32. Kapitel

Sabine, 1972

Auch wenn ihre Mutter sich wirklich intensiv ins Zeug gelegt hatte, sie von einem Studium zu überzeugen, so hatte Sabine sich doch durchgesetzt und eine Ausbildung zur Krankenschwester gemacht. Sie hatte als eines der wenigen Mädchen aus ihrem Jahrgang überhaupt das Abitur, und das würde ihr erhalten bleiben. Vielleicht würde sie ihre Meinung in ein paar Jahren ändern und doch noch Medizin studieren, dann schadete die tägliche Arbeit im Krankenhaus gewiss nicht und brachte ihr vielleicht sogar einige Vorteile, denn sie hatte während ihrer Lehrjahre jede Menge über den menschlichen Körper lernen müssen.

Die Klinikleitung hatte rasch festgestellt, dass sie schnell lernte und sich innerhalb kürzester Zeit einen Überblick verschaffen konnte, sodass sie nach Beendigung der Ausbildung nur wenige Monate als normale Schwester gearbeitet hatte. Es machte sie stolz, dass sie letzte Woche zur Stellvertreterin der Oberschwester ernannt worden war. Elfriede war zwar laut und hatte Haare auf den Zähnen, aber mit den Kranken ging sie so einfühlsam um, dass einem vor Verwunderung der Mund offen stehen blieb. Egal, wie anstrengend es war, mit der älteren Frau zu arbeiten, Sabine lernte unheimlich viel von ihr. Elfriede hatte noch in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs Soldaten versorgt und war daher wirklich stressresistent. Zudem durfte sie jede Menge selbstständig erledigen, und die Ärzte vertrauten ihr absolut. Das war nicht nur ein Vorteil für Sabine, um Erfahrungen zu sammeln, sondern sie konnte sich auch vielerlei Methoden und Techniken abschauen. Elfriede war streng und verlangte viel, gab aber auch ab und übertrug ihr schnell viel Verantwortung.

So kam sie meist redlich geschafft vom Dienst nach Hause, und ihre Mutter war zwar oft stolz auf sie, konnte sich aber ebenso oft Kommentare nicht verkneifen, die deutlich machten, dass sie mit der Berufswahl ihrer Tochter nach wie vor unzufrieden war. Ihr Papa hingegen lächelte wie immer erfüllt und machte ihr auf seine ruhige Art klar, dass sie genau so, wie sie war, gut war und wie sehr er sie liebte. Für ihn musste sie keinen Doktortitel tragen, sondern nur sein »Bienchen« sein, das in der Welt dort draußen Gutes vollbrachte.

»Wie geht es eigentlich Marion?«, fragte ihre Mutter, kaum dass Sabine am Tisch Platz genommen hatte.

»Mama, bitte! Können wir auch mal über etwas anderes reden?«

»Aber sie war doch immer deine beste Freundin, was ist denn falsch daran, mich nach ihr zu erkundigen?« Hannelore schürzte leicht die Lippen.

»Nichts ist falsch daran, aber du fragst quasi jeden Tag nach ihr. Das hast du früher nicht gemacht. Das machst du erst, seitdem sie Anwältin werden will.« So war es nämlich tatsächlich: In Kinder- und Jugendtagen hatte sich die Mutter nicht täglich danach erkundigt, was Marion dachte und machte, doch jetzt war es wie ein Mahnmal, über sie zu sprechen. Und obwohl Sabine wirklich alles tat, um diese dumme Diskussion nicht emotional auf ihre Freundin zu übertragen, so gelang es ihr doch nicht vollkommen. Mittlerweile wollte sie Marion sogar gern ausblenden. Obwohl Frankfurt nur eine Stadtgrenze entfernt war, war Offenbach eine Welt für sich, und da jede von ihnen viel zu tun hatte, wurden die gemeinsamen Stunden immer weniger. Selten telefonierten sie mal miteinander, denn Marion hatte ein winziges Zimmer zur Untermiete bei einer Witwe, von dem aus sie rasch zu Fuß an der Universität war, und musste, um es zu finanzieren, samstags in einem der Kaufhäuser aushelfen, die sie beide so sehr zum Einkaufen geliebt hatten. Natürlich hatte Marion kein eigenes Telefon und musste daher zu einer Telefonzelle gehen, um sie von dort aus anzurufen. Das geschah eben nicht so oft.

