30. Kapitel

Garyfallia, 1912

Ihre schweren Zeiten hatten vor acht Jahren ein Ende gefunden. Ihr Mann Heraklis war gestorben. Der Sturz damals, kurz vor Aeliakis Geburt, hatte ihn gelähmt. Er war viele Wochen lang gar nicht dazu in der Lage, auch nur einen Finger zu bewegen. Ihre Schwiegermutter pflegte den Sohn, und Garyfallia beschlich immer wieder das Gefühl, dass die Frau gern ihr die Schuld an dem Sturz in die Schuhe schieben wollte, doch sie hatte ihn nicht gebeten, das Dach zu reparieren, und hatte ihn ganz gewiss auch nicht gestoßen, denn sie hatte mit aufgetriebenem Leib im Bett gelegen. Sie hatte ihr Mädchen geboren, viel Blut dabei verloren und war lange zu schwach gewesen, um das Bett zu verlassen. Erst nachdem das Jahrhundert sich gewendet hatte, hatte sie genug an Kraft gewonnen, um aufzustehen. Ihre eigene Mutter hatte sich in der ganzen Zeit aufopfernd um sie gekümmert.

Die Jahre mit dem Kind und dem Mann, der sich nur schlecht erholte, zehrten an ihr, doch seine Verletzung hatte auch ihr Gutes, denn er konnte ihr keine Gewalt mehr antun, und die Hebamme sagte ihr mehrfach, dass sie keinesfalls mehr schwanger werden dürfe, sonst würde sie am Ende nicht nur das Kind verlieren, sondern auch ihr Leben. Sowohl ihren Mann als auch seine Mutter scherte das einen feuchten Dreck, denn auch wenn nun ein Kind da war, so wollten sie doch einen männlichen Nachfolger haben. Aber sein Unterleib blieb gelähmt, und auch sein Gemächt war davon betroffen. Garyfallia fürchtete sich lange Zeit davor, dass die Schwiegermutter sie andernfalls auf seinen Bauch gebunden hätte, um erneut schwanger zu werden. Doch es tat sich nichts, und auch die Hand, die er so oft gegen sie erhoben hatte, blieb unbrauchbar.

Wo Licht war, war immer auch Schatten, denn es fühlte sich nun an, als hätte sie zwei Kleinkinder: Beide musste sie füttern, beide mussten stets gesäubert werden, und beide waren oft ungeduldig. Sie hatte sich bei ihrer Heirat glücklich geschätzt, eine Schwiegermutter zu haben, die noch nicht alt und zudem sehr aktiv war, doch seit dem Unfall war sie tatsächlich froh, denn die Frau hatte es sich zur Aufgabe gemacht, ihrem Sohn noch mehr als früher jeden Wunsch von den Augen abzulesen.

Dieser Pflege war es gewiss auch zu verdanken, dass er so lange überlebte. Garyfallia war sich sicher, dass der Sturz auch in seinem Kopf einen Schaden angerichtet hatte, denn obwohl er in einem nichtsnutzigen Körper gefangen war, fügte er sich in sein Schicksal. Sie fragte sich oft, ob sie an seiner Stelle nicht lieber tot gewesen wäre, denn man war und blieb eine immerwährende Belastung für die Angehörigen. Die kleine Aelia, die sie alle nur Aeliaki nannten, liebte ihren Papa zärtlich, kletterte auf seinen Schoß, schmiegte sich an ihn, fütterte ihn mit Leckereien und erzählte ihm muntere Geschichten. Auch ihn schien die Art des Mädchens zu verzaubern, denn Garyfallia hatte ihn nie so glücklich gesehen. Er war früher von einer Grundwut erfüllt und nie bereit gewesen, diese zu zügeln.

Auch wenn sie es als anstrengend empfunden hatte, eigentlich zwei Kinder versorgen zu müssen, so waren es doch friedliche Jahre gewesen – die ersten, seitdem sie das Haus ihrer Mutter verlassen hatte.

Ihre Tochter war nun bereits in dem Alter, in dem die erste Blutung kam, und Garyfallia erinnerte sich noch daran, wie verwirrend diese Jahre auch für sie gewesen waren: Der Körper veränderte sich von dem eines Kindes zu dem einer jungen Frau, und auch im Kopf kam einiges durcheinander. Der Tod ihres Papas hatte noch dazu die Welt des Kindes ins Wanken gebracht, und Garyfallia hatte alle Hände voll zu tun, ihre hübsche Tochter Aeliaki und die nun gramgebeugte Schwiegermutter im Zaum zu halten.

