lästerliche Geschwätz. Also sprachen sie über das, was sie bewegte, und kamen eben auch oft auf die harte Kindheit der Brüder zurück und wie sie das geprägt hatte – jeden auf seine Weise.

Sie wollte jetzt nicht weiter darüber nachdenken und fragte sich, wie sie überhaupt darauf gekommen war, denn das Grübeln sorgte nicht dafür, sich besser zu fühlen – ganz im Gegenteil: Ein Gedanke ergab den anderen, und alle Probleme wurden zu dunklen Riesen.

»Es geht uns gut«, sagte sie beruhigend zu sich selbst. Sie waren alle gesund und sehr gut abgesichert.

Das Handy blinkte, und eine Nachricht von Andreas erschien auf dem Display: Das lief doch dann recht gut. Hoffentlich ist es damit für uns erledigt! Ruh dich aus, Liebste, ich bringe Essen aus dem Oneiro mit, und wir machen es uns nachher gemütlich.

Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht. Der Abend würde schön werden – leckeres Essen, ein gutes Glas Wein, auf seinem Schoß ihre Füße, von seinen Händen sanft massiert … Mit diesem glücklichen Gedanken, der alles andere in den Hintergrund drängte, schlief sie erschöpft von einer Minute auf die andere ein.