Sie hatten sich auseinandergelebt, was sehr schade war, aber in Anbetracht der Tatsache, dass ihre Mutter sich so aufführte, war das vielleicht ganz gut. Auch wenn sie sich von beiden Elternteilen zärtlich geliebt fühlte, so war es doch meist einfacher, mit ihrem Papa zu reden. Gut, er war eher der wortkarge Typ, aber nicht böswillig, sondern einfach, weil er eben so war. Andererseits ergänzten sich ihre Eltern auch genau deshalb so gut: Ihre Mutter war quirlig und pflegte alle möglichen Kontakte, und ihr Vater war der ausgleichende Ruhepol. Nur manchmal kam er ihr zu still vor, und sie hatte dann das Gefühl, er gräme sich und sei irgendwie traurig. Sie wusste, dass er schon einmal eine Familie gehabt hatte – doch war man wirklich über so viele Jahre hinweg noch immer betroffen? Sie hatte während ihrer Ausbildung gelernt, dass Trauer und nicht verarbeiteter Verlust auch zu einem Verhalten führen konnten, dass die Menschen in die Isolation trieb. Sie hatte sogar einige Monate auf einer Station mit psychisch Kranken gearbeitet. Ihr Vater war ganz sicher keiner von denen. Er war ein in sich ruhender Mann, erledigte seine Arbeit zur Zufriedenheit seines Chefs und war lieb zu Mama und ihr – nur manchmal war da eben etwas Fremdes an ihm. Sicher lag es daran, dass er ein Sturkopf war, wenn es um seine alte Heimat ging.

Sie wünschte sich von ganzem Herzen, einen Mann wie ihren Vater zu finden, mit dem sie eine ebenso glückliche Familie gründen konnte, wie es die ihre war. Natürlich war es manchmal auch schwer, sich mit den Eltern zu vertragen – sie waren schon älter und hatten während des Krieges und in der Nachkriegszeit viel mitgemacht und verstanden die heutige Generation nicht sehr gut. Es war wichtig, sich zu befreien, und Sabine hatte staunend Dinge von Amerika gehört. Dorthin war ihre Großmutter einst ausgewandert, und sie wollte wirklich gern auch einmal in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten reisen. Vielleicht würde sie es eines Tages tun und hautnah erleben, wie es war, so locker und ungezwungen zu leben. Jede Generation versuchte doch, etwas für sich zu ändern oder gar zu verbessern.

Im Stillen verstand sie den Wunsch ihrer Mutter, ihre Tochter auf einem akademischen Weg zu sehen, aber Sabine fühlte sich für diesen Kampf noch nicht gewappnet. Manchmal war dieser Kokon aus Zufriedenheit und Liebe, der sie zu Hause umgab, auch ein Hindernis, denn dann wollte man das einfach nicht aufgeben, die Waffen wetzen und sich ins Getümmel stürzen. Marion hatte nicht selten davon berichtet, dass selbst in der Juristerei – die lange nicht so viel von einem verlangte wie die Medizin mit Statistik, Pathologie, dem Physikum und der langen Zeit des Praxiserwerbs in den Krankenhäusern – ständig an den Frauen herumgekrittelt wurde. Man hielt sie für weniger klug oder unfähig, einen passenden Partner zu finden, der für einen sorgte. Niemand kapierte, dass auch Frauen das Bedürfnis hatten, für sich selbst verantwortlich zu sein und nicht nur von den Eltern an einen Ehemann übergeben zu werden.