Garyfallia stand gerade in der Küche und walkte einen Teig, als ihre Mutter hereinkam. »Guten Morgen, mein Schatz, kann ich dir helfen?«

Sie nickte leicht, denn sie hatte einige Äpfel gepflückt und war dabei, eine Milopita zu machen. Ihre Tochter liebte das Gebäck, und Garyfallia gab die Aufgabe, die Äpfel zu schneiden, gern ab. Ihre Mutter wusste, was zu tun war, und in stummem Einvernehmen standen sie nebeneinander und arbeiteten. Bald erfüllte ein süßer Duft den Raum. Sie hatte den Lehmofen draußen schon angefeuert, und wenn der Kuchen ein wenig geruht hatte, würde sie ihn knusprig braun backen.

»Wie geht es dir heute?«, wollte ihre Mutter wissen. Es war zu einer Art Normalität geworden, dass sie danach fragte, und sie gab sich nicht mit einem einfachen »Gut« oder »Es geht so« zufrieden.

Garyfallia hielt einen Augenblick inne und horchte in sich hinein: Da war eine kleine Unruhe, die Aeliaki betraf, denn in wenigen Jahren würden sie einen Ehemann für das Mädchen finden müssen, und sie wusste, wie das enden konnte. Heraklis war allen wie eine gute Partie erschienen, und seine Eltern hatten sie auch für eine gute Wahl gehalten. Dass sie dann kein Kind hatte bei sich behalten können – außer Aeliaki – und er ein gewalttätiger Kerl war, hatte niemand voraussagen können. Wie konnte es gelingen, ihrer Tochter das zu ersparen? Sie wollte Glück für ihr Kind und jede Menge Liebe. Man sollte nicht nur danach streben, ein Dach über dem Kopf zu haben und jeden Tag eine Mahlzeit auf dem Tisch. Natürlich war auch das sehr wichtig, doch die Wärme im Herzen war etwas Besonderes, und ihr Mädchen sollte das wirklich erleben dürfen. Sie wusste, dass ihre Großmutter Litsa ihren Mann Theodoris über alles geliebt hatte, das hatte ihre Mutter ihr erzählt, aber sie hatte die alte Dame nicht mehr kennenlernen dürfen, denn sie war im selben Jahr gestorben, in dem sie das Licht der Welt erblickt hatte. Was sie jedoch über die Ehe ihrer Yaya gehört hatte, war auch kompliziert, denn sie hatte sich nie von dem Tod ihres Mannes erholt und war für immer traurig gewesen, ohne ihn auf der Erde wandeln zu müssen. War das die Schattenseite der Liebe?

»Darf man überhaupt glücklich sein? Will Gott das für uns Menschen, oder sollen wir immerzu daran erinnert werden, dass wir voller Fehler sind, und deshalb gehört es einfach dazu zu leiden?«, fragte sie ihre Mutter übergangslos und konnte an deren Gesicht sehen, dass sie vollkommen überrascht von der Frage war.

»Ich kann dir nicht sagen, was Gott denkt oder will.«

»Sag mir, was du denkst.«

»Die Dinge sind kompliziert, und auch Glück ist etwas sehr Kompliziertes, denn dafür gibt es kein Rezept. Man kann nicht Mehl, Wasser, Äpfel und Zimt nehmen und daraus für alle etwas Geschmackvolles backen. Ich weiß, das hört sich sonderbar an – aber was ich damit sagen will: Jeder Mensch ist auf seine ganz eigene Art glücklich. Wie sollte es also etwas geben, was für alle gilt?«

»Ich meine …. also … Du weißt, wie sehr wir uns in Heraklis und seiner Familie geirrt haben …«

Ihre Mutter riss die Augen verstehend auf. »Und du fürchtest nun, dass wir denselben Fehler bei Aeliaki begehen könnten!«

Garyfallia nickte und senkte den Kopf. »Ich will doch nur Glück für sie. Sie soll sich nicht fürchten oder gar Schmerzen ertragen müssen, die von der Hand des ihr anvertrauten Gattens ausgehen.« Sie hatte das nie so offen kommuniziert, wusste aber, dass ihre Mutter sehr genau mitgekriegt hatte, was Heraklis ihr angetan hatte. Es hatte nur keinen Weg gegeben, sie zu retten, ohne nicht den Rest der Familie zu gefährden. Denn sie aus der Familie, zu der sie gehört hatte, zu rauben – auch wenn es nur war, um sie zu beschützen –, wäre einer Beleidigung gleichgekommen, die blutige Wiedergutmachung verlangt hätte.