»Vor Gericht hält so ein Püppchen wie du keine Minute stand«, war noch das Netteste, was Marions Kommilitonen sagten. Andere waren da wohl deutlich derber, und ihre Freundin hatte sich über die versteckte Androhung sexueller Gewalt besonders aufgeregt. »Laut den Typen in meinem Kurs bin ich am Ende sowieso nur Futter für die Verbrecher – egal, auf welcher Seite ich später stehe: als Anwältin oder Staatsanwältin … völlig egal. Das regt mich so auf, dass ich regelmäßig laut schreien möchte, und auch die Profs machen manchmal so dumme Bemerkungen.«

Warum sollte sie sich freiwillig einer solchen Behandlung aussetzen? In der Krankenschwesternschule hatte sie niemand für dumm oder gar unfähig gehalten. Sie war einfach eine Schülerin von vielen und hatte sich durch ihre Fähigkeit, schnell zu lernen, ihren ganz persönlichen Vorteil erarbeitet.

»Ach, Mami«, sagte sie versöhnlich, denn sie würde ihren Weg auf ihre Art gehen und wollte sich mit Hannelore nicht streiten, da sie es ja eigentlich mit ihrer Mutter mehr als gut getroffen hatte. Sie war ein Vorbild, denn sie war für ihre Zeit immer eine moderne Frau gewesen, und so verwunderlich es auch oft für Sabine war: Ihr Vater hatte dem nichts entgegengesetzt und seine geliebte Hannelore immer machen lassen.

»Ist schon gut, Bienchen.« Ihre Mutter legte ihr kurz die Hand auf den Arm. »Ich mag Marion wirklich, und es tut mir leid, wenn ich das nicht deutlich genug gezeigt habe. Aber jetzt erzähl mal, wie es heute im Dienst war.«

Sabine hielt ihrer Mutter den Teller hin – es gab Frikadellen, Kohlrabi in weißer Soße und Salzkartoffeln. Sie aßen, und sie berichtete detailliert von ihrem Tag und all den Aufgaben, die Elfriede ihr wie selbstverständlich übertrug. Hannelore warf ihr zwar hin und wieder einen prüfenden Blick zu, schwieg aber. Sabine wusste, dass ihre Mutter manchmal davon ausging, dass die Oberschwester sich auf Kosten ihrer Stellvertreterin einen schönen Lenz machte, aber heute kommentierte sie das nicht.

»Samstag hab ich frei«, erklärte sie den Eltern, nachdem sie ihren Teller blitzblank leer gefuttert hatte. Sie hatte beschlossen, den Tag für sich zu nutzen, um nach Frankfurt zu fahren. Vielleicht konnte sie sich mit Marion treffen, wenn diese Feierabend im Kaufhaus hatte. »Brauchst du mich am Samstag für die Wäsche und das Putzen, Mami?« Sie half ihrer Mutter, wann immer es ging, im Haushalt. Ihr Vater war eine herzensgute Seele, aber das ging wohl selbst für ihn zu weit. Er werkelte in dem kleinen Garten herum und reparierte, was auch immer nötig war, aber wofür man einen Putzlappen benutzte, schien ihm auch mit Mitte sechzig noch immer ein Rätsel zu sein. Im kommenden Jahr würde er in Rente gehen, und sie war schon sehr gespannt, was er mit der ganzen Zeit vorhatte.

Hannelore schaute sie an und verzog ganz kurz die Miene. »Wenn du am Sonntag das Bügeln übernimmst, den Nachtisch machst und abspülst, dann ist es für mich in Ordnung. Was hast du denn vor?«

»Ich fahre mal nach Frankfurt rein. Ich brauche neue Unterwäsche – die weißen Kittelkleider auf der Arbeit sind sehr bequem, aber auch ein wenig durchscheinend. Ich kaufe noch ein paar weiße Unterhosen aus Baumwolle mit einem Zwickel. Dann fühle ich mich gut angezogen, und ich will versuchen, etwas mit Marion auszumachen. Wir haben uns sehr lange nicht gesehen.« Sie verdiente ein ordentliches Gehalt, und konnte es sich leisten, in die Stadt zu fahren, ein paar nötige Dinge einzukaufen und sich vielleicht einen hellen Lippenstift und Wimperntusche – etwas anderes durfte sie im Dienst nicht tragen – zu gönnen. Auch ein Essen in der Fressgass mit Marion wäre drin – sogar mit der Möglichkeit, die Freundin einzuladen, falls diese gerade knapp bei Kasse war. Es hatte eben viele Vorteile, noch zu Hause zu wohnen. Selbstverständlich gab sie den Eltern etwas ab, aber gut die Hälfte blieb bei ihr. Meist sparte sie sogar etwas davon, denn schließlich wollte sie einmal nach Amerika reisen und ihre Großmutter kennenlernen, solange diese noch lebte. »Also ist es abgemacht«, sagte sie zufrieden zu ihrer Mutter, half dieser beim Abräumen und setzte sich wieder, denn es gab immer einen Nachtisch. Heute waren es Dosenpfirsiche mit Vanillecreme. Die liebte sie ganz besonders.

Der Abend verlief friedlich, und sie freute sich auf ihren Ausflug. Vielleicht konnten sie auch nach dem Essen noch irgendwo etwas trinken gehen. Marion kannte doch gewiss ein paar gute Kneipen, und eventuell gab es auch einige nette Jungs an der Uni. Sabine hatte bisher noch keinen festen Freund gehabt. Verglichen mit ihrem Papa schienen ihr all die Burschen unreife Jungs zu sein, die nur auf ein Abenteuer aus waren. Natürlich hatte sie schon herumgeknutscht, aber immer wenn die Hand des Küssers unter ihren Pulli hatte gleiten wollen, hatte sie dies zu verhindern gewusst. Selbst als der letzte junge Mann ihr sehr zielsicher unter den Rock gegriffen hatte, hatte sie sich herausgewunden. Es hatte sich zwar prickelnd angefühlt, doch sie wollte keinen Sex auf einer Bank hinter einem Busch im Park. Das erschien ihr weder romantisch noch richtig. Für all das musste sie erst einmal jemanden kennenlernen, der ihr wirklich gut gefiel: Klug sollte er sein und natürlich auch gut aussehend, dazu musste er das Herz am rechten Fleck haben, und natürlich durfte er keine Vorurteile mitbringen. Schließlich war ihr Vater Ausländer, und ihre Eltern lebten nun schon all die Jahre ohne Trauschein zusammen. Das war für konservative Gemüter schwer zu verstehen. In Frankfurt waren die Leute auf jeden Fall offener und weiter entwickelt als hier in Offenbach.

 

Am Samstag machte sie sich also bewusst nett zurecht, ohne jedoch zu übertreiben. Sie wollte ja nicht wie eine angemalte Puppe aussehen, sondern wie eine gepflegte junge Frau, die wusste, was sie wollte. Sie wählte einen cremefarbenen, engen Rolli, den sie unter einem kurzen schwarzen Jäckchen zu einer schwarzen Hose mit weitem Bein trug. Das Outfit war perfekt für einen Tag in der Stadt, und wenn sie die Jacke auszog, auch für den Abend, denn die Kombination stand ihr einfach ausgezeichnet. Sie trug ihr braunes Haar wie die Sängerin Juliane Werding: glatt, mit einem Mittelscheitel, vorn kinnlang und dann etwas über Schulterlänge. Sie hatte ihre Lippen mit einer Glanzcreme betont und die Augen und Augenbrauen mit einem Kohlstift etwas hervorgehoben. Sie war zufrieden mit sich und schulterte ihre schwarze Tasche.