Ihre Mutter wiegte den Kopf langsam hin und her. »Nun, ich verstehe, was du meinst, sehr gut sogar, denn ich hätte ihn gern selbst vom Dach gestoßen, damit er dich zukünftig in Ruhe lässt.« Ihre Stimme wurde leiser und irgendwie unbestimmter. »Vielleicht habe ich das ja auch getan …«

»Mama, du warst an meinem Bett, als er fiel. Was redest du da für einen Unsinn?«

»Es fällt mir nicht leicht, mein Kind, aber vielleicht ist nun gerade der Zeitpunkt gekommen, etwas mit dir zu teilen. Da … da ist ein Geheimnis, das unsere Familie umgibt, und es ist … außergewöhnlich … wahrscheinlich sogar magisch, aber es ist sehr kompliziert.« Sie brach ab. »Nein, wahrscheinlich ist es ganz leicht, und wir machen es nur zu kompliziert, und dadurch wird es schwierig und endet im Unglück …«

»Du machst mir Angst, Mama!« Garyfallia fühlte einen kühlen Schauer auf ihren Schultern. Wurde die Mutter nun langsam verrückt? Sie war eine alte Frau – keine Frage –, und viele Alte wurden irgendwann sonderbar, doch bisher war sie ihr immer als geistig wach erschienen, auch wenn ihre Schritte langsamer geworden waren.

»Es kann einem Angst machen … da liegst du richtig.«

Garyfallia deckte den Kuchen vorsichtig zu und schaute ihrer Mutter in die Augen. »Wovon redest du da, Mama?«

»Nicht hier«, flüsterte die Mutter, »das Haus hat überall Ohren!«

Garyfallias Neugierde war nun geweckt, auch wenn sie sich gleichzeitig fürchtete. Doch sie wollte wissen, worum es ging. Für ihr Kind musste sie versuchen, das Beste aus deren Leben zu machen. Bisher war es ihr gelungen, auch wenn der behinderte Heraklis ihr viel Kraft abverlangt hatte, so hatte sie dem Kind doch viel Liebe gegeben. Es hatte zudem keine Schläge bekommen, und die Beziehung zum Vater war eventuell sogar besser gewesen als die vieler anderer Kinder im Dorf.

Ihre Mutter nahm sie am Arm und zog sie aus dem Haus. Sie gingen rasch in Richtung Wald und ließen die Häuser hinter sich.

Garyfallia war verwundert, dass die ältere Frau kaum außer Atem zu sein schien – als würde sie einem inneren Antrieb folgen, der ihr Kraft gab. »Möchtest du ganz hinauf ins Gebirge, wo nur noch die Ziegen herumklettern?«, fragte sie irritiert.

Aelia schaute sich um. »Nein, nein, hier ist es schon gut.« Dann schwieg sie plötzlich, und sie lauschten den Geräuschen des Waldes. Der Wind raschelte in den Bäumen, und es hörte sich an, als würden diese sich leise flüsternd unterhalten.

»Ich bin sehr neugierig, Mama, du hast mich mitten in den Wald geschleppt und redest von Magie. Das hört sich für mich … mmhh …«

»… so an, als wäre ich nun vollkommen verrückt geworden? Nein, ich bin nicht verrückt und auf meine alten Tage verwirrt. Ich muss nur nachdenken, wie ich es am besten erkläre, ohne dass du zu glauben beginnst, ich sei eine irre Alte! Es gibt da etwas, was von deiner Großmutter Litsa an mich weitergegeben wurde. Es ist anscheinend sehr mächtig und … mmhhh … Wenn man es … also wenn man das, was man möchte, nicht richtig ausspricht, kann es schiefgehen.«

»Jetzt habe ich es verstanden und bin beruhigt!« Garyfallia schaute ihrer Mutter zweifelnd ins Gesicht. »Natürlich verstehe ich gar nichts, Mutter! Ich habe keine Ahnung, wovon du redest.«

Aelia zog sie zu einem Baumstumpf, drehte sich mehrfach um, als hätte sie Angst, irgendwo einen Lauscher zu übersehen, und ließ sich dann nieder. »Setz dich zu mir, mein Kind, und ich erzähle dir die ganze Geschichte … von Anfang an. Sie beginnt mit vielen Träumen meiner Mutter, beinhaltet einen wagemutigen Ausflug ans Meer und endet – nun ja – du wirst hören, wie alles endet.«

»Ein Ausflug ans Meer? Du hast ebenso einen Ausflug dorthin gemacht. Hatte das etwas mit dem Geheimnis zu tun?«

Aelia nickte und begann mit leiser, aber fester Stimme zu erzählen.