»Du siehst aus wie eine von den Schauspielerinnen oder Sängerinnen, die man im Fernsehen sieht«, machte ihre Mutter ihr Komplimente und zog sie kurz an sich. »Janni!«, rief sie sodann so laut, dass Sabine erschrak. »Komm her und schau dir unser hübsches Mädchen an.«

Ihr Vater kam aus der Küche. Er hatte die Brille auf der Nasenspitze, und gewiss war er gerade in die Zeitung vertieft gewesen. So war es jeden Samstag beim Frühstück. Er schaute sie an und strahlte. Aus seinen Augen sprang der Stolz, und sie hätte sich am liebsten in die Arme dieser zwei guten Menschen geworfen, die sie mit so viel Liebe überschütteten. Doch heute war sie schon ganz mondäne Dame, und daher gab sie jedem nur einen kleinen Kuss auf die Wange. »Vielleicht kannst du mir eine Nylonstrumpfhose mitbringen«, Hannelore steckte ihr einen Schein zu, der viel zu viel war für ihren Wunsch, »und für den Rest lädst du Marion zu einem Kullerpfirsich ein!«

Sabine war gerührt über diese Geste. Das Getränk war wirklich der Hit: Man bekam ein großes bauchiges Glas mit Sekt, und darin drehte sich ein Pfirsich wie verrückt im Kreis. Das lag daran, dass man ihn vorher mit einer Nadel an zwanzig bis dreißig Stellen eingestochen hatte. Durch die im Sekt enthaltene Kohlensäure begann er sich zu drehen und herumzukullern – daher auch der lustige Name.

»Danke, Mami!« Jetzt schloss sie ihre Mutter doch in die Arme.

»Du wirst ja wohl nicht verschwinden, ohne deinen Herrn Papa umarmt zu haben, Kind«, sagte er lächelnd, und sein leichter Akzent ließ seinen Tonfall immer etwas rauer klingen, als die Worte gemeint waren.

Sabine hielt beide fest umschlungen, und so standen sie eine kurze Zeit gemeinsam im Vorhäuschen und genossen es, einander zu haben.

Sie verließ das Haus winkend und beeilte sich, um die Straßenbahn nach Frankfurt zu erreichen. Die Stadt wurde immer interessanter für Einkaufsausflüge, aber auch zum Ausgehen. Der Volksmund nannte den Straßenzug im Bereich der Kalbächer Gasse und der Großen Bockenheimer Straße »Fressgass«, denn es gab dort jede Menge alteingesessener Lokale sowie viele Metzgereien und Bäckereien. Man kam irgendwie nicht umhin, etwas zu essen, wenn man dort unterwegs war, denn es duftete stets verlockend, und auch die Auslagen waren appetitanregend.

Die Fahrt mit der elektrischen Tram verlief wie immer ereignislos, und sie verlor sich dabei in Tagträumereien. Sie liebte ihren Beruf, war zufrieden mit dem Weg, den sie eingeschlagen hatte, egal, welche Zukunftsmusik manchmal in ihren Ohren klang. Sie war auf der Arbeit beliebt bei den Kolleginnen und Ärzten, aber auch bei den Kranken. Und das machte es ihr leicht, bei der Frühschicht morgens um halb fünf aufzustehen, damit sie um sechs Uhr den Dienst antreten und auch am Mittag noch mit derselben Geduld wie am Morgen mit den Menschen umgehen konnte.

Obwohl sie so zufrieden war und jetzt sogar nach der neuesten Mode gekleidet in die Stadt fuhr, um einen amüsanten Tag zu verbringen, fehlte es ihr sehr, geliebt zu werden. Ihre Eltern liebten sie, aber das war eben nicht genug. Sie sehnte sich nach starken Armen, die sie hielten, und einem kratzigen Kinn, an das sie ihre Wange lehnen konnte. Sie hoffte, Marion im Kaufhaus zu finden und mit ihr den Abend verbringen zu können. Die letzte Straßenbahn fand ihren Weg um halb zehn zurück nach Offenbach. Es würde schon klappen.

Der Wagen hielt an der Hauptwache an, und sie sprang erschrocken auf, denn sie war tatsächlich so in Gedanken versunken gewesen, dass sie es beinahe verpasst hätte auszusteigen. Rasch nahm sie die Stufen und ließ die Haltestange etwas zu spät los, sodass sie strauchelte und fiel. Doch anstatt auf dem holprigen Kopfsteinpflaster aufzuschlagen, fand sie sich von muskulösen Armen umschlungen in der Sicherheit einer sonderbar anmutenden Umarmung wieder. Sie hob den Kopf, ihr Blick traf strahlend blaue Augen, und ihre Sinne waren ganz plötzlich vollkommen benebelt von dem herben männlichen Duft, der sie umgab. Ihr Retter trat einen Schritt von der Bahn zurück, ohne sie loszulassen, und setzte sie erst dann vorsichtig ab.

»Hoppla«, sagte er mit einer angenehm tiefen Stimme, und sie bemerkte, dass sie dabei vollkommen unhöflich auf seinen Mund starrte, der beim Sprechen hinter den sanft geschwungenen Lippen so weiße Zähne preisgab, dass sie den Blick einfach nicht abwenden konnte. Sie versuchte, ihre Fassung zurückzuerlangen, denn sie war schließlich kein dummer Teenager mehr, der einen Star auf dem Titelblatt der Bravo anhimmelte.

»Ähhhh«, stammelte sie wenig selbstsicher und löste sich aus seiner Umarmung, obwohl es sich wirklich gut anfühlte. Doch ein anständiges Mädchen tat so etwas nicht. Man schmiegte sich nicht an einen wildfremden Mann und glotzte paralysiert auf seinen Mund. Ob er wohl gut küsst?, schoss es ihr durch den Kopf, und jetzt trat sie erst recht einen Schritt zurück.

»Ich bin Helmut«, meinte er und reichte ihr die Hand. »Ich hoffe, du hast dir nicht wehgetan?«

Zögernd streckte sie ihm die Finger hin und suchte dabei nach ihrer Stimme und den passenden Worten. »Sabine … nein, nein.« Das war ja wirklich eloquent! Helmut musste langsam glauben, eine Schwachsinnige vor einem Sturz gerettet zu haben. Sie räusperte sich vernehmlich und fing noch einmal von vorn an: »Ich bin Sabine. Danke, dass du mich vor dem Hinfallen beschützt hast. Ich hätte beinahe den Ausstieg verpasst und war daher in Eile und unaufmerksam.« Das war ein guter und vollständiger Satz gewesen. Ihr Mund war ganz trocken vor lauter Aufregung, und sie befeuchtete ihre Lippen schnell mit der Zungenspitze. Nun war es Helmut, dessen Blick an ihrem Mund zu kleben schien. Die Bahn fuhr mit einem schrillen Klingeln an, und Sabine machte erschrocken einen kleinen Satz nach vorn. Dabei landete sie erneut in Helmuts Armen. Der junge Mann hielt sie ein weniger fester als nötig, da es sich aber wirklich gut anfühlte, ließ sie ihn gewähren. Dann übernahm etwas Verrücktes ihr Gehirn und schaltete alle gesellschaftlichen Normen aus.

»Darf ich dich zum Dank zu einer Tasse Kaffee einladen?« Sie biss sich vor Aufregung auf die Unterlippe. Was tat sie da nur? Sie lud einen wildfremden Kerl ein. Aber ein Café war ein öffentlicher Ort, und das war wirklich unverfänglich.

Zu ihrem Erstaunen sagte er: »Das ist zwar nicht nötig, denn ein Ehrenmann rettet eine schöne Frau in Not ohne Bezahlung, aber ja, ich trinke gern eine Tasse Kaffee mit dir, Sabine